Weihnachtsstimmung? Irgendwie ja, irgendwie nein. 2020 ist einfach alles anders. Selbst die letzten Tage im Kalenderjahr verlaufen kaum so, wie wir es gewohnt sind. Der zweite Lockdown verhindert das große Zusammenkommen, Konzerte und Musicals wurden bereits vor zwei Monaten gestoppt – zumindest bei uns. Da jedes Land sein eigenes Süppchen kocht und individuelle Coronamaßnahmen trifft, sieht das in anderen europäischen Staaten anders aus. Schaut man beispielsweise nach Norwegen, wirkt es fast schon verrückt. Dort sind nämlich im Dezember kleinere Gigs möglich, was das wunderbare Trio KEiiNO direkt für sich genutzt hat.
KEiiNO existieren mittlerweile zwei Jahre. Tom, Fred und Alexandra haben sich für den norwegischen Vorentscheid zum Eurovision Song Contest 2019 in Tel Aviv zusammengefunden und innerhalb von Sekunden ganz Europa im Sturm erobert. Bereits Wochen vor der Show waren die Norweger in aller Ohren. Mit ihrem Pop-Brett „Spirit In The Sky“ flogen die äußerst unterschiedlichen Persönlichkeiten zielstrebig Richtung Sieg, den sie letztendlich auch erreichten – zumindest bei den Zuschauer*innen. Die Jurys beim größten Musikwettbewerb der Welt hatten das Feingefühl, das ihr kreativer Euro-Pop inne trug, nicht erkannt und gönnten ihnen einen enttäuschenden 18. Platz. Zum Glück haben aber 182 Millionen Menschen anders zugehört und der Band dank des Telefonvotings immerhin einen tröstlichen Platz 6 beschert.
Anderthalb Jahre nach der Eurovision-Erfahrung scheint das Interesse kaum abgerissen zu sein. KEiiNO ziehen durch. Wo andere wohl kurz nach dem ESC wieder getrennte Wege gegangen wären, gehen Tom, Fred und Alexandra weiterhin einen gemeinsamen. KEiiNO lautet schließlich „Weg“ auf Nordsamisch – auf der Sprache, die einen essenziellen Teil des Bandkonzepts ausmacht. Somit ist gemeinsames Arbeiten eine logische Konsequenz. Fred gehört dem indigenen Minderheitenvolk der Samen