Plattenkrach Nr. 16! Diesmal lief bei Jonas und Christopher Enter Shikari – bei Jonas freiwillig, bei Christopher nur ein kleines bisschen freiwillig. Gekracht hat es diesmal nur gemäßigt. Also auf, auf! Post-Hardcore-Alarm aus der UK! Ready?
Jonas sagt dazu:
Oft ist es das Gesamtpaket, das eine tolle Platte auf die Ebene eines Meisterwerks hebt. Für Enter Shikaris drittes Album „A Flash Flood Of Colour“ trifft das auf jeden Fall zu. Da wären die stets gesellschaftskritischen Texte des Quartettes, die vor Metaphern nur so triefen und es durchgängig schaffen trotz der klaren Botschaft nicht plakativ zu wirken. Da wär das Albumcover, das die Stimmung und Atmosphäre der Musik geeigneter wohl nicht einfangen könnte. Da wäre die Musik, die gleichzeitig so vollgepackt und detailreich produziert, als auch einzigartig arrangiert ist. Diese drei Grundelemente zusammen bilden ein derart stimmiges Gesamtbild, dass der Autor vor Faszination nur ungläubig mit dem Kopf schütteln kann.
Fangen wir also bei der ersten Dimension an: den Texten. Ja, die Band um Frontmann Rou Reynolds weiß sich wahrlich poetisch auszudrücken. Man betrachte die Ballade „Stalemate“ (zu deutsch: „Pattsituation“), in der es heißt:
„Previous wars made billionaires out of millionaires
Today’s wars make trillionaires out of billionaires
Tomorrow’s wars will fuel generations of hate.“
Puh, also das balladeske Stücke ernste Themen behandeln, ist keine Seltenheit. Dass es dabei aber so direkt politisch zur Sache geht, hat man in der Form selten. „Constellations“ wählt ebenfalls einen derart literarischen Bezug und zeigt auf, in was für hohen Ligen die Briten mitspielen. Auch hier stellt Reynolds gesellschaftliche Entscheidungssituationen in den Vordergrund: Nach und nach berichtet der Sänger von einer Bahnstation mit zwei Gleisen – auf einem verkehrt der Zug der „Nachhaltigkeit“, auf dem anderen eine Bahn, die sich in Richtung „Disaster“ fortbewegt. Leider watet die erste Möglichkeit, die bevorzugte Alternative, mit massig Verspätung auf, wohingegen die Reise ins Unglück pünktlich startet und mit der Zeit bereits an Geschwindigkeit gewinnt, während der andere Zug nichtmal am Gleis angelangt ist. Was zieht die Band aus der Situation? Man müsse seine eigene Kraft nutzen und den Weg in die bessere Zukunft zu Fuß angehen, damit wir unsere Lebensumgebung in die richtige Richtung schubsen können.
Ein umgedrehtes Dreieck ziert zu den Inhalten der Texte passend das Frontcover der Platte. Dieses steht laut der Band symbolisch für die wünschenswerte Hierarchie unserer Gesellschaft: Nicht einige wenige einflussstarke Mitglieder sollen über die Mehrheit bestimmen, sondern andersherum. Die Macht den Vielen! Diese Pyramide steht in einem von Sonnenstrahlen durchzogenen Wald – die Aufbruchsstimmung , die damit vermittelt wird, zieht sich auch durch den klimaktischen Opener „System…“, der schlussendlich im brachialen „…Meltdown“ mündet, das Dubstep-Ausbrüche mit hymnischen Gesängen kombiniert. Hier zeigt sich, warum auch ein weiterer Aspekt des Artworks absolut die Grundstimmung der Musik wiedergibt:
Die in roten Neonfarben scheinende Triangel ist klar das Hauptaugenmerk. Diese von der Beleuchtung hervorgerufene plastisch-künstliche Stimmung, findet man auf „A Flash Flood Of Colour“ massenweise. Die Gruppe baut immer wieder blubbernde Elektro-Parts in ihre Stücke ein, die meistens klar von den Post-Hardcore-Ausbrüchen und den stets eingängigen Refrains getrennt werden. Da wären die Dance-Parts im chaotischen „Sssnakepit“ oder die Drum & Bass Anteile in „Arguing With Thermometers“ und „Gandhi Mate, Gandhi“. Eine so deutliche Trennung von Core- und Elelectronica-Vergangenheit findet man auf den mittlerweile fünf Langspielern der Trancecore-Vorreiter nur hier.
