Jekyll & Hyde, Staatstheater Darmstadt, 10.02.2024

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Sind wir mal ganz ehrlich zu uns selbst: Wir haben alle Seiten an uns, die wir gerne nicht hätten. Mal sind wir neidisch, dann habgierig, eifersüchtig, hinterlistig, egoistisch oder unzuverlässig. Auch wenn die meisten wohl gelernt haben, Triebe zu zügeln und rücksichtsvoll zu handeln, so lodert doch immer mal wieder das Negative auf. Wäre es nicht ein wahnsinniger Vorteil, Gut und Böse komplett voneinander abspalten zu können? Oder führt das zum Desaster? In Jekyll & Hyde geht es seit jeher um eben jene Gretchenfrage, auf die die Antwort gar nicht einfach zu finden ist. Das Staatstheater Darmstadt gibt mit seiner Musicalinszenierung aber Anhaltspunkte.

Die Theatertradition ist in Darmstadt über 300 Jahre alt, gute 50 davon existiert das heutige Staatstheater, das zweifelsfrei wohl eines der absoluten Glanzlichter der Stadt zeigt. Ok, ist auch zugegeben nicht so schwer, ist das Drumherum doch arg trist am 10.2., einem Samstag. Doch mit dem Betreten der Stätte wird aus Grau ein fast schon blendendes Weiß. Das Gebäude, das über mehrere Etagen reicht, gleicht optisch einem Museum für moderne Kunst und macht einfach richtig schicke Atmosphäre. Das ganze Gegenstück zu dem doch äußerst darken Leben, das einen auf der Bühne erwartet.

Organisatorisch scheint es an einigen Stellen ganz schön zu hapern. Weniger als zehn Minuten vor dem offiziellen Beginn ist erst der Einlass in den ausverkauften Saal mit über 900 Sitzplätzen. Sportlich. Funktioniert dann – surprise – auch nicht, sodass der erste Orchesterton sich um zehn Minuten verzögert.

Jekyll & Hyde ist wohl auch den meisten Nicht-Musical-Fans ein Begriff, ist die Thematik nicht nur durch die musikalische Gattung in den Köpfen, sondern wohl noch viel mehr durch ihre Literaturvorlage aus dem späten 19. Jahrhundert sowie diverse Horrorverfilmungen. Und natürlich durch Kevin Richardson von den Backstreet Boys im iconic Musikvideo zu „Everybody (Backstreet’s Back)“. Ohrwurm? Check.

Dr. Henry Jekyll ist Wissenschaftler und glaubt, endlich das Mittel gefunden zu haben, um Gut und Böse trennen zu können. Allerdings sind Versuche an möglichen Patient*innen nicht gestattet. Privat läuft es turbulent, ist die Liebe zu seiner Verlobten Lisa zwar auf seiner Seite, aber andererseits auch der Tod seines Vaters Realität. Doch durch die gegebenen Umstände testet Jekyll sein Wundermittel eben an sich selbst – und holt das in sich hervor, was er vorher gekonnt in den tiefsten Ecken vergraben konnte. Sein Alter Ego Mr. Edward Hyde wird zum Serienkiller und Schrecken Londons.

Uraufgeführt wurde die Musicaladaption 1990 in Texas, sieben Jahre später folgte die Broadway-Premiere. Eine deutschsprachige Übersetzung gab es erstmalig 1999 in Bremen – mit Ethan Freeman in der Hauptrolle, den wir erst vor einem halben Jahr als schweigendes Monster in „Frankenstein Junior“ sehen durften. Viele bezeichnen noch heute seine Interpretation als die Rolle seines Lebens. Nicht weniger bekannt und beliebt ist wohl die Besetzung Thomas Borcherts, der 2001 in Wien Premiere feiern durfte. Seit November 2023 reiht sich der nächste große Name in die Reihe der Männer ein, die die berühmte Figur mit den zwei Gesichtern gespielt haben: Alexander Klaws.

