Ironie des Schicksals: 2020 ist die Zeit, in der Pop- und Dancesounds die Charts zurückerobern. Hits sind nicht mehr einfach Coverversionen mit ohrenbetäubendem Bumsbeat, sondern bieten Melodien mit Ohrwurmfaktor für jede Gelegenheit und jede Altersgruppe. Dabei wirkt der Ort, an dem am häufigsten ausgiebig getanzt wird, seit mehr als einem halben Jahr wie ein Relikt aus einem anderen Leben: die DISCO.
Eine Sängerin, die schon viele unterschiedliche Phasen der öffentlichen Tanzflächen miterleben durfte, ist Kylie Minogue. Seitdem sie 19 ist, sorgt die 1,52m kleine, charismatische Persönlichkeit für Popsongs und landete bereits mit ihrer Debütsingle „The Loco-Motion“ einen weltweiten Top 3-Hit und in ihrer australischen Heimat sogar auf der Pole. Danach findet man nur eine geringe Anzahl an Jahren, in denen Kylie keine Singles bzw. Alben veröffentlicht hat oder nicht getourt ist – was immerhin 33 Jahre umfasst. Ja, Faulheit kann man der mittlerweile 52-jährigen aus Melbourne keinesfalls anhängen. Stattdessen gibt es nun zum zweiten Corona-Lockdown das 15. Studioalbum mit dem fast schon protest-liken Namen DISCO.
Als Kylie an den Start ging, nannte man die Räume, in denen bis zum Morgengrauen getanzt wurde, eben noch nicht Clubs, sondern Discos. Dementsprechend old-schoolig und gleichzeitig wieder top-modern ist der Albumtitel ausgewählt, der jedoch im Kylie-Universe weniger überraschend erscheint als bei ihren Kolleg*innen. Eigentlich war Kylie schon immer DISCO und ist sich in ihrem Sound treugeblieben, auch wenn’s den aktuellen Charttrends nicht entsprach. Hört man sich den Backkatalog mal an, sind auf nahezu jedem ihrer Longplayer klassische Dancetracks vertreten. Selbst ihr zuletzt stattgefundener, leichter Country-Folk-Ausritt „Golden“ (2018) klang nach einer eher überschaubaren Stilveränderung. Ihr 2020 ist aber lupenrein.
Was Dua Lipa, Lady Gaga oder Jessie Ware in diesem Jahr können, kann eine classy Kylie natürlich erst recht. Das 12- (Standardversion) bzw. 16-Track (Deluxe Edition) umfassende DISCO macht keinerlei Kompromisse. Viel 70s-Sound mit anregenden Beats, die dazu verlocken, sich zu bewegen. Corona-bedingt musste ein Großteil der Arbeit von zuhause aus passieren, wodurch Kylie an vielen Tracks mit ihren eigenen Skills und Mitteln selbst mitproduzierte. Der Output wirkt selbstredend trotzdem professionell, wenn auch recht clean. Denn genau hier liegt der Knackpunkt: wirklich hervorstechende Highlights sind rar gesät.
Natürlich klingt DISCO nicht nach „I Should Be So Lucky“, was auch befremdlich und wenig zeitgemäß wäre. Leider klingt DISCO aber auch nicht nach einschlagenden Radio-Hymnen a la „Can’t Get You Out Of My Head“, Pop-Exzellenz wie in „Love At First Sight“ oder purem Sex in „Slow“. Orientierung bietet hingegen beispielsweise „Spinning Around“, nur mit etwas weniger Drive. Die gesamte LP liefert durchweg treibende Basslines, die wirklich vorzüglich grooven. Kylie selbst klingt nach klinischem Autotune, was auch ok ist, aber selten richtig nach vorn geht.
Trotzdem ist DISCO ein Grower. Ein typisches Album, das mit mehrmaligem Hören zunimmt und ein Stückchen wächst. Irgendwo zwischen Michael Jacksons „Off The Wall“ und diversem Zeug von Donna Summer machen einige Tracks wirklich Spaß („Real Groove“, „Magic“, „Where Does The DJ Go“), leider ist das große Ganze aber doch zu gleichbleibend. Selten wird in der Bpm-Zahl variiert, Balladen fallen logischerweise eh aus. Somit flutschen einige Titel, die eben nicht die catchy Hook bieten, ins eine Ohr rein und auch nach drei Durchläufen immer noch unbeachtet aus dem anderen heraus („Monday Blues“, „Supernova“, „Last Chance“). Volle Punktzahl gibt es hingegen für die sehr gelungene Vorabsingle „Say Something“, die alles vereint, was auf einem Album namens DISCO vereint werden muss und den Traum vom Tanzen im luftigen Shirt in Stroboskoplicht mit Gin-Tonic in der Hand vertont. Gerade die Bridge sitzt perfekt.
Der neusten Kylie-Platte fehlt es hier und da an Durchschlagskraft, Individualität und Suchtpotenzial. Ein Album, das sich dank seiner Homogenität gut durchhören lässt, nicht stört, aber auch kaum fordert. Fans wird das zufriedenstellen, allen anderen jedoch nicht auffallen. Der Abschlusstitel „Celebrate You“ beinhaltet am Ende ein Fade-out. Ein Stilmittel, das Ewigkeiten aus dem Pop wie weggeblasen schien, so langsam zurückkommt und hier ein klares Zeichen setzt. DISCO ist immer noch, DISCO endet nie, man entfernt sich nur von ihr, sie wird im Ohr leiser, ist aber stets bereit, wenn man eines Tages zurückkehrt. Hoffentlich.
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