Starten wir mit einem Disclaimer: Ich habe noch nie ein Konzert von Die Kassierer besucht. Ich kann generell wenig bis nichts mit Punk anfangen. Ich dachte bis zum 27.1.23, dass ich womöglich gar keinen Song der Band kenne. Aber ich mag eben Konzerte und noch mehr den Versuch, meinen Horizont zu erweitern.
Diese Infos vorab sind nicht unwichtig, um den Bericht besser nachempfinden zu können. Natürlich sind Konzertberichte sowieso grundsätzlich immer ein Stück weit ein subjektives Empfinden. Einiges ist Fakt, vieles aber eben Geschmack. Dass der Autor des Textes überhaupt auf diesem Konzert landet, hat eigentlich zwei Gründe. Einerseits wird über diese sagenumwobene Band aus Bochum-Wattenscheid einfach verdammt viel erzählt. Irgendwann wird der Wunsch als Pottkind dann doch stärker, mal selbst herauszufinden, was bei diesem, nennen wir es Neudeutsch “Gathering” oder “Happening” passiert. Andererseits ist es aber ja doch ein kleiner Selbstversuch, aus der eigenen Bubble herauszutreten und sich in andere Nischen vorzuwagen.
Am letzten ersten Freitag im Monat im Jahr 2023 ist das Publikum in der ausverkauften Kulturfabrik in Krefeld alles andere als unvorbereitet. Hier scheinen nahezu alle Besucher*innen eine sehr genaue Vorstellung davon zu haben, was passieren wird, passieren könnte, passieren muss. Ein Großteil trägt Bandshirts, immerhin hatte man nun fast 38 Jahre Zeit, etwas von dem Quartett mitzubekommen. Eigentlich wollten Die Kassierer schon 2020 ihr 35-Jähriges groß feiern. Aus offensichtlichen Gründen hat das nicht ganz funktioniert, sodass das Konzert in Krefeld noch ein Relikt der mehrmals verschobenen Shows darstellt. Single-Frauen, die (auch) an Männern interessiert sind, sollten – solange sie der Musik, vielmehr der Zielgruppe nicht ganz abgeneigt sind – schon jetzt ein Ticket für das nächste Konzert der Band kaufen. Weiblich gelesene Personen findet man nämlich bei dem Gig nur im zweistelligen Bereich, was bei einer ausverkauften Halle, in der 1000 Menschen hineinpassen, doch sehr, sehr überschaubar ist. Aufmerksamkeit auf sich ziehen? Eine sichere Bank. Homo-Dating-Apps für Männer sind hingegen an diesem Abend wenig interessant, weiß der Autor aus eigener Erfahrung, ist er nämlich der Einzige, der sie in dieser Runde offensichtlich nutzt.
Testosteron im Überschuss, Bier im Überfluss. Das flüssige Gold ist Dreh- und Angelpunkt. Schon vor dem Eingang werden Rülpser nicht unterdrückt, sondern voller Selbstüberzeugung in die Welt posaunt. In den kommenden Stunden ist alles ein wenig anarchisch. Nicht aggressiv, nur eben kaum an Moral und Werte gebunden. Das Konzept zieht sich von vorne bis hinten durch und ist letztendlich auch gar nicht so eindimensional, wie es zuerst scheint.
Schon rund 15 Minuten vor dem offiziellen Beginn startet um 19:45 Uhr Livemusik. Schockromantik, ebenfalls aus dem Ruhrgebiet und nur wenige Kilometer von dem Hauptact entfernt beheimatet, nämlich in Essen, sind irgendwo zwischen Punk, Rock und Metalcore unterwegs und machen eine gute Grundstimmung. Eine ganze Stunde lang heizt das Trio mit Songs über Bier, das sich aufgedruckt auch auf ihren stilechten Showanzügen befindet, und ihre Heimat ein und sorgt sogar fürs erste Crowdsurfing und den ersten Circle Pit. Zwischendrin wird ein wenig “Hurra” von Die Ärzte eingestreut oder der 90s-Classic “Around the World” von ATC gesampelt, alles handwerklich völlig in Ordnung und mit genug Ironie in den Lyrics präsentiert. Mit 60 Minuten doch um ein paar Songs zu lang, aber passt.
Genug Spannungsbogen. Innerlich wird man unruhig, wann startet endlich das langersehnte Event von Die Kassierer? Gute 20 Minuten Umbaupause genügen, um mit dem eigentlichen Programm anfangen zu können – und das verspricht schon in den ersten wenigen Sekunden Großes. “Hier spricht die Pimmelpolizei” wird mehrere Male ins Mikrofon gerufen. Es dröhnt aus den Boxen. Und wie es sich für eine Pimmelpolizei gehört, trägt sie ein unmissverständliches, klassisches Polizeigewand in Grün, aber nur obenrum. Untenrum gibt es einen blanken Pimmel. Der 60-jährige Frontmann Wolfgang Wendland, genannt Wölfi, setzt direkt klare Statements. Die Kassierer sind da. Unvergleichlich, unverwechselbar.
