Was ist eigentlich mit der Musicalszene in Deutschland los? Kennt man sich ein wenig in der Gattung aus, weiß man, dass für Kreativität nur im äußerst überschaubaren Rahmen Luft bleibt – zumindest, wenn’s erfolgreich sein soll. Ja, Stadttheater probieren sich gerne aus und ab und an hat man Glück und darf auch in einer größeren Produktion mal etwas sehen, was nicht einer Disney-Vorlage entsprungen ist, von Andrew Lloyd Webber komponiert wurde oder wofür Songs großer Künstler*innen wie ABBA herhalten müssen. Aber das sind Ausnahmen. Die Regel besagt: besser die sichere Nummer. Bloß kein Edge.
Doch frei nach dem Motto “Jemand wusste nicht, dass das geht und hat’s dann einfach gemacht” bespielt das über 100 Jahre alte Stage Theater des Westens in Berlin nun ein Trio, das man so wohl kaum im Musical-Game erwartet hätte. Und noch viel weniger in dieser Konstellation. Peter Plate, Ulf Leo Sommer und Annette Hess zeigen mit Ku’damm 56: Das Musical, dass das “Über den Tellerrand-Schauen” das ist, was uns allen gut tun würde.
Zueinander fand die Kombo auf Wunsch von Hess persönlich. Die Schriftstellerin und Drehbuchautorin erlangte vor fünf Jahren einen absoluten Volltreffer bezüglich deutscher TV-Produktionen. Mit ihrer Serie Ku’damm 56 schaffte die in Hannover geborene, 54-jährige Hess Platz 1 unter den meistgestreamten, deutschen TV-Serien zu belegen – und fühlte schon während der Produktion einen Musical-Vibe. Eine Serie, bei der Musik eine zentrale Rolle spielt, verlangt die große Bühne. Und große Songs. Denn ja, Rock’n’Roll geht immer, aber bloße Musik aus den 50ern zu verwenden, ist halt auch ein wenig zu einfach für Köpfe, die mehr wollen.
Was ein wunderbarer Zufall, dass Peter Plate und sein langjähriger Komponistengefährte Ulf Leo Sommer schon jahrzehntelang die Vision haben, irgendwann mal ein Musical machen zu dürfen. Das gab es im ganz kleinen Rahmen schon bei Plates Ex-Band Rosenstolz, im mittelgroßen Rahmen mit der Komposition zu einer “Romeo & Julia”-Musicaladaption, doch nun durfte der wirkliche Traum endlich wahrwerden. Denn Hess wollte ein Musical zu ihrer Serie, wollte die Zwei als Komponisten und bekam sie mit vollem Herzen.
Noch nie war es so einfach, eine Anfrage mit “Ja” zu beantworten, wie Plate es selbst beschreibt. Und genau diese pure Leidenschaft und Überzeugung ist am 28.11.2021, einem Sonntag, in Berlin spürbar. Schon mittags lädt das Team hinter dem neuen Stage-Musical zur Pressekonferenz, durch die Fernsehkultmoderatorin Kim Fisher gewohnt charmant führt. Jede*r Beteiligte spricht über Ku’damm 56: Das Musical wie über ein lang angesteuertes Reiseziel. Und tatsächlich kann man hier von einer weitaus längeren Reiseplanung sprechen, als zunächst gedacht, denn Corona hat auch hier gnadenlos zugeschlagen und die Premiere um ein Jahr verzögert.
Wahrscheinlich hat dieses Jahr nun Ku’damm 56: Das Musical perfekt in die Karten gespielt. Ein wenig mehr Vorlauf, ein wenig mehr Finetuning und auch ein wenig mehr Werbung, die dazu geführt hat, dass das Medieninteresse wohl ungeahnte Ausmaße annehmen durfte. Presse für Funk, Fernsehen und Online bei einer Premiere überrascht niemanden – aber vielleicht folgende Gäst*innenliste: Westernhagen, Adel Tawil, Annett Louisan, Jannik Schümann, Micaela Schäfer, Ralph Morgenstern, Stefanie Kloß von Silbermond sind nur einige der nennenswerten Zuschauer*innen.
