Man weiß, die Lage ist ernst, wenn sogar Bands wie Milliarden, deren Charme so sehr aus dem direkten Speichel- und Schweißaustausch mit ihren Fans besteht, Streaming-Konzerte anbieten. Wenn man sich diese dann aber auch mal wirklich anschaut, scheint all das Herzblut direkt aus dem WLAN-Router zu spritzen. Denn wie Frontmann Ben Hartmann schon in unserem Interview zur neuen Platte “Schuldig” angedeutet hat – die Berliner haben sich wirklich mächtig ins Zeug gelegt, um dem Format entsprechend beste Unterhaltung zu liefern. Dafür haben sie sich mit dem taufrischen Club100 in Bremen auch die beste Location ausgesucht. Dieses solidarische Streaming- und Veranstaltungsprojekt findet in den Räumlichkeiten des Pier2 statt und möchte der gebeutelten Branche eine Perspektive bieten. Milliarden fackeln da nicht lange und legen eine grandiose Release-Veranstaltung hin.
Zwischen Tür und Angel
Einen Vorteil hat es ja doch, wenn weder Publikum noch Türsteher*innen oder Servicekräfte in der Halle sind – Bands haben genügend Platz, um sich auch mal von der Stelle zu bewegen. So beginnen die beiden kreativen Köpfe Hartmann und Pianist Johannes Aue ihr Set noch mit der restlichen Band in einem intimen Kreis-Setting. Wenn sich hier der aktuelle Albumtitelsong in seiner vollen Macht entfaltet und jeder einzelne der Musiker mit jeder Faser dabei zu sein scheint, macht das was mit einem, selbst wenn man das Spektakel nur durch einen Bildschirm betrachtet. Nach der ersten Fata Morgana eines großen Moshpits im eigenen Wohnzimmer nimmt der Kameraschwenk einen mit auf die Fersen von Hartmann und Aue, die sich auch in intimen Settings beweisen wollen. Apropos Kamera – sowohl die HD-Qualität der Bilder als auch der erstklassige Sound sind nicht unwesentliche Grundpfeiler für diesen tollen Abend. Vor allem für die gerade einmal zehn Euro Eintritt bekommt man hier eine immens hochwertige Produktion geliefert.
Eskalation und Intimität
Aber zurück zum intimen Rahmen. Nach dem Szenenwechsel stehen sie also da, Aue über seine Tasten gebeugt, Hartmann mit dem umklammerten Mikrofon, der Raum um sie in tiefe Finsternis gehüllt. Ob alte Hits wie “Cherie” oder das neue “Himmelblick” – die Spannung ist zum Greifen nahe. Und bereitet die Zuschauer*innen dennoch nur bedingt auf die anstehende Eskalation vor, die beim anschließenden “Wenn ich an dich denke” detoniert. Den klanglichen Druck fängt die dynamische Kameraführung gekonnt ein, bringt die Bewegung auf den heimischen Bildschirm. Spätestens nach dieser Feuertaufe sind alle Zweifel an dem häufig doch sehr drögen Format des Livestreams vergessen, auch die Band scheint rundum zufrieden zu sein. Hartmann erzählt kleine Anekdoten, grinst über beide Backen, erinnert daran, dass natürlich alle frisch getestet sind und Aue kommt gar nicht aus den Danksagungen heraus. So sehen Endorphine aus! Die sprühen Zuhause bestimmt auch bei der kleinen Unplugged-Session im Putzraum, die dem großen Moment von “Die Gedanken sind frei” voraus geht. Dessen drängendes Crescendo treibt Hartmann alleine auf der Bühne vorm großen Albumcover in wilde Tanzbewegungen, ein bewegendes Bild von Freiheit in der Monotonie des Lockdowns.
Nach einer toll konzipierten Setlist, die – natürlich! – auch die großen Hits “Im Bett verhungern” und “Freiheit ist ne Hure” nicht verschmäht, bemerkt man noch einmal, wie grandios diese neue Platte “Schuldig” eigentlich ist. Vor allem dann, wenn “Die Fälschungen sind echt” schon dermaßen nach Festival klingt – und der Closer “Trenn Dich” dann sogar noch einen draufzusetzen weiß. Plötzlich steigt ein komisches Gefühl in der Brust auf. Es ist die altbekannte Wehmut des letzten Songs, die bei Konzerten so üblich, in den letzten Monaten aber beinahe vergessen war. Großes Kino, Milliarden.
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