Plötzlich ist sie wieder omnipräsent. Der Ruf nach mehr, der Akt der gespielten Überraschung, das Obligatorische. Oder auch: Die Zugabe. Der Frühsommer 2022 nämlich, der stellt für die Veranstaltungsindustrie eine Rückkehr zum – zumindest oberflächlichen – Normalbetrieb dar. Und so kommt es eben wieder häufiger vor, dass durch schummrige Keller, durch ausrangierte Industriehallen, über karge Freiflächen der Ruf nach dem bisschen Zusatz schallt. Dieser Ruf nach der Überdosis Musik, der ergreift gleichsam auch die Festivals des Sommers: ein Umstand, der weniger typisch erscheint als das alte Zugabenspiel am Ende der meisten Konzerte. Das Splash etwa findet erstmals über zwei Wochenenden statt und auch das Münsteraner Vainstream Rockfest setzt der Ein-Tages-Edition Ende Juni ebenfalls eine Woche später einen zweiten Tag hinterher. So treffen am ersten Juli-Wochenende auf dem Hawerkamp-Gelände nationale und internationale Musiker (und einige wenige FLINTA-Personen) aus Punk, härterem Rock und (Post-)Hardcore zusammen, um das 15-jährige Jubiläum der Veranstaltung zu feiern.
Nachdem das erste Wochenende gewohnterweise ausverkauft war, ist das sonst oft nahezu überfüllt wirkende Gelände heute ausnahmsweise angenehm gefüllt, sodass der abgetrennte Bereich vor der Bühne immer ohne Probleme zu erreichen ist und sich auch Schlangen an den Essens- und Getränkeständen eher im Pausenlänge und nicht in Konzertlänge halten. Das mag neben den Ticketverkäufen zum Teil daran liegen, dass die Bändchenausgabe diesjährig erstmals in die Halle Münsterland und Teile des Essensangebot an die Stelle der alten Einlässe verlegt wurden. So lässt es sich bei Desinteresse an der Musikdauerbeschallung von den zwei benachbarten Hauptbühnen nicht nur am Coconut Beach in Pool oder Sand zu Szeneklassikern feiern, sondern auch an der neuen Essensmeile bei veganen Burgern oder Hotdogs im Schatten entspannen. Diese Sonnenpausen jedenfalls sind dringend nötig, denn das Vainstream wird mal wieder von typischem Extremwetter heimgesucht: Den ganzen Tag lacht die Sonne auf die doch schattenarme Asphaltfläche vor den Bühnen hinab, sodass Wasser und Sonnencreme – oder eben Fleckchen an anderen Stellen des Geländes – unerlässliche Unterstützung liefern.
Im Kontrast zur vorwöchigen Ausgabe wird die Jubiläumszugabe jedoch von einigen Ausfällen geplagt. Wenige Tage vorher müssen Ghostkid wegen Covid-Fällen in der Crew absagen und pandemiebedingt bleiben auch einige für später angesetzte Ankündigungen aus. So sind es schlussendlich nur drei statt wie anfangs angekündigt vier Headliner – es munkelt A Day To Remember, die vor wenigen Wochen erst ihre Tour abgebrochen haben, hätten eigentlich gespielt – und insgesamt 21 Acts statt 28 wie in Ausgabe 1. Dementsprechend beginnt der Tag nicht bereits mit gewohntem Frühsport vor zehn Uhr, sondern erst um halb zwölf. Typisch Hardcore-lastig ist der Einstieg in den Tag dennoch (Highlight: Die vierzig Minuten progressives Knüppelchaos bei Knocked Loose), bevor gerade das Mittagshauptprogramm viel der Post-Sparte abdeckt. Jeremy Bolm von Touché Amoré etwa ist merklich froh wieder eine textsichere Menge vor sich zu haben, auch wenn seine Band noch immer am besten in Clubs ohne meterweite Barriere zwischen Musikern und Crowd funktioniert. Die oft melodischeren Chorusse der 2020er-Platte „Lament“ jedoch passen perfekt auf die große Bühne, vor der dann passenderweise auch Fäuste in die Luft schießen. Zu der knappen Spielzeit wiederum passt das Frühwerk der Band, dessen flotte Songs kurz vor Schluss noch ein vier-Songs-in-zehn-Minuten-Feuerwerk ermöglichen.
Thrice unternehmen im Anschluss gar nicht den Versuch sich zu hetzen und spielen ein ausgewogenes, aber unaufgeregtes Best Of-Set aus Pre- und Post-Hiatus-Material. Dass die Post-Hardcore-Veteranen eigentlich keine typische Festivalband sind, ist mehr als offensichtlich und dennoch ist die Stimmung weder verhalten noch der Auftritt langatmig. Der ausgeglichenen Setlist sei Dank, unter die sich auch ein Cover des Beatles-Klassikers „Helter Skelter“ schleicht. Ein Kontrastprogramm dazu gibt es auf selbiger Bühne später bei dem Hardcore-Hype schlichtweg: Turnstile. Trat das Quintett von der Ostküste der Staaten 2019 und 2016 noch auf der Clubstage in der Sputnikhalle auf, so katapultierte sie der Genresprenger „Glow On“ hoch ins Nachmittagsprogramm der großen Hauptbühnen. Entsprechend euphorisch ist die Stimmung auch auf und vor der Bühne. Sänger Brandan Yates probiert sich an tänzerischer Physischmachung der Musik und Bassist Franz Lyons versucht den Bühnengraben mit intensiven Blicken und Zeigegesten wett zu machen während der erste Wellenbrecher eine große Hardcore-Punk-Party feiert. Dem großen Erfolg entsprechend dominieren die gutlaunigen „Glow On“-Stücke das Set, doch auch eine knappe Handvoll Songs der drei Erstlingswerke spielt die Band. Nach dem letztjährigen Erfolg und den etlichen Hochverlegungen von Shows machte sich die Erwartung breit, eine Turnstile-Show würde nur in Clubs funktionieren, der Auftritt der Band jedoch wiederlegt diese These und zeigt: Turnstile funktionieren auch auf den großen Bühnen, mit Barrier, dafür ohne Stagedives.
Doch gut ist die Stimmung nicht nur hier. Vor Turnstile spielen Madsen aka „die Band mit den Melodien heute“ ein hitlastiges Set. Auch wenn der Großteil des Materials schon einige Jahre auf dem Buckel hat und viele der Ansagen und Showelemente mittlerweile mehr Madsen-Standardrepertoire denn Highlight sind, so funktionieren Songs wie „Du Schreibst Geschichte“ oder „Lass Die Musik An“ selbst im Jahr 2022 noch. Ähnliche Nostalgie kommt auch bei Alligatoah auf, der als obligatorischer Rap-Act mit 2014-Throwbacks umherwirft als sei Ausverkauf und trotzdem ordentlich Leute zieht. Als Abschluss gibt es danach noch stimmungsvolle Auftritte von Bullet For My Valentine sowie den Broilers (und Nachtprogramm in der immer-vollen Sputnikhalle). Die nächste Zugabe aber gibt es erst im nächsten Jahr. Da findet das Vainstream am 24.06. statt.
Mehr Vainstream gibt es hier.
Und so sah das die Woche davor aus:
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Foto von Jonas Horn: Turnstile.
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