Sweeney Todd, Oper Dortmund, 12.10.2024

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Im Februar 2008 erweiterte sich das sowieso schon spektakuläre Repertoire von Tim Burton um einen weiteren Meilenstein. Sweeney Todd, uraufgeführt 1979 in New York, hatte schon längst eine Verfilmung verdient. Auch wenn er in den Kinos solide performte, so blieben zumindest in Deutschland die Inszenierungen weiterhin größtenteils aus. Um den mordenden Barbier der Londoner Fleet Street zu sehen, musste man sich schon sehr genau umschauen. Doch seitdem Corona nicht mehr täglich das Weltgeschehen beeinflusst, scheint das Musical im Trend zu liegen, sind seit 2021 die Inszenierungen in sämtlichen Bundesländern kaum zählbar. Das Theater Dortmund reiht sich als nächstes ein und zeigt im Opernhaus womöglich die beste, die es bisher hierzulande zu sehen gab.

“Next to Normal”, “Sunset Boulevard, “West Side Story”, “Jekyll & Hyde”, “Cabaret”, “Rent” oder auch die eigene Revue “Berlin Skandalös” – über die Jahre gab es schon so einige Produktionen, die eine große Bandbreite zeigen und an Kreativität nicht sparen. Das Ergebnis ist manchmal richtig gut, manchmal aber auch nur ganz ok. Besonders “Rent” blieb für unseren Geschmack in der letzten Saison doch etwas hinter den Erwartungen zurück. Gerade an Fanlieblingen, die man sonst oft nur am Broadway oder West End zu sehen bekommt, hängen die Erwartungen besonders hoch. Gibt es dann noch eine berühmte Verfilmung, wird’s nicht einfacher. Sweeney Todd hatte also nicht die besten Voraussetzungen, gilt nämlich der bereits erwähnte Burton-Streifen mit der atemberaubenden Besetzung Depp/Bonham Carter neben “Chicago” als der wohl bester Musical-Film der 00er.

Doch Gil Mehmert, der mittlerweile mit seinen Inszenierungen in ganz unterschiedlichen Ecken Deutschlands die Fühler ausstreckt, probiert eben gern. Einfach können alle und Herausforderungen sind dafür da, um gemeistert zu werden. Mit Sweeney Todd geht man in der Spielzeit 24/25 in Richtung “Jekyll & Hyde“. Es wird düster, es wird opulent. Übrigens: Wer “Jekyll & Hyde” mit David Jacobs verpasst hat, hat noch die Chance, dieselbe Inszenierung mit Alexander Klaws in Darmstadt zu sehen, die wir wirklich sehr empfehlen können. Doch das nur am Rande. Die über Monate hinweg angekündigte und beworbene Sweeney Todd-Produktion in einem der renommiertesten Opernhäuser des Landes versprach bereits auf den Plakaten, dass man sich optisch am klassischen Look orientiert. Ähnlich hat es bereits die erfolgreiche Wiederaufnahme in New York getan, die mit Josh Groban in der Hauptrolle brilliert, leider aber bei den Tonys 2023 aufgrund enorm starker Konkurrenz zumindest in den Hauptpreisen leer ausging.

Wie erwartet meldet das Theater Dortmund wenige Stunden vor der Premiere am 12.10., einem Samstag, ausverkauft. Schon vor der Vorstellung gibt es stimmungsvolle Musik und hübsch bedruckte Baumwolltaschen als Take away. Einige Gäste haben sich sogar an der düsteren Klamotte irgendwo zwischen Rokoko und Steampunk orientiert und sich schick gemacht. Fast pünktlich beginnt der erste Akt mit 80 Minuten Länge. Premieren-bedingt fällt die Pause mit 35 Minuten wahrscheinlich überdurchschnittlich lang aus, daraufhin folgt ein 65-minütiger zweiter Akt. Die rund zweieinhalb Stunden Spielzeit sind aber fast ohne spürbaren Hänger dermaßen spannend, ausdrucksstark und kreativ inszeniert, dass wirklich zig ikonische Bilder auch noch weit nach der Vorstellung im Kopf bleiben.