Dann dauert es noch einige Minuten, bis schließlich die gesamte Band auf die Bühne tritt und lauthals begrüßt wird. Die Stimmung ist durch Bier angeheizt, die aufgedrehten Heizungen sorgen dafür, dass auch vor der Bühne mehrfach Shirt- und Pullihüllen fallengelassen werden. Dann wird 85 Minuten ein Querschnitt aus eben all den vielen Jahren Bandgeschichte vorgestellt. Ist es ein Best of oder sind es die Greatest Shits? Dröseln wir das ein wenig auf:
Als Instrumentalisten sind Die Kassierer eine noch akzeptable Band. Besonders Volker an den Drums spielt einige echt starke Soli und hält die Truppe zusammen, stets untermalt von einem breiten, psychotisch wirkenden Grinsen. In einem Block setzt er sich gar an eine Jazzgitarre und spielt ein cooles Solo – ebenfalls mit heruntergelassener Hose. Die Pimmelpolizei hat ja nicht schon nach wenigen Minuten Feierabend. Mitch Maestro am Bass und Nikolaj Sonnenscheiße an der Gitarre sind mit Volker zwar nicht immer on time, aber früher oder später findet man sich doch wieder. Schließlich ist das hier Punk, da ist das Konzert die Probe. Man spielt auch erst 38 Jahre zusammen, da kann nicht immer alles glatt laufen.
Wölfi am Hauptmikrofon greift zwar zu keinem Instrument, dafür aber mehrfach zu Papier. Einige Songtexte werden abgelesen. Zwischenzeitlich verpasst man Einsätze, hält das Mikrofon nicht richtig an den Mund, vertut sich mal in den Strophen, vertut sich nahezu immer in den vier bis fünf unterschiedlich hohen Tönen oder man braucht auch mal einige Takte Verschnaufpause. Wäre man nun auf einem Popkonzert, bei dem 2023 100 Euro fast schon als Standardpreis durchgeht, würde es Buhrufe hageln. Beschwerden gingen per Mail oder auf sozialen Netzwerken in den Kommentarspalten heraus. Hier wird aber seitens der Ticketkäufer*innen alles so abgefeiert, als ob Harry Styles sexy mit der Hüfte geschwungen hätte.
Die Kassierer verfolgen ein Konzept. Perfektionismus ist ein Fremdwort, durchgeplante Performance absolut overrated. Stattdessen folgt Song auf Song, immer – und das verdient nun besondere Betonung – mit einer wortgewandten, klugen Ansprache durch Wölfi. Es wird gegendert, es wird sich gegen Rassismus und Sexismus ausgesprochen, es wird sogar gesiezt. Jede*r im Publikum mit ein wenig gesprächsanalytischen Fähigkeiten versteht auf Anhieb, dass viel mehr Kabarett auf der Bühne geschieht als Konzert. Satire statt Ernsthaftigkeit, mit drei, vier, fünf Augenzwinkern, politisch korrekter, weil überspitzt inkorrekter Haltung, viel Sympathie, Ironie und oft sogar mit intellektueller Aussage zwischen den Zeilen. Ein Gegenentwurf zu größer, schneller, weiter, besser. Ein Mittelfinger gen Gefallen-Wollen.
Natürlich haben “Das Schlimmste ist, wenn das Bier alle ist”, “Blumenkohl am Pillemann” oder “Ich töte meinen Nachbarn und verprügel seine Leiche” nicht die literarische Durchschlagskraft eines “Erlkönigs”, aber wollen sie auch nicht. Es geht viel mehr darum aus “Das sagt man doch nicht” ein “Man sagt alles” zu machen, Grenzen aufzubrechen, durch völlige Absurdität eine*n zum Lachen zu bringen. Bei Songzeilen wie “Ich möchte gerne mit deinem Gesicht meinen Arsch abwischen” muss man zugeben, dass man sie schon einige Male in unterschiedlichen Kontexten selbst gefühlt hat. Über “Mein Glied ist zu groß, du bist zu eng für mich” – Ein Song, den der Autor übrigens doch bereits Ewigkeiten kennt, genauso den Hit (??) “Mach die Titten frei, ich will wichsen” – kann zwar nicht jede*r lachen, aber gleichzeitig sollte es auch niemand ernst nehmen. Die Kassierer haben sich mit der Materie beschäftigt, wirken zwar äußerst skurril, ein wenig trottelig und auf manche vielleicht eine Spur asi, aber Satire ist nur dann gut, wenn sie die musikalischen wie politischen Vorlagen versteht und irgendwo auch huldigt. Nur dann funktioniert der Twist. Siehe die Zugabe “Stinkmösenpolka”, die sich direkt im Anschluss mit einer “Fischpimmelpolka” selbst torpediert.
Wie stark ein Konzert trägt, bei dem die Musik äußerst bananig und mit wenig Anspruch ans handwerkliche Können daherkommt, ist eine super individuelle Betrachtung. Hat man am Ende das Gefühl, gute Songs gehört zu haben? Nein. Ist das leicht konsumierbar? Nein. Hat man das Gefühl, unterhalten worden zu sein? Auf jeden Fall. Es bleibt ein Faszinosum, dass eine Band aus dem Pott kein einziges Mal die deutschen Charts gesehen hat, trotzdem seit fast vier Dekaden Konzerte ausverkauft, auf sämtlichen Genrefestivals eingeladen wird und einfach der größte Underground- bzw. Nicht-Geheimtipp-Act darstellt. Ihr Publikum gibt jedenfalls dem klaren, unverkennbaren und einzigartigen Profil Recht.
Und so hört sich das an:
Foto von Christopher
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