Wir sagen es immer wieder: Besucht als Musicalfans häufiger Stadt- und Landestheater eurer Region. Dort findet ihr pro Spielsaison mindestens eins, gerne aber auch zwei Stücke, die es auf den ganz großen Bühnen von den Big Playern selten bis nie gibt und somit euren Musicalhorizont lohnenswert erweitern. Nach großen Erfolgen wie “Rent” im Theater Dortmund, “Jekyll & Hyde” im Staatstheater Darmstadt, “Tick, Tick… Boom!” im Musiktheater im Revier Gelsenkirchen oder “Cinderella” an der Oper Wuppertal folgt nun der nächste Insider-Tipp. Dafür geht’s diese Runde ans Landestheater Detmold zu Tschitti Tschitti Bäng Bäng.
Auffälliger Titel, über den man beim ersten Aussprechen sehr gern mal stolpert. Allzu bekannt ist er dennoch nicht. Das hat mehrere Gründe: Einerseits sucht man das Stück auf den Spielplänen oft vergeblich, lief es im vergangenen Jahrzehnt größtenteils nur am Staatstheater München. Andererseits schaffte es der 1968 erschienene gleichnamige Musicalfilm, für den die Songs von Richard M. und Robert B. Sherman komponiert wurden, nie aus dem Schatten des 1964 veröffentlichten Übererfolgs “Mary Poppins”. Der Walt Disney-Evergreen ist zurecht bis heute wohl der Meilenstein des Genres, ist musikalisch wie technisch überragend und glänzt mit seinen zwei Hauptdarsteller*innen Julie Andrews und Dick Van Dyke. Andrews machte im 1965 herauskommenden “The Sound of Music – Meine Lieder, meine Träume” erneut eine sehr gute Figur und durfte sich über eine Oscar-Nominierung als beste Hauptdarstellerin freuen – Van Dyke, mit dem man sich bei Tschitti Tschitti Bäng Bäng ähnliche Siegeszüge erhoffte, blieb jedoch arg hinter den Erwartungen zurück. So ist der Film, der eben oft mit den beiden anderen in einem Atemzug Erwähnung findet, ein wenig der ungewollte Nachzügler.
Keine allzu attraktiven Voraussetzungen für das Landestheater Detmold, aber genau diese kleinen Randstücke sind es dann doch oft, die den gewissen Charme ausmachen. Eben jener Mut wurde schon 2002 in London belohnt, als der Film erstmalig rund 35 Jahre später den Weg auf die Bühne fand – verblüffend lang verstrichene Zeit. Am Ende lief das Musical dreieinhalb Jahre erfolgreich am West End. Bis zur deutschen Erstaufführung in München dauerte es nochmal ein wenig, die war dann nämlich erst 2014. Detmold zeigt übrigens die NRW-Premiere. Nicht schlecht!
Über 600 Menschen finden ihren Weg am 7.4., dem Sonntag nach Ostern, in den wirklich äußerst schönen Theatersaal. Nach freien Plätzen muss man schon genauer schauen. Zunächst überrascht die recht frühe Uhrzeit, zu der die Premiere beginnen soll, nämlich 18 Uhr. Während des Stücks wird aber schnell klar, warum: Tschitti Tschitti Bäng Bäng hat unter den Hauptcharakteren zwei Kinder. Sowieso muss man aber sehr genau überlegen, wann man zuletzt dermaßen viele Menschen unter 14 in einem Musical gesehen hat, denn am Ende werden es noch wesentlich mehr als nur die Beiden.
Eine kurze Zusammenfassung, worum es in dem Zweiakter geht, der zunächst 70, dann 55 Minuten zuzüglich Pause dauert: Caractacus Potts – what a name – und seine zwei Kinder haben es nicht leicht. Zwar ist Caractacus ein begnadeter Wissenschaftler, sodass besonders sein Schrauben an dem neuen Wagen, den er Tschitti Tschitti Bäng Bäng tauft, wahre Wunder bewirkt, aber finanziell wird es arg schwierig. Noch problematischer wird es jedoch, wenn der Baron und die Baronin von seinem Fahrzeug mitbekommen und es ihm stehlen wollen. Ganz nebenbei kommt natürlich noch eine Frau in Caractacus‘ Leben, die ihm richtig gut gefällt.