Trotz erschwerter Einlassbedingungen, die nun neben 2G auch einen tagesaktuellen, negativen Corona-Schnelltest bedeuten, ist eigentlich schon in der ersten Minute der Show deutlich, wie hoch die Erwartungen sind und gleichzeitig auch positive Stimmung mitgebracht wurde. Denn in dem Moment, in dem die sechsköpfige Band die Bühne betritt, startet der erste tosende Applaus. Der erste von sehr, sehr vielen.
Um Erwartungen richtig anzupassen: Ausstattungsfans sind leider bei Ku’damm 56: Das Musical nicht an der richtigen Adresse. Im Vergleich zu anderen Stücken dieser Größenordnung passiert fürs bloße Auge gar nicht so viel. Die Bühne erinnert eher an Theater als an große Broadway-Produktion und zeigt eine heruntergerockte Lagerhalle. Ein zweietagiges Gerüst dient als Bühne, auf der an mehreren Ecken parallel Szenen laufen können – links, rechts, oben, unten. Im Mittelpunkt befindet sich untypischerweise jene Band, der der erste Applaus galt, und die während des Stücks durchgehend sichtbar bleibt. Ein Teil des Gerüsts ist bewegbar und als kleines Special kann eine Art zweite Decke heruntergefahren werden, die Club-Feeling in Neonfarben erzeugt. Ansonsten hat Ku’damm 56: Das Musical aber eher was zu sagen als Special-Effekt-like zu zaubern.
Kann man sich also damit abfinden, dass hier kein zweites Tarzan–Wicked–Phantom der Oper-Spektakel geschieht, hat man ansonsten alles, was es für einen berauschenden, sehr energetischen, unterhaltsamen, nachdenklichen und politischen Abend braucht. In knapp zweimal 75 Minuten Spielzeit pro Akt ballert das Stück einem mit Leichtigkeit fast durchweg schwere Themen um die Ohren, ohne auch nur einmal auf die Tränendrüse zu drücken, ohne einmal für kürzbaren Leerlauf zu sorgen und ohne zu plakativ zu werden.
Das größte Lob geht an das wirklich hervorragende Skript. Es ist eben nicht von der Hand zu weisen, dass wenn eine Vorlage sehr gut ist, dass daraus auch eine sehr gute Adaption entstehen kann, wenn die Macher*innen gut genug involviert werden – und Annette Hess ist eben nicht nur involviert, sondern maßgeblich dran beteiligt und hat ihre ganz eigene Idee im Kopf, wie aus ihrer Serie nun ein Bühnenstück werden soll. Ihre Geschichte ist vielfältig und schafft es, nicht nur eine Person in den Fokus zu stellen, sondern gleich mehrere gleichwertige Handlungsstränge zu erzählen. Dabei ist die Story rund um die strenge, konservative Tanzlehrerin Caterina Schöllack Dreh- und Angelpunkt, die durch ihre drei Töchter permanent mit sich und unterschiedlichen Weltanschauungen konfrontiert wird. Alle Drei haben ein Leben vor Augen, das für sie wünschenswert ist, dabei eckt Caterina aber insbesondere mit den Vorstellungen von Monika an, die ihrer Meinung nach einfach alles gegen die Wand fährt. Jeder Charakter der vielschichtigen Handlung durchläuft in den guten zwei Stunden eine klare Entwicklung, was keinesfalls selbstverständlich ist.
Feminismus, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung gehören in der Gegenwart zu den stärksten Thematiken unserer Gesellschaft – und tatsächlich auch schon in den 50ern, wenn auch rebellischer und der Historie entsprechend kontroverser. Denn Ku’damm 56: Das Musical schlägt Brücken. Zwar ist es 1956 noch problemlos möglich, seine Ehefrauen zu schlagen und dafür nicht bestraft zu werden, aber einige Aussagen, die in dem Musical fallen, sind auch heute noch täglich in den sozialen Netzwerken wahrzunehmen. Selbstverwirklichung ist oft nur so weit akzeptiert, wie sie nicht aneckt. Eine erneute Brücke, denn Ku’damm 56: Das Musical hat etwas zu sagen: Homosexualität; Sex vor der Ehe; Missbrauch; eine Ehe, weil es so erwartet wird; eine Ehe, die man eingeht, um sich finanziell abzusichern; das Anhimmeln und Vermissen von Adolf Hitler als Führer – wie erwähnt, es schlägt Brücken und ist damit Zeitgeschehen, Zeitgeist und Zeitlosigkeit in einem.