Für diejenigen, die sich das erste Mal Haar und Bart von Sweeney etwas überambitioniert frisieren lassen: Benjamin Barker war einst ein erfolgreicher Barbier. Als seine Frau Lucy die gemeinsame Tochter Johanna zur Welt bringt, wird Benjamin von dem neiderfüllten Richter Turpin zu unrecht verurteilt und von seinen Handlangern verbannt. 15 Jahre war er weg, nun kehrt er desillusioniert und voller Hass zurück nach London, um sich zu rächen. Auf dem Schiff, mit dem er in London einkehrt, lernt er den Seemann Anthony kennen, der in der englischen Hauptstadt ein neues Leben anfangen möchte. Barker kommt als Sweeney Todd bei der talentfreien Pastetenbäckerin Mrs. Lovett unter, deren Laden so gar nicht läuft. Turpin hält noch immer Tochter Johanna in seinem Anwesen gefangen. Durch Zufall entdeckt Anthony sie und verliebt sich Hals über Kopf. Ebenso hat Mrs. Lovett auf Sweeney ein Auge geworfen, der ist jedoch ausschließlich mit seinen Rachegelüsten beschäftigt, für die er durchaus bereit ist, zu morden.

Die Dortmunder Produktion ist fast durchweg in allen Punkten sehr gut bis hervorragend. Starten wir mit dem fulminanten Bühnenbild. Im Fokus steht ein Würfel, der mal ganz hochgefahren wird und so gute vier Meter über der Bühne ragt, mal aber auch nur Teile zum Vorschein bringt. Optisch wählt er den markanten Pasteten-Ofen von Mrs. Lovett als Hauptaugenmerk, hat jedoch noch einiges mehr. Das Dach dient zunächst als Schiff, später dann als Sweeneys Barbiersalon. Darunter gibt es gleich mehrere Räume, die zunächst nicht eingesehen werden können, sich im Laufe des Stückes aber als Balkon von Johanna, als Shop von Mrs. Lovett, als Kellergewölbe und mehr herausstellen. Trotz mehrerer Kulissenwechsel ist es durchgängig möglich, zu folgen, wo das Stück gerade spielt. Super. Um den Würfel herum gibt es viel Freiraum für Auf- und Abgänge, Tanzszenen, aber auch ein komplett herumreichendes Podest, auf dem der Opernchor Platz nimmt.

Sowieso ist der Opernchor eines der absoluten Highlights. Über 30 Menschen in gruseligen Ballkostümen und Masken sind über lange Zeiten des Stücks eingefroren, wenn sie jedoch agieren, wird es laut, knallig, intensiv. Das wird schon in der Ouvertüre deutlich, bekommt aber im großen Finale sogar einen richtigen Gänsehautmoment. Außerdem schmackhaft angerichtet ist das Orchester unter der Leitung von Koji Ishizaka. Der aus Japan stammende Dirigent darf mit Sweeney Todd seine bisher größte Arbeit in der Oper Dortmund präsentieren und liefert direkt zur Premiere hervorragend ab.

Die ersten zehn Minuten muss man sich um den Sound noch kurz Sorgen machen, sind zumindest ein paar der Mikros noch nicht richtig eingestellt. Dann gibt es aber wirklich ausnahmslos starke Stimmen zu hören. Selbst das Ensemble, das sich aus Studierenden der Folkwang Uni Essen zusammensetzt, hat vergleichsweise viel zu tun und mehrere Soli, die alle überzeugen. Doch in der Cast wurde dieses Mal so raffiniert besetzt, dass man sich schwer entscheiden kann, wer hier am Ende dominiert. Alle haben mit den komplexen Kompositionen von Stephen Sondheim (u.a. “West Side Story” und “Into The Woods”), die nicht immer sofort zünden, aber doch so viele wundervolle Melodiebögen innehaben, richtig zu tun. Morgan Moody gehört zum festen Opernensemble und spielt den Sweeney Todd mit viel Erfahrung, purer Enttäuschung, Selbsthass und Verbitterung. Gespielt wird die deutsche Übersetzung von Wilfried Steiner und Roman Hinze, die an manchen Stellen natürlich nicht so perfekt greift wie das englische Original, aber auf jeden Fall zu den guten Musicalübersetzungen gehört. Moody zeigt gesanglich viel Varianz und hat seinen Höhepunkt in dem aufwühlenden “Epiphany”.

