Showtime! – Das Musical, Konzertaula Kamen, 03.11.2023

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Menschen brauchen Visionen. Mal groß denken, statt im kleinen Safespace verharren. Doch Träumen allein ist nur der erste Schritt. Am Ende geht es um eine Realisierung. Robin Lindemann ist 27 und hat bereits jetzt eine seiner Gedankenspinnereien in die Tat umgesetzt – seit Ende Oktober läuft sein erstes eigenes Musical Showtime! – Das Musical in Kamen.

Ja, es ist völlig ok, wenn ihr Kamen nicht kennt. Die 43.000 Einwohner*innen starke Stadt im Ruhrgebiet zwischen Dortmund, Unna und Hamm hat bisher eher durch andere Dinge auf sich aufmerksam gemacht. Nämlich durch… joa, eigentlich durch nichts. Sagen wir also, dass das Image nicht allzu üble Schäden tragen kann, aber verdammt viel Platz nach oben bleibt. Eine perfekte Voraussetzung, um aus einem No-Name-Dörfchen die neue Adresse für Musicals im Umkreis zu machen. Denken Sie groß, das lernten wir bereits.

So zieht es am 3.11., einem Freitagabend, geschätzte 300 Menschen in die Konzertaula in Kamen, die für eine Schulaula wirklich überragend hübsch ist. Wahnsinnig schicke Sitze, tolle Bühne und genug Voraussetzung, um überhaupt eine Produktion stattfinden zu lassen. Krass. Auch wenn Platz für 700 Menschen wäre, sind 300 gar nicht so wenig, schließlich handelt es sich bereits um die vierte Vorstellung des zuvor komplett unbekannten, weil eben ganz neuen Stückes. Ein Wochenende zuvor fiel am 27.10. der erste Vorhang, jeweils ein weiterer folgte am Samstag und Sonntag. Das Wochenende darauf liefert man erneut drei Vorstellungen. Ergibt insgesamt sechs Shows mit 4200 Personen – da ist ein Schnitt von rund 50 Prozent belegter Plätze bei Runde 4 wirklich gar nicht so schlecht, immerhin kauft man hier die Katze im Sack.

Und schließlich wissen wir alle zu gut, dass man im Herbst 2023 sein Geld eher gut dosiert ausgibt, statt blind. Die Auswahl an Kulturveranstaltungen ist enorm, die Preise so hoch wie nie. Da ist man zurecht skeptisch, wenn ein zuvor unbekannter Komponist und Musiker sein Stück präsentiert. Das Gute: Mit Tickets von rund 30 bis 50 Euro hält sich das Risiko in Grenzen. Außerdem fangen wir alle irgendwo mal an, sodass genau solche Projekte unbedingt Unterstützung brauchen. Ein Blick vorab auf die Website lohnt: Das Team hinter Showtime besteht ausschließlich aus Leuten, die in dem Musiktheater-Genre bereits mitgewirkt haben. Einige von ihnen auf, andere hinter der Bühne, manche beides. Natürlich werden keine nationalen Megastars aufgelistet, aber wer Stage-Entertainment-Personal will, darf dieses bekanntlich mit Preisen von mittlerweile auch mal über 200 Euro am Samstagabend zahlen. Robin Lindemann scheint das Spiel zu kennen und stapelt besser klein, aber nicht zu klein. Gute Entscheidung.

Schließlich war wohl schon jeder Musicalfan mindestens einmal, tendenziell aber eher häufiger in Produktionen, von denen man sich einfach viel zu viel versprochen hat. Underwhelmed den Saal zu verlassen, schmerzt gegenwärtig noch mehr als vor Corona, und selbst da tat’s schon weh. Doch Showtime ist für einen kurzweiligen, netten Musicalabend für zwischendrin absolut in Ordnung. Wer nicht mit einer Erwartungshaltung von „Also mein Lieblingsmusical ist ja das mit den Vampiren“ eine Karte kauft, sondern sich auch mal in Stadttheatern aufhält, bekommt solide Kost. Berechnet man dann noch den Aspekt mit ein, dass hier viele Anfänger*innen ohne großes Budget – die Stadt Kamen unterstützt so gut sie kann, aber man kann sich ungefähr ausrechnen, was so etwas an Zeit und Geld kostet – ein Herzensprojekt umgesetzt haben, wird der Applaus gleich noch ein paar Dezibel lauter.

Die Story von Showtime in Kurzform: Jack ist ein wahnsinnig erfolgreicher Star. Seine Musikrevue „Showtime“ verkauft sich fantastisch. Alle lieben ihn, was ihm manchmal auch ein wenig zu Kopf steigt. Plötzlich grätscht jedoch Claire dazwischen, die ihm seinen Erfolg so gar nicht gönnt und unbedingt ein Stück davon abhaben will. Sie erpresst ihn, da sie Beweise für seine Angststörung hat, die Jack vor der Öffentlichkeit so gut wie eben möglich versteckt. Dadurch wird seine Panik nur noch schlimmer. Wie lang das noch gut geht?