Auf musikalischer Ebene haben uns die Plate/Sommer-Kompositionen bereits vor einigen Wochen überzeugt, da das Album zur Show seit September verfügbar ist. Im Vergleich zu vielen anderen Stage-Shows gehen die eher poppigen Stücke schon ohne Bildebene ins Ohr, entwickeln aber mit den jeweiligen Szenen eine ungeheure Energie. Besonders die sehr starken Ensemblenummern wie das eröffnende, mitreißende “Monika” und das voller Selbstreflexion emotional-abschließende “Was wäre wenn” ergeben eine wundervolle Dramaturgie, die durch talentierte, junge und sehr dynamische Darsteller*innen auf das Publikum erfolgreich ihre Wirkung entfaltet.
Auch mit der Cast scheint Ku’damm 56: Das Musical alles richtig zu machen. Neben Sandra Leitner, die ihrer Monika eine sehr liebenswerte, schüchterne Facette verleiht und die sich dann doch zum großen Selbstbewusstsein wendet, fällt David Jacobs als Freddy mit dem Titelthema “Berlin Berlin” besonders auf. Gerade gesanglich weiß Jacobs, der sich in den letzten Jahren zur absoluten Oberliga deutscher Darsteller*innen hochgespielt hat, zu überzeugen, und kann mit seinem rockig angehauchten Pop-Tenor zeigen, was er alles kann. Doch da das Stück eben so angelegt ist, dass sich nicht alles nur um eine Figur dreht, sollten auch genauso Isabell Waltsgott als Eva und Dennis Hupka als Wolfgang erwähnt werden, die sowohl mit Optik als auch Stimme ihren Rollen sehr viel Authentizität entlocken können. Das Highlight erwartet einen jedoch im zweiten Akt mit dem Stück “Früher”, gesungen von der tief enttäuschten, zerrütteten und desillusionierten Caterina, gespielt von Katja Uhlig. Ihre klassische Gesangsausbildung macht aus dem anspruchsvollen Stück einen wahren Showstopper, der so stark ist, dass es sich allein dafür lohnt eine Eintrittskarte zu kaufen. Eine Leistung, die wohl so nur von einer Pia Douwes hierzulande zu erwarten wäre.
Selbst nach dem Stück bleiben Songs im Ohr. “Ein besserer Mensch” zeigt schöne Turning Points, “Das kann nur die Rumba” hat laszive Momente und in “Ich tanz allein” scheinen die lebensverändernden Ereignisse der Protagonist*innen zu einem nicht für jede*n zufriedenstellenden, aber dennoch nach vorne gerichteten Ende zu führen.
Ku’damm 56: Das Musical ist zweifelsohne ein sehr überraschendes Musical im Stage-Universum, dem es sehr zu wünschen wäre, dass Mut zur Andersartigkeit und Liebe für ein Großprojekt belohnt werden. Zwar ist mit der erfolgreichsten, hierzulande produzierten TV-Serie das Risiko etwas kleiner gehalten, aber ob gleichzeitig auch die Musiktheater-Fans bereit sind, steht auf einem ganz anderen Blatt. Musikalisch, darstellerisch und ganz besonders in der Story kann Ku’damm 56: Das Musical jedoch einen großen Teil der gegenwärtig laufenden Konkurrenz abhängen. In der Pressekonferenz sprach das Trio davon, dass man ihm genug Freiraum lassen muss, damit sie etwas Tolles entwickeln können. Und ja, das ist absolut wahr. Anders kann ein derartig lauter und mehrere Minuten andauernder Jubel zum Finale, gepaart mit Standing Ovations, nicht gedeutet werden.
Und so sieht das aus:
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Foto von Christopher
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Toller Artikel!
Caterina wird aber gespielt von der wunderbaren Katja Uhlig.
Vielen Dank fürs Feedback und den Hinweis. Direkt angepasst. Bei so vielen Eindrücken kann da schon mal was konfus laufen 🙂 (Christopher)