Mit „Notes On A Conditional Form“ beenden The 1975 die „Music For Cars“-Era. Was ursprünglich als das dritte Album der britischen Band gedacht war, mutierte binnen weniger Jahre zu einem unkontrollierbaren Konglomerat aus zwei vollwertigen Studio-Werken und durchgetakteten Live-Konzerten im traditionellen Show-Sinne. „Notes On A Conditional Form“ ist nun das zweite der angedachten Alben und vereint 22 Versatzstücke zu einem bunten Haufen Pop-Musik.
An aller Anfang steht der Punk
Ganz zu Beginn der Reise steht ein politisches Punk-Statement. Nach dem zur Tradition gewordenen Instrumental-Intro – diesmal samt Rede von Umweltaktivistin Greta Thunberg – entlädt sich die aufgestaute Energie flugs in Wut. Aus dem am Anfang stehenden Aufruf zur Rebellion wird so zumindest für kurze Zeit eine Punk-Zeitreise, die The 1975 ungewohnt unbequem und lärmend zeigt. Die Stil-Abdeckung der anschließenden 70 Minuten – die Bezeichnung Langspieler kann hier wörtlich genommen werden – ist jedoch deutlich breiter: Faucht und jauchzt Sänger Matty Healy zu Beginn noch wie ein erzürnter Teenager, so wenden sich seine Kollegen nur Minuten später in mehreren Überleitungen offenen Film-Musik-Arrangements zu. Viele Stücke kuscheln zudem mit elektronischer Dance-Musik und deren Rhythmen, es gibt Jazz-Ausflüge und natürlich eine Menge großer Pop-Momente. Am monumentalsten wird die ganze Angelegenheit im 80er-Gedenksong „If You’re Too Shy (Let Me Know)“, der sich mit seinen verwaschenen Chorus-Gitarren und stolperndem Synthie-Bass gemächlich zum nächsten Band-Hit mausert.
Musikalisch reisen The 1975 dabei durch die letzten 50 Jahre Pop-Geschichte. Bei solch einer breiten Fächerung und langen Spielzeit ein homogenes Soundbild zu generieren, ist kaum möglich. Der Band gelingt es trotzdem, dank großzügiger Vermischung und Verteilung stilistischer Elemente, einen roten Faden erkennen zu lassen. Jedes der 22 Stücke offenbart sich unmissverständlich als The 1975-Werk – und das, obwohl nahezu jeder Song ein hervorhebungswürdiges Highlight mit eigenem Charakter ist.
Intro und „People“ rauben Energie und Atem, die restlichen 20 Songs bringen Wiedergutmachung und Heilung
Fühlt man sich der unangenehmen Thematik und direkten Aufarbeitung der ersten zwei Stücke schon nach wenigen Minuten kaputt und zerstört, flicken die restlichen Lieder behutsam wieder das zusammen, was zuvor in Kleinteile gerissen wurde. „The End (Music For Cars)“ beispielsweise umgarnt die Zuhörer*innen mit seinen seichten Streicherteppichen, „Streaming“ ist der Soundtrack zum blühenden Frühling und „The Birthday Party“ hat neben Jazz-Gitarren, gelassenen Drum-Beats und Healys tiefenentspannter Stimme Platz für ein Gitarrensolo. Auch „Me & You Together Song“ entspannt dank des ausgeglichenen Frontmannes, obwohl das Instrumental von energetisierenden Akustik- und E-Gitarren angeleitet wird.
Auch wenn in der ersten Hälfte von „Notes On A Conditional Form“ ebenfalls gelegentlich Dance-Elemente durchscheinen, unternimmt der Sound vor allem im zweiten Albumteil radikale Wendungen in Richtung Club. „I Think There’s Something You Should Know“ öffnet sich für Dance-Breaks, „Nothing Revealed / Everything Denied“ könnte samt seines avantgardistischen Soundbildes, seiner Choräle und Sprechgesänge ebenso ein verdammt guter Kanye West-Song sein und „Shiny Collarbone“ arbeitet mit Dub-Anleihen. Ihren Höhepunkt finden diese Dance-Ausreißer dagegen später in „Having No Head“: Lässt der knapp sechsminütige Song mit seinem Klaviereinsatz zunächst eine entspannte Ballade vermuten, so biegt das Instrumental-Monster nach drei Minuten in Richtung Tanzfläche ab und setzt prominent einen stampfenden Elektro-Beat in den Vordergrund. Die Einflüsse elektronischer Musik schlagen sich auch an anderer Stelle einen Weg an die Oberfläche: In der Produktion der Vocals. Healy klingt zwar oft locker und lässig, mindestens genauso häufig wird die Stimme des 31-Jährigen jedoch auch verzerrt, mit Autotune versehen und nach oben oder unten gepitcht.
Vom Politischen zum Persönlichen
Zwischen all die digitalen Spielereien setzen The 1975 reduzierte Balladen. Die Klavier-Schnulze „Don’t Worry“ beispielsweise steht an vorletzter Stelle und wurde vor vielen Jahren von Healys Vater geschrieben, der den Song nun auch singt. „Jesus Christ 2005 God Bless America“ entpuppt sich viel früher bereits als Duett mit der Songwriterin Phoebe Bridgers. Über Akustik-Gitarren-Arrangement reflektieren Healy und Bridgers hier ihre Beziehung zu Gott und ihren Glauben an übernatürliche Kräfte. Gleichsam hinterfragen die zwei Protagonisten die Zwiespältigkeit zwischen Glauben und ihrer oft nicht mit Religion zu vereinbarenden Bisexualität. Selbst in solch intimen Momenten bleiben The 1975, die sich auch fernab ihrer Musik für die LGBTQ-Community stark machen und sich für Frauenrechte und ein klimafreundliches Leben einsetzen, demnach oft politisch.
Neben all diesen mal offensichtlichen, mal unterschwelligen Statements stehen obendrein rein persönliche Songs. So behandelt der Closer „Guys“ als Ode an die Freundschaft die Beziehung zu den drei Bandkollegen: „You’re the best thing, that ever happened to me.“ Dem musikalischen Marsch entsprechend wandern Healys Texte also gleichermaßen immer wieder vom Persönlichen zum Politischen und zurück.
In seiner Komplexität ist „Notes On A Conditional Form“ nur schwerlich in Gänze zu greifen. Mit über 80 Minuten Spielzeit, 22 Songs und vielen stilistischen Riesenwanderungen bleibt das vierte The 1975-Album ein Monumental-Werk, das ambitionierter nicht sein könnte: Sechsminütige Dance-Epen, große 80’s Pop-Hits, Akustik-Balladen, ein Punk-Rock-Brett, cineastische Orchester-Arrangements. Dass dem Quartett dieses Projekt bei all der Vielschichtigkeit nicht um die Ohren fliegt, zeigt nur, wie selbstsicher die Band ihr Schaffen angeht. Dass trotz der langen Laufzeit niemals Langeweile aufkommt, belegt, wie gut The 1975 dieses Kunststück gelungen ist. Die „Music For Cars“-Era hätte man nicht würdevoller beschließen können!
Das Album “Notes On A Conditional Form” kannst du dir hier kaufen.*
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Zur Review des Vorgängers “A Brief Inquiry Into Online Relationships” geht es hier.
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The 1975 live 2020:
11.10. – Düsseldorf, Mitsubishi Electric Halle
14.10. – Frankfurt, Jahrhunderthalle
15.10. – Berlin, Ufo im Velodrom
23.10. – Wien, Gasometer (AT)
24.10. – München, Zenith
Die Rechte für das Cover liegen bei Dirty Hit.
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