Nicht weniger einfach hat es Bettina Mönch als Mrs. Lovett. Sicherlich ist die Charakterdarstellerin nicht für jede Rolle die perfekte Wahl, doch schon ihr erster Auftritt mit dem ikonischen “Die schlimmsten Pasteten” ist so witzig-schräg gespielt und kantig gesungen, dass ihre Interpretation eigen, aber stimmig ist. Ihre Mrs. Lovett hat etwas Junges und Verspieltes, tatsächlich fühlt man mit ihr ganz schön mit und bekommt bei der strikten Ablehnung von Sweeney ein wenig Herzschmerz. Wirklich toll gelöst. Dass im Publikum aber viele nicht wegen der beiden Hauptrollen, sondern wegen Jonas Hein sitzen, ist allerspätestens beim Schlussapplaus nicht mehr von der Hand zu weisen. Der 36-jährige Siegener ist in den letzten Jahren zu einem richtigen Star der Szene geworden, spielte zuletzt hervorragend in “Moulin Rouge” und holt emotional mit ganz viel Timbre und Zuversicht in den Vocals ab, dass man der Rolle Anthony einfach immer nur das Beste wünscht.

Mit seiner gesucht und gefundenen Johanna gibt es einen echten West-End-Star. Harriet Jones, die Frau von Anton Zetterholm, durfte in London die Christine im “Phantom” spielen – wer das darf, muss richtig was können. Schon bei der Weihnachtsgala 2022 waren wir voller Begeisterung und auch in Sweeney Todd gibt es mit “Grünfink und Nachtigall” Soprankoloratur der Extraklasse. Da verzeiht man ihr gern ihren doch arg ausgeprägten British Accent, der zumindest einige Sprechparts unverständlich macht. Nina Janke als Bettlerin hat nicht viele Einsätze, jedoch ist jeder Einsatz so verschroben, krächzend und fragil, dass ihr wiederkehrendes Thema immer haunting durch den Raum schwebt.

Ach komm, die Cast ist so gut, den Rest nehmen wir auch mit: Florian Sigmunds Büttel Bamford ist optisch an einen allzu bekannten Diktator angelehnt. Wer Florian aus anderen Stücken kennt, wird staunen und sich freuen, wie gut ihm diese Ekel-Art im Stück steht, die man so von ihm wohl noch nicht gesehen hat. Julius Störmer als Tobi hat im Duett mit Mrs. Lovett zu “Denn ich bin bei euch” einen wahnsinnig starken Moment. Seine Schlüsselfigur ist immer äußerst präsent, wenn sie da ist, was auch für sein Schauspieltalent spricht. Andreas Laurenz Maier als Richter Turpin hat ein markantes Solo, bei dem es etwas explizit zugeht und die Lichttechnik gut zu tun hat. Pirelli, gespielt von Fritz Steinbacher, bekommt, so wie es sich auch gehört, den Preis fürs beste Kostüm – Zirkusdompteur in Lila? Schick!

Stichwort “Explizit”. Hier müssen wir dann doch ein bisschen nörgeln. Sweeney Todd ist das Stück, bei dem zig Leute ganz schön brutal umgebracht werden. Das ist so oder so makaber. Leider entscheidet sich die Inszenierung jedoch gegen Bluteffekte und für die Massentauglichkeit hinsichtlich Ekel. Das ist etwas schade, hier dürfte ruhig besonders bei der Schlachtplatte “Schmeckt das gut!” als Eröffnung im zweiten Akt mal richtig die rote Farbe spritzen, tut sie allerdings kein einziges Mal. Zwar gibt es konsequent eine Rampe, von der die Leichen vom Salon in den Ofenkeller herunterrutschen, aber den Rest muss man sich ein bisschen denken.

Ansonsten ist jedoch das Setting durch so viel Detailliebe und permanente Wechsel ein ganzes Fünf-Gänge-Menü fürs Auge. Ob Tanzszene in der Psychiatrie, große Ausschankmomente vor Mrs. Lovetts Shop oder bittersüße Strandträumereien – Sweeney Todd fährt einfach richtig auf. Hier wird nicht gespart, hier wird richtig feierlich kredenzt. Und das hat das 45 Jahre alte Stück von Sondheim wirklich verdient. Sowieso auch im Libretto einfach ein geniales Stück, bei dem man wie bei einem guten Thriller durchgehend mitfiebert und schmerzlich mitleidet. Das Theater Dortmund ist zurück im Game und bewirbt sich hiermit für den deutschen Musical Theater Preis 2025. Daumen drücken, es wäre verdient! Für Musicalfans ein absolutes Muss, für Gelegenheitszuschauer*innen eine lupenreine Empfehlung. Der Premierenapplaus zieht sich so lang, dass das Orchester ihn irgendwann kappt. Und das heißt was.

Und so sieht das aus:

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Foto von Björn Hickmann

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