Die Vocals tragen ebenfalls die Vielschichtigkeit, die sich durch den Sound und das Artwork ziehen, in sich. Spicken die Stücke mal Gang-Shouts oder aggressive Screams, gibt sich Reynolds im Klavier-Outro des bereits erwähnten „Stalemate“ so nahbar, wie erst wieder auf „The Spark“, dem aktuellsten, wohl persönlichstem Album Enter Shikaris. Trotz der Vermischung all dieser verschiedenen Stilelemente und Einflüsse bietet „A Flash Flood Of Colour“ ein von vorne bis hinten schlüssiges Gesamtkonzept, spricht hinzu wichtige Themenbereich an, liefert Denkanstöße und unterhält durch seine Unberechenbarkeit durchgängig. Wenn das mal nicht für einen unangefochtenen Meilenstein spricht?
Christopher erwidert:
Ich habe nun das zweite Mal beim Plattenkrach die Ehre, mich mit einer Band auseinanderzusetzen, von der ich schon wirklich oft gehört habe, aber inhaltlich quasi nichts weiß. Diesmal fällt, dank meines wunderbaren Kollegen Jonas, die Wahl auf Enter Shikari. Ich bin ja ein Fan von Ehrlichkeit und Authentizität und beweise direkt zu anfangs meine Unwissenheit: Ich dachte bis zu dem Moment, als das Album das erste Mal nun bei mir lief, dass Enter Shikari eine dieser unfassbar ätzenden J-Rock-Bands wären. Anscheinend habe ich mal von irgendeiner anderen Band in dem Genre gehört, mir den Namen nicht gemerkt und dann komische Verbindungen hergestellt. Jedenfalls war das ein ausschlaggebender Grund, weswegen ich mir Enter Shikari nie zu Gemüte geführt habe und immer dachte: „Warum mag Jonas sowas?“. Das mal kurz, um einen möglichst passenden Rahmen für diese Rezension zu finden.
„A Flash Flood Of Colour“ ist also das erste Album dieser Nicht-J-Rock-Band, das ich hören darf und es beginnt mit einer wundervollen Überraschung: ist gar kein J-Rock, sondern Eurodance! Gleicher Gedanke in meinem Kopf: „Seit wann hört Jonas sowas?“. Eigentlich sind die 90s eher mein Ding. Umso verwirrter war ich, dass ich dieses Fragment meines Lieblingsjahrzehnts nicht kannte. Das Intro namens „System…“ klingt wirklich sehr old school, fast schon trashig mit seinen Synthie-Strings-Sounds. Spätestens aber 40 Sekunden nach dem Starten ist dann vorbei mit Eurodance und es geht straight in den Rockbereich. Hier kommen gleich zwei Stilelemente zutage, die sich durch die gesamten 42 Minuten Musik ziehen, die noch anstehen: Breaks, die den Song sofort in eine andere Richtung treiben und ein extremer britischer Akzent.
Beides gar nicht mal so schlechte Merkmale. Besonders die ständigen Wechsel im Tempo und auch im Rhythmus machen Laune und sorgen für Abwechslung, sodass nicht alles sofort nach einer Minute durchschaubar ist. Stattdessen darf sich für die eine oder andere Nummer etwas Zeit genommen werden, bis man sie überhaupt gut greifen kann. Und trotzdem klingen Enter Shikari in Teilen richtig mainstreamig. „…Meltdown“ zeigt die Kombination aus den eben beschriebenen Auffälligkeiten und legt eine Mitsinghook oben drauf – ein ständiges „It’s not too late“ ist schwer aus dem Kopf zu bekommen. Mit Ohrwürmern hatte ich tatsächlich so gar nicht gerechnet.