Oft muss man bei Musicals aus den 60er Jahren, als das Genre in seiner Wandelbarkeit noch eher überschaubar war, einige Abstriche machen, sind Story meist eben ordentlich aus der Zeit gefallen, die Musik kitschig-dramatisch und das Frauenbild gleich fünfmal generalüberholt. Doch Tschitti Tschitti Bäng Bäng zeigt eine so klare familienfreundliche Märchenskizze, dass man sich weder langweilt noch unangenehm berührt fühlen muss. Stattdessen ist die Inszenierung in Detmold mit der deutschsprachigen Übersetzung von Frank Tannhäuser einfach richtig süße, liebevolle Unterhaltung für mehrere Generationen.
Ohren, Augen und Verstand werden hier gleichzeitig verwöhnt, aber nicht überfordert, sodass eben auch schon Kinder im Grundschulalter der witzigen, leicht klamaukigen und rührenden Handlung folgen können, solange sie sie nicht an der einen oder anderen Stelle ein wenig zu gruselig und unangenehm finden. Sowohl im Kostüm als auch im Bühnenbild und in der Requisite wird mit vielen bunten Farben gearbeitet und sich im Rahmen der Möglichkeiten enorm viel Mühe gegeben. Besonders im Kopf bleiben das schrecklich-schöne Kleid der Kinderfängerin, eine poppige Choreo mit der gesamten Crew in einem Bonbonladen und der heimliche Star des Ganzen – ein sich in die Lüfte hebendes Auto. Dazwischen tanzt das Ballett des Hauses und der Opernchor sorgt für einen vollen Ton im Saal.
Untermalt wird das Musical vom symphonischen Orchester des Landestheaters Detmold, das unter der Leitung von Mathias Mönius tolle Arbeit leistet und den Raum direkt mit Märschen und verträumten Walzern in die damalige Zeit katapultiert. Technisch läuft bei der Premiere noch nicht alles glatt, sodass der Chor, aber auch einige einzelne Darsteller*innen zwischenzeitlich nicht ganz verständlich sind. Ebenso sollte beim Auf- und Abbau der Kulissen der Ablauf noch ein wenig geprobt werden, damit nicht so häufig Mitarbeitende zu sehen sind und den Fantasieeffekt ein wenig schmälern.
Doch das sind Kleinigkeiten, die sicherlich mit einigen Vorstellungen behoben sind. Das, worauf es ankommt, ist super. Die Musik ist zwar in den 60ern komponiert, hat aber Charme und ist in ihren eingängigen Melodien schnell griffig, sodass manches zweifellos im Ohr bleibt. Gesanglich ist in der Cast so gar nichts auszusetzen. Besonders starke Augenblicke sind das Duett zwischen der Baronin Bomburst, gespielt von Lotte Kortenhaus, und dem Baron Bomburst, gespielt von Randy Diamond, das wirklich herrlich überdreht dargeboten wird. Absoluter Höhepunkt des Abends ist allerdings Benjamin Sommerfeld in der Hauptrolle des Caractacus. Sommerfeld singt wirklich jeden Part mit einem wunderschönen weichen Ansatz, klingt immer klar und auch trotz einiger ganz schön fordernder Tanzpassagen bleibt ihm nie die Luft weg. Sehr sympathisch und eine starke Besetzung. Doch selbst die Kinderdarsteller*innen, allen voran natürlich Julie Löwen und Fatima Mhanna als Jeremy und Jemima Potts, patzen weder im Gesang noch im Text. Applaus.
Tschitti Tschitti Bäng Bäng ist kein Musical, das nun urplötzlich in die Geschichte eingehen wird und auf allen “Lieblingsstücke”-Listen landet, aber dank der ambitionierten Inszenierung, der tollen Cast und der großen Menge an Menschen, die hier zusammenkommen, zeigt Detmold schöne, zuckerige – im wahrsten Wortsinn – Sonntagnachmittag-Unterhaltung, bei der alle glücklich beseelt und summend nach Hause fahren und sich heimlich wünschen, dass ihr Wagen auch abhebt und gen Kosmos düst.
Und so sieht das aus (Trailer zum Originalfilm aus 1968):
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Foto von Christopher
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