„Wurden Sie gezwungen?“. Interessante Fragen, die dem 30-jährigen Autor des Artikels am Eingang der Live Music Hall in Köln am 20.11.19 gestellt werden. Offensichtlich gehört man in dem Alter nicht mehr zur Zielgruppe. Es herrscht tatsächlich strenge Ausweiskontrolle. Zu junge Fans dürfen die Halle nicht betreten. Dabei ist das anstehende Juju-Konzert restlos ausverkauft. Die im Frühjahr stattfindende Bonustour bereits auch.
Juju hat sich, wie sie es selbst in einem ihrer Songs beschreibt, innerhalb von drei Jahren von „der Prollhure zur Goldgrube“ gekämpft und gilt gegenwärtig als größtes weibliches Raptalent in deutschen Regionen. Angefangen in der Undergroundszene Berlins im Alter von 14, gab es mit dem von ihr und ihrer Kollegin Nura gegründeten Duo SXTN einen Kometenaufstieg. Das außergewöhnliche Konzept, zwei Mädels mit internationalen Wurzeln Hip-Hop mit derben Lyrics auf Deutsch abfeuern zu lassen, ging blendend auf. Eine EP, die erste Beachtung herbeiführte und ein Debütalbum, das Goldstatus erreichte inklusive einer Goldsingle. Doch Erfolg ist bekanntlich nicht die einzige Komponente, die zählt. Nach ein paar weiteren Features – zuletzt durfte Schwesta Ewa die Ladies einladen – wurde die Trennung bekanntgegeben. Zu große künstlerische und mittlerweile auch persönliche Diskrepanzen. Sehr schade.
Im Nachhinein betrachtet ist das gar nicht so verwunderlich. Nura legte bereits im April ’19 ihr erstes eigenes Album vor und wanderte mehr Richtung Schickimicki-R’n’B-Püppi. Weniger Rap, mehr Gesang und leider nahezu kaum Qualität. Trotzdem kommt sie gut an und hat vor einigen Monaten ihre Tour hinter sich gebracht, die uns allerdings so gar nicht gefiel (lest HIER nochmal den Bericht vom Dortmund-Gig). Jetzt ist Juju an der Reihe. In Sachen „Chartsplatzierung“ hat Juju Nura längst abgehängt. Ihr Debüt-Longplayer „Bling Bling“ erreichte Platz 3, die Single „Vermissen“ dank Henning May (AnnenMayKantereit)-Feature sogar Platz 1 und Platin. 1:0, kann man sagen.
Und live? Wenig überraschend steht es nach dem Konzertbesuch 2:0. Juju tritt an ihrem 27. Geburtstag in Köln auf und bringt knackige 75 Minuten lang die Sold Out-Hütte zum Überkochen. Mit im Gepäck: Hava, die vorab für chillige Beats sorgt und mit ihrer Stimme eine angenehme Kombination aus Gesang und Raplines liefert, verpackt in den momentan allgegenwärtigen, entspannten Black-Sound. Kommt gut an. Doch Juju hat keinen Bock auf Lean Back. Juju will Eskalation. Die folgt daraufhin auch.
Die Setlist ist mit 21 Tracks kaum verbesserungswürdig. Das komplette „Bling Bling“-Album, zwei Songs davon gleich doppelt, ihr Duett „Melodien“ mit Capital Bra vom Band und gleich sechs SXTN-Classics. Trotzdem kommt sie nicht über die Spielzeit von eineinviertel Stunde hinaus, sind sämtliche Titel ausgenommen ihrer Albumlieder nämlich verkürzt. Dafür ist ordentlich Stimmung in der Bude und Juju dank Geburtstag und bequemem Trainingsanzug auch richtig gut gelohnt.
Man merkt einfach, dass sie wirklich Bock hat. Juju will nicht groß labern, Juju will rappen. Zwar kommen sämtliche Gesangsteile vom Band und hin und wieder gelingen ihre Doubletimeparts nicht 100% – aber wenn sie im Flow ist, geht sie derbe ab und weiß zu begeistern. Nahezu jeder Titel hat Hitpotenzial und zeigt, dass die deutsche Rapszene nicht nur aus Peinlichkeiten besteht, sondern erfolgreich UND qualitativ gut sein kann. Direkt mit „Coco Chanel“ als Einstieg beweist sich die Crowd als textsicher. Highlights sind der Top 20-Song „Hardcore High“, laute Fanchöre bei „Vermissen“ und ganz besonders die spontane Unterstützung einer Zuschauerin, die das anspruchsvolle und kongeniale „Intro“ fast im Alleingang meistert. Das scheint auch Juju gehörig anzumachen, gibt sie ihr mehrmals Applaus und nimmt sie herzlich in den Arm.
Die Bühne ist schick, aber nicht außergewöhnlich. Zwei große Skorpione, die auch das Album zieren, an den Seiten, dazwischen die vier Letter ihres Namens in funkelnden Lichtern und einige Male Konfetti- und Luftschlangenkanonen. Genügt. Bei mehreren Tracks entstehen Moshpits. Die Zuschauer sind größtenteils weiblich und selten über 18. Hier und da schleichen sich aber ältere Besucher dazwischen, die anscheinend wissen, wo sich in der Szene die Spreu vom Weizen trennt.
Wie erwartet schreien sich aber gerade bei den SXTN-Medleys die Fans die Seele aus dem Leib. Zwar wurden die zwei Lieblinge „Er will Sex“ und „Die Fotzen sind wieder da“ nicht eingebaut – dafür aber vier Songs von der EP „Assozialisierungsprogramm“ („Fotzen im Club“, „Wir sind friedlich“, „Made 4 Love“, „Deine Mutter“) und zwei vom Erfolg „Leben am Limit“ („Von Party zu Party“, „Bongzimmer“). Songs, die womöglich zum letzten Mal live zu hören sind, betont Juju mehrmals. Das wäre ein großer Verlust.
Vor den Zugaben wird die Rapperin durch eine große Gruppe überrascht. Mehrere Freunde und Crewmitglieder stürmen mit Wunderkerzen und Kleinigkeiten die Bühne und feiern gute sieben Minuten Judith Wessendorf, wie sie ursprünglich heißt. Juju mag sowas für gewöhnlich nicht, findet es aber trotzdem süß. Zum Abschied raucht sie einen Joint und nennt den Abend den besten Geburtstag, den sie bisher hatte.
Gute Songs, gute Stimmung, sympathische Juju, die ihre Show auf das reduziert, was man will – Musik. Nicht perfekt und qualitativ vielleicht noch ein wenig ausbaufähig, aber auch so schon in der oberen Liga der gegenwärtigen deutschen Acts.
Und so hört sich das an:
Website / Facebook / Instagram / Twitter
Bild von Christopher.
* Affiliate-Link: Du unterstützt minutenmusik über deinen Einkauf. Der Artikel wird für dich dadurch nicht teurer.