An dem 40-jährigen Allrounder vorbeizukommen, fiel in den letzten 20 Jahren wohl sehr schwer. Dafür musste man nicht einmal ins Musical. Ob aber in Dauerbrennern wie „Tarzan“, „Jesus Christ Superstar“ und „Tanz der Vampire“ oder kleineren Favoriten wie „Der Schuh des Manitu“, „Ghost – Nachricht von Sam“ und „Saturday Night Fever“ – irgendwo hat man ihn doch immer mal erwischt. Und wenn nicht Live im Kulturleben, dann eben auf der heimeligen Couch beim Zuschauen von „Deutschland sucht den Superstar“, „Let’s Dance“ und „Masked Singer“, die der Gute einfach alle als Gewinner verlassen hat. Ach komm, geben wir es zu: „Die Passion“ ist als pures Trash-Gold wohl genauso erwähnenswert. Alexander Klaws kommt immer wieder wie der liebe Typ aus der Nachbarschaft um die Ecke. Zumindest bis jetzt.

Jekyll & Hyde in Darmstadt ist zunächst 75, dann ziemlich genau 60 Minuten richtig gute Musicalkost. Die einen Fans freuen sich, es endlich mal wieder in einer richtig aufwändigen Produktion zu sehen, jüngere Liebhaber*innen freuen sich, es überhaupt mal zu sehen. Zwar tingelt das Musical quer durchs Land, allerdings sollte auf die Inszenierung in Hessen ein besonderes Augenmerk gelegt werden: Gil Mehmert, zuständig für diverse Musicals am Theater Dortmund (aktuell „Rent“ ) feierte 2019/20 mit David Jakobs in der Hauptrolle permanent stehende Ovationen am Ende jeder Vorstellung, wurde jedoch vorzeitig durch das Corona-Virus ausgebremst. Nun läuft die nahezu exakt selbe Inszenierung im rund 250 Kilometer entfernten Darmstadt.

Ein wahres Highlight ist das wirklich fantastische Bühnenbild. Mehrere Kulissen lassen sich durch Drehungen immer wieder verstecken. Währenddessen auf der anderen Seite gespielt wird, entstehen in den momentan nicht einsehbaren Kulissen neue Szenerien, sodass man gefühlt kaum einen Ort 1:1 wiedersieht. Irgendwas ist doch stets neu und überraschend. Dazu gibt es oft in eher düsteren Farben gehaltene Kostüme, die an Tim Burtons „Sweeney Todd“ erinnern. Ausnahmen sind ein Rotlichtmilieu, das eine tragende Rolle in der Handlung spielt und selbstverständlich Bordeaux-Farbtöne präsentiert. Gehüllt wird das Spiel in schummrige, aber sehr stimmige Lichteffekte.

Gute 30 Minuten dauert die Einleitung in die Handlung. Besonders der Beginn hat doch hier und da ein paar Längen. Die Einführung der Charaktere benötigt ihre Zeit, steuert aber spürbar auf einen Turning Point zu. Der ist dann nicht nur in der Erzählung spannend, sondern noch mehr in der Optik, denn erst nach einer halben Stunde entpuppt sich die Bühne um noch eine ganze Welt größer, wenn aus dem vorderen Teil ein riesiges Labor hinauffährt, in dem Jekyll seine Experimente durchführt.

Wie schon erwähnt, scheint technisch heute nicht alles ganz glatt zu laufen. Im Sound sind mehrmals Mikrofone nicht gut ausgepegelt, die einen zu laut, die anderen zu leise. Ein Saxophonsolo ist gar so dominant, dass die gesprochenen Dialog in der ersten Szene in dem Bordell, in dem Jekyll seinen Junggesellenabschied feiert und seinen Sidekick Lucy kennenlernt, kaum noch zu verstehen sind. Ein Headset fällt im ersten Akt gleich ganz aus, sodass ein Mitarbeiter auf die Bühne muss, um ein Mikrofon zu überreichen, was für ein paar Lacher im Publikum sorgt.

