Ein von Kopf bis Fuß tätowierter Rotschopf steht auf der Bühne der tunnelförmigen Bochumer Matrix Tube. Er umklammert in sich gesunken das Mikrofon. Die Worte, die aus seinem Mund sprießen, werden heute etwas bewegen. Bei dem so hart aussehenden, gelegentlich sogar angsteinflössenden Kerl handelt es sich um Frank Carter – Sänger und Namensgeber von Frank Carter & The Rattlesnakes und ehemaliger Gallows-Frontmann. Der 34-Jährige Brite spricht über Angstzustände und Depressionen, generell psychische Probleme. Er spricht darüber, wie er all diese Scheiße in den vergangenen zwei Jahren selbst am eigenen Leib erleben musste. Er spricht darüber, wie ihm vor allem Gespräche mit Freunden, die nicht mehr taten als zuzuhören, halfen. Gerade möchte Carter darauf eingehen, dass vor allem Männer in unserer Gesellschaft dazu neigen, ihre eigenen Gefühle und Ängste für sich zu behalten. Er möchte darauf hinweisen, dass das ein Problem ist, da die häufigste Ursache für das Ableben von Männern unter 45 neben gesundheitlichen Gründen Selbstmord ist, als ein Idiot aus den ersten Reihen ihn unterbricht: Der Ruhestörer findet es lustig zu behaupten, dass die häufigste Ursache doch sei, dass diese Menschen keinen Spaß hätten. Carter kann darüber überhaupt nicht lachen. Die knapp 600 restlichen Personen im Raum sind mucksmäuschenstill.
Der Sänger händelt die Situation souverän, wird noch emotionaler als er dem verständnislosen Fan erklärt, er selber habe für solche Einwürfe keinen Lacher über, er selber habe damals bereits vorgehabt sich umzubringen – sein Bandkollege Dean Richardson sei die Person gewesen, die ihn im richtigen Moment zum Reden gebracht und ihm damit das leben gerettet hätte. Während er all dies erzählt, steht Carter selber kurz davor in Tränen auszubrechen. Dem Rest des Saals, selbst dem Unruhestifter hat es die Sprache verschlagen. Die Band spielt daraufhin den Song „Anxiety“, die zweite Single des im nächsten Monat erscheinenden dritten Frank Carter & The Rattlesnakes-Albums „End Of Suffering“. Die Platte, die man auf der Clubtour vor Veröffentlichung eigentlich promoten will, thematisiert genau die zuvor angesprochenen Gefühlszustände. Trotz des konventionellen Rahmens fühlt sich die ganze Veranstaltung kaum wie ein Werbeevent an. Vielmehr regt der Abend immer wieder zum Reflektieren gesellschaftlicher Missstände sowie eigener Fehler an.
Bereits einige Minuten zuvor bietet der rotschopfige Frontmann während des neuen Stücks „Heartbreaker“ allen Frauen im Raum einen Safe-Space, um in sicherer Umgebung erste Crowdsurf-Erfahrungen zu sammeln oder bereits angehäufte in einen positiveren Kontext zu setzen. Die Männer halten sich währenddessen zurück, tragen dutzende weibliche Fans durch die Halle. Im zweiten Teil des Songs bildet sich in der Mitte unter Anleitung Carters ein friedlicher Frauen-Moshpit. Hat es das immer noch unterdrückte Geschlecht in unserer Gesellschaft und auch auf (Hardcore-) Konzerten häufig nicht leicht, so versucht Frank Carter all diese Ungleichgewichte auf seinen Shows auszugleichen und jedem das Gefühl zu geben frei handeln zu können ohne dabei bedrängt oder unterdrückt zu werden. Bereits vor Konzertbeginn stehen zwei junge Frauen auf der Bühne und dürfen dem bereits gut gefüllten Saal beweisen, was ihn ihnen steckt: The Pearl Harts aus London kommen mit ihrem Sound zwischen Blues und Garage-Punk beim Publikum gut an. Die Rock-Szene wird leider ebenfalls immer noch vor allem von Männern dominiert. Dass auch hier talentierten Frauen eine Bühne geboten wird, ist also nur löblich!
Neben den vielen ernsteren Themen geben sich Frank Carter und seine Klapperschlangen voll und ganz als Entertainer. Neben dem obligatorischen Head-Walk Carters, genießt auch Gitarrist Dean Richardson auf der Menge stehend die tolle Aussicht über die volle Halle. Der Frontmann kümmert sich als Garderobenersatz außerdem um auf die Bühne geworfene Kleidungsstücke, schießt selber zwischendurch ab und an mit einer analogen Kamera Fotos von sich, seinen Kollegen und der Menge und animiert sein Publikum dazu für einen Fan, der für sieben Konzerte mittourte, ein Geburtstagsständchen anzustimmen. Am Ende steht Frank Carter zufrieden vor seinen Fans und sagt, er wäre überglücklich noch am Leben zu sein, um einen solchen Abend erleben zu können. Wir sind ebenfalls froh einen Musiker gefunden zu haben, der sich – ganz fernab der einzigartig ehrlichen Musik – gegen Ungerechtigkeiten einsetzt und wichtige Themen nicht unausgesprochen lässt. Danke Frank!
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Foto von Jonas Horn.
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