Für ein Musical hat Showtime eher ungewöhnlich viele Dialoge. Man kann eigentlich schon eher von klassischem Musiktheater sprechen, da es mindestens genauso viele Spiel- und Sprechszenen wie Musikeinlagen gibt. Das ist mal ganz erfrischend. Charaktere haben die Möglichkeit, sich zu entwickeln und Twists wirken nicht wie vom Himmel gefallen. Tatsächlich gibt es im Libretto bei Showtime die größten Defizite. Ist nicht schlecht, aber auch nur Mittelmaß. Viele Rollen bleiben doch etwas Klischee, so ist Claire beispielsweise bis zum finalen Turn durchgängig im Bitch-Mode, Jack hinter der Bühne eigentlich ausschließlich unsicher. Die Geschichte ist ganz nett, hat auch in einigen Nebenrollen ordentliche Sympathieträger*innen im jungen wie hohen Alter dabei, die von Darsteller*innen mit unterschiedlichen Körpertypen gespielt werden, aber besonders im ersten Akt wird es hier und da etwas schleppend. Die zweite Hälfte flutscht um Längen besser.

Glücklicherweise ist aber die Erzählung der nicht ganz so tragende Aspekt bei einem Musical. Selbstredend nicht unbedeutend, aber eben nicht das Einzige, was zu stimmen hat. Seine Stärken hat Showtime nämlich vor allen Dingen in der Besetzung. Für eine Produktion dieser Größenordnung ist die schauspielerische Leistung völlig solide, die gesangliche sogar echt gut. Niemand rutscht in wirklich unangenehme Töne, Harmonien stimmen durchweg. Julian Groeger als Jack hat die meiste Spielzeit und muss emotional einiges abliefern, was ihm auch stets gelingt. Bis auf ein paar wenige Töne gen Ende im ganz hohen Belt ist das wirklich top. Nora Isabel Schöpe als ehemaliger Schwarm Anna hat ein starkes Solo, das sie mit viel Feingefühl interpretiert. Auch wenn Lia Martin als Claire die Antagonistin mimt, macht sie das echt super. Gleich mehrere starke Showstopper gehören ihr. Nicht zuletzt zu erwähnen: Daniel Sprint als Schatten hat mit einer Art wiederkehrenden Nummer, die die Handlung durch darstellende, depressive Gedankenstrudel unterbricht, wahrhaftig tolle Momente. Da gibt es sehr viele Produktionen im ähnlichen Preissegment, bei denen nicht mal 50 Prozent der Leute diese Qualität liefern.

Sparen muss man an einigen Ecken dennoch. Das tut man auch hier, wie zu erwarten, am Bühnenbild und Kostüm. Vieles setzt sich aus einer großen Videoleinwand, einer Showtreppe und einigen kleineren Requisiten wie Stühlen, Parkbänken oder auch Laternen zusammen. Kein großer Wurf, aber genug. Wirklich sehr gelungen sind dafür die Visuals im Hintergrund, die helfen, sich in den Szenenwechseln zurecht zu finden. Einige haben wahnsinnig schöne Details. Großes Lob an die Illustratorin Diana Köhne. Die Choreographien, für die ebenfalls Lia Martin zuständig ist, sind aus vielen Basisschritten, reichen aber für etwas Ausdruck aus. Hier gäbe es wohl noch die Möglichkeit, ein wenig draufzulegen, ist aber auch nicht zwingend notwendig.

Nicht zufällig steckt in dem Wort Musical der Begriff Musik. Für die zeichnet sich Robin Lindemann selbst verantwortlich. Und ja, die ist auch gut. Absolut keine leichte Aufgabe, genügend starke Kompositionen abzuliefern, die umsetzbar sind und genauso einfach ins Ohr gehen. Funktioniert aber. An einigen Ecken hören Musicalgänger*innen die Inspiration heraus. So klingen die Soli des Schatten ein wenig nach „Gott ist tot“ aus Tanz der Vampire – und ja, die Figur hat Parallelen zum Tod aus Elisabeth – oder das erste Anna-Lied „Sternenstaub“ nach „Ich gehör nur mir“ aus Elisabeth, aber man muss das Rad auch nicht neu erfinden. Bevor man von Plagiat sprechen kann, kriegen die Songs immer die Kurve und erhalten stets einen eigenen Aspekt, der auch nicht immer komplett vorhersehbar ist. Schön. Bei YouTube gibt’s ein bisschen was zu hören – lohnt! Das Titellied „Showtime“, das auch für die Zugabe herhält, nimmt man sogar noch einige Zeit summend mit nach Hause.

Showtime! – Das Musical in Kamen präsentiert eine zweimal 65 Minuten lange Produktion mit enorm viel Liebe. Man hat hierfür gebrannt, man hat das wirklich gewollt und sich dahintergeklemmt. Das sieht und spürt man. Ist jetzt nicht die absolute Sensation, aber für ein DIY-Projekt wirklich überdurchschnittlich. Die ersten sechs Vorstellungen scheinen gut gefeedbackt worden zu sein, aber auch genügend Besucher*innen angelockt zu haben – für kommenden Februar sind bereits die ersten Zusatztermine angekündigt. Da kann man dem Team nur gratulieren. Besucht Musicals auch in der Provinz! Schön, dass man in Hamburg, Stuttgart und Berlin die ganz großen Erlebnisse serviert bekommt, aber die Kleinen sind durchaus auch wertvoll und zeigen kulturelle Vielfalt, die man nicht missen möchte.

Und so sieht das aus:

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Bild von Christopher

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