„Ich bin Shitney Beers und das wird sehr unangenehm für euch.” Unwahrer könnte ein Satz nicht sein, der einen Abend wie diesen einläutet. Denn Die Nerven haben in das tief in den nördlichen Ausläufern der Schäl Sich schlummernde Gebäude 9 geladen. Der Anlass ist, das ist kein Geheimnis, das monumentale „schwarze Album” der Band, das in der Vorwoche erst die Printpresse, dann Blogs, später den Feuilleton in hibbelige Aufruhr versetzte. Ausverkauft war der Club da bereits, lange vor dem in Wörter gestanzten Hype. Die Gästeliste daher ist lang: Viele Menschen aus der Medienstadt Köln möchten teilhaben, mal ein Auge auf das Phänomen Die Nerven werfen. Ja, einmal in den Genuss der körperlichen Erfahrung eines Konzertes von Knoth, Kuhn und Rieger kommen.
Doch zurück zu Shitney Beers. Hinter dem Namen verbirgt sich Maxi Haug, Musiker*in aus Mannheim und heute gemeinsam mit ihrer regenbogen-gurtigen Fender Stratocaster Voract. Was Haug noch vor dem ersten Song ankündigt – das vorausgestellte Zitat – jedenfalls wird nur für ein paar ältere Herrschaften im vorderen Clubbereich wahr, die mit nervtötendem Gelaber immer und immer wieder ihre herrlich-unverblümten Seelenstripteases unterbrechen. „Schnauze hier vorne”, sagt Shitney Beers mehrfach zwischen den Zeilen ohne auch nur einmal wirklich genau diese Worte in den Mund zu nehmen. Dafür nämlich ist Haug viel zu charmant und lieb. Die Grauhaarer jedoch ignorieren all diese Anstrengungen mit Bravour. Alle anderen können Beers umwerfend ehrliches Gemüt als Genuss erleben, sich – gerne minutenlang – über spontane Mikrofon-Rülpser beackern und melancholischen Songs lauschen von Ex-Freundinnen handelnd und „übers Furzen”. Im Dezember erscheint ihr zweites Album, es heißt „This Is Pop” und ist vermutlich genau das Gegenteil. Vorher aber noch wird Shitney Beers auf Tour mit Die Nerven wohl den ein oder anderen alten, weißen Mann zurechtweisen – und in „zurechtweisen“ steckt nicht ohne Grund auch ein „zurecht“.
Herausfordernd sind auch Die Nerven, die ihre Mikrofone und Instrumente gewohnt eng gruppieren. Die erste halbe Stunde zunächst trügt. Auf den Bühnenmarsch zu Beethovens Europahymne folgt gleich die „Europa“-Hymne der Die Nerven. Es schließt sich das erste Drittel des noch ofenwarmen „schwarzen Albums“ an. Es knistert in der Luft, ganz in Euphorie entladen möchte sich diese Spannung jedoch noch nicht. Dafür braucht es einen kleinen Ausflug in die Vergangenheit, „Barfuss durch die Scherben“. Und dann die einst größte Hymne, angeleitet von Knoth, der heute fantastisch klingt und spielt: „Niemals“ klang das besser. Der Knoten jedenfalls ist geplatzt. Besonders eruptiv dann ist „15 Sekunden“. Vorne toben Menschenkörper, hinten nicken Menschenköpfe.
Nach diesem doch ungewöhnlich gradlinigen Einstieg, beginnt die Band all jene Gewohnheiten zu testen, die sich in Zeiten von immer-verfügbaren Videokonferenzen und Dauerbeschallung als charakterlich für die 20er-Jahre abzeichnen. Den eigentlich simplen Tempowechsel von „Der Erde gleich“ strecken die Drei auf gefühlte Stunden. Geduldsfäden werden gezogen, immer weiter, Richtung Abriss. Dann irgendwann entlässt Kuhn die Anwesenden, vier simple Schläge, in schneller Abfolge. Abfahrt. Später pausiert die Band. Kuhn macht die eindeutige Geste: Ruhe. Diesmal schweigen selbst die Herren am Rand. Es geht erst weiter nach einigen Momenten absoluter Stille. Ekstase, Haare im Luftflug (außer die von Rieger, der hat seine im Zopf gebunden). „Der letzte Tanzende“ wiederum ist heute kein Zweiminüter, sondern mehr (auch Black-Metal, wenn das in den Moment passt).
Nach einer Stunde schreitet die Band erstmals von der Bühne. Zwei Songs später erneut. Die Klammer schließt dann im zweiten Zugabenblock „180 Grad“, nachdenklich wird die Stimmung, erhaben die Musik. Derart melodisch und doch intensiv erklang bislang noch keines der Stücke an diesem Abend. „Der Anfang vom Ende“, presst Rieger hervor. Und tatsächlich: Als die finale Melodielinie der Gitarre schlussendlich im Applaus verlorengeht, fällt ein Stück Anspannung ab. Groß war das. Befreiend.
Mehr Die Nerven gibt es hier. Hier gibt es ein Interview mit Schlagzeuger Kevin Kuhn zum “schwarzen Album”.
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Und so hört sich das an:
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Die Nerven live 2022:
19.10. ROSTOCK, MAU CLUB
20.10. MAGDEBURG, MORITZHOF
21.10. BERLIN, HUXLEYS
23.10. DRESDEN, GROOVESTATION
26.10. BREMEN, TOWER
27.10. HANNOVER, BEI CHEZ HEINZ
28.10. FLENSBURG, VOLKSBAD
02.11. AUGSBURG, KANTINE
03.11. ERLANGEN, E-WERK
04.11. CHEMNITZ, ATOMINO
05.11. LEIPZIG, CONNE ISLAND
09.11. MARBURG, KFZ
10.11. MANNHEIM, FORUM
11.11. BASEL, KASERNE (CH)
12.11. ZÜRICH, BOGEN F (CH)
13.11. FREIBURG, WALDSEE
14.11. WIESBADEN, SCHLACHTHOF
15.11. STUTTGART, LKA
16.11. ULM, ROXY
17.11. MÜNCHEN, BACKSTAGE
22.11. REGENSBURG, ALTE MÄLZEREI
23.11. WIEN, GRELLE FORELLE (AU)
24.11. SALZBURG, ARGE (AU)
26.11. KOBLENZ, CIRCUS MAXIMUS
29.11. HAMBURG, UEBEL & GEFÄHRLICH
30.11. MÜNSTER, GLEIS22
01.12. GRONINGEN, VERA (NL)
02.12. AMSTERDAM, MELKWEG (NL)
03.12. ROTTERDAM, V11 (NL)
04.12. ARNHEIM, LUXOR LIVE (NL)
08.12. COPENHAGEN, LOPPEN (DK)
Foto von Jonas Horn.
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