Gesangstechnisch wandelt die Stimme von Rou zwischen Sprechparts, Raps, emotionalen Gesangsstellen und Shouting. Auch das gefällt mir. Dabei fühle ich mich einige Male an die wirklich guten Anfangszeiten von Linkin Park erinnert. Hier könnte auch gut so manches auf „Meteora“ oder „Hybrid Theory“ gepasst haben. Auch ein wenig Fall Out Boy kommt in meinen Ohren durch. Bei „Arguing with Thermometers“ (was ein Titel – musikalisch aber mein Favorit) plöppt dann P.O.D. in mir auf, aber auch nur ganz kurz. Dann gibt’s nämlich sogar leichtes Growling. Anscheinend ist das Album eine große Collage aus vielen erfolgreichen Elementen und wirft einfach alles, was gefällt, in einen großen Topf. Kann man ja mal machen.
Bevor die Leser hier nun aber denken: „Wasn das fürn Plattenkrach? Der findet das ja auch voll gut“ – nein, so ist es dann leider doch nicht. Ich muss wirklich zugeben, dass ich mit Teilen des Albums – ganz besonders mit dem Einstieg – einiges anfangen kann, aber dann ab der Mitte irgendwie gelangweilt bin. Natürlich ist das nicht wirklich langweilig produziert, es passiert ja ständig was – der Überraschungseffekt, der für mich aber hier ganz bedeutend ist, ist dann doch irgendwann aufgebraucht. Dadurch fängt mich der Sound an, etwas zu stressen. Das gesunde Mittelmaß sehe ich in „Warm Smiles Do Not Make You Welcome Here“, dass sich mehr auf eine stringente Linie konzentriert, aber trotzdem einen richtig fetten Electrolauf abfeuert – bis dann ab der vierten Minute die Jungs anscheinend wieder dachten „Nee, da fehlen noch vier andere Songs, die wir in die kommenden 90 Sekunden packen müssen“. Besonders große Negativbeispiele: „Search Party“ schleppt sich für mich zu stark, ich möchte es gerne vorspulen. Außerdem driften manche Hooks irgendwie Richtung Stadiongegröhle. Nicht so meins. Ganz schlimm finde ich „Stalemate“, dabei bin ich für Balladen immer zu haben. Dennoch ist das so unfassbar kitschig, dass ich den Song nie mehr hören möchte. Kennt ihr Good Charlotte oder Simple Plan? You know what I mean.
Trotzdem sind Enter Shikari zum Glück keine völlig peinliche J-Rock-Band. Das hätte ich auch keine dreimal komplett hören können. Stattdessen stellen sie für mich eine etwas elektronischere und leichtere, aber auch nicht so mitreißende Variante von System of a Down dar. Die kann ich ebenso gerne zwischendrin mal hören – nach drei Songs ist dann aber auch gut. Okayes Album. Und ich weiß wieder, warum Jonas das mag.
Das Album “A Flash Flood Of Colour” kannst du dir hier kaufen.*
Tickets für die kommende Tour gibt es hier.*
Mehr Plattenkrach: Hate it or love it – was für den einen ein lebensveränderndes Monumentalwerk ist, ist für die andere nur einen Stirnrunzler wert! Ein Album, zwei Autor*innen, ein Artikel, zwei Meinungen! Mehr Auseinandersetzungen findest du hier.
Und so hört sich das an:
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Enter Shikari live 2019:
02.04. – München, Neue Theaterfabrik
03.04. – Linz, Posthof (AU)
07.04. – Dresden, Alter Schlachthof
08.04. – Berlin, Huxleys Neue Welt
09.04. – Leipzig, Conne Island
11.04. – Erlangen, E-Werk
12.04. – Dortmund, FZW (ausverkauft!)
13.04. – Köln, Live Music Hall (ausverkauft!)
15.04. – Wiesbaden, Schlachthof
16.04. – Saarbrücke, Garage
Die Rechte für das Albumcover liegen bei Play It Again Sam.
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