Das ist natürlich für ein Stück, das schon drei Monate läuft, ein wenig ärgerlich, aber auch nicht ganz so tragisch. Denn nahezu fast alles andere ist durchweg gut bis richtig gut. Spielt das Orchester unter der Leitung von Michael Nündel die starken Songs von Frank Wildhorn, die auf Deutsch gesungen werden, durchweg super, ist auch die ziemlich große Cast mit rund 20 Darsteller*innen plus Opernchor wirklich engagiert und zeigt Musicalfeeling auf echt hohem Niveau. Sowieso hat sich in den letzten Jahren immer mehr herauskristallisiert, dass man nicht in eine der viel zu teuren Stage-Spielstätten fahren muss, um starke Stücke sehen zu können. Mittlerweile gibt es an vielen Stadttheatern nicht nur eine spannende Auswahl, sondern eben auch eine hohe Qualität. Da darf sich Darmstadt mit seinem Jekyll & Hyde nun erfolgreich einreihen.

Getragen wird die Show von ihren drei starken Hauptfiguren. Barbara Obermeier als Jekylls Verlobte Lisa, ist für die ganz hohen Töne zuständig und zeigt ihren sehr klaren Sopran. Das ist klassisch-schön und verleiht der Rolle den nötigen liebsamen und fragilen Charakter. Stefanie Köhm als Prostituierte Lucy fällt dagegen etwas ab. Auch wenn sie schauspielerisch die Erwartungen erfüllt, wird es gesanglich an der einen oder anderen Stelle doch etwas unangenehm. Etwas weniger Druck und Drama wären nicht verkehrt. Solide ist aber auch das. Übrigens springt sie spontan für die erkrankte Ehefrau von Alexander Klaws, Nadja Scheiwiller, ein.

Und der verabschiedet sich mit seiner Performance endlich, endlich von seinem Image als derjenige, der oft doch in den „Everybody’s Darling“-Rollen feststeckt. Ist sein Dr. Jekyll doch recht nah an dem, wie man ihn kennt und mag, ist Mr. Hyde so dermaßen fucked up und herrlich psychotisch, dass es jede Sekunde Spaß macht zuzuschauen – und zuzuhören. Denn gefühlt stehen dort zwei unterschiedliche Darsteller, legt Klaws die Schere zwischen beiden Charakteren so differenziert vor, dass immer deutlich wird, wer gerade agiert. Mit großen Posen, langen Haaren im Gesicht und einem Gehstock, den er majestätisch auf den Schultern positioniert, erinnert das Standing an Alice Cooper, was einfach richtig Bock macht und im Scheinwerferlicht mit viel Nebel Gruselgänsehaut erzeugt.

Wer sich auch nur ein Mü für Musicals interessiert oder sich vielleicht mal selbst im Gesangsunterricht probiert hat, kennt das große Solo „Dies ist die Stunde“. Zweifelsfrei wohl eines der fünf oder sechs beliebtesten Männersoli der letzten 25 Jahre. Das ist einerseits super, andererseits aber für Klaws auch Druck. Doch mit viel Dynamik und einem schönen Aufbau gelingt ihm das Aushängeschild des Musicals mit Bravour. Noch geiler wird es jedoch bei dem ersten Hyde-Solo „So lebendig“, in der er einfach mal völlig freidreht. Getoppt wird die Leistung nur durch das hochanspruchsvolle „Konfrontation“, in dem nahezu in jeder Zeile zwischen beiden Charakteren geswitcht wird. Das Labor bekommt hier plötzlich gar einen weiteren Überraschungsmoment, der aber an dieser Stelle nicht verraten wird. Schon jetzt einer der Musicalmomente 2024, die im Kopf bleiben werden. Zusätzlich sehr gelungen ist das laszive Duett zwischen ihm und Lucy „Gefährliches Spiel“, denn leider stehen wir ja alle immer auf die Bad-Asses, sodass das schon ein bisschen sexy ist.

Volle Punktzahl für die ganz starke Inszenierung, volle Punktzahl für Alexander Klaws, der berührt und beeindruckt zugleich, dickes Plus durch das große Orchester, kleinere Abzüge beim Rest. Jekyll & Hyde bekommt man äußerst selten so gut zu Gesicht, deswegen auf nach Darmstadt – nur bitte rechtzeitig die Ticketkontingente checken. Aktuell sind Termine bis Ende Mai angeschlagen, Karten gibt’s aber nur noch für wenige Vorstellungen.

Und so sieht das aus (Trailer zur Inszenierung in Dortmund, 2019):

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Foto von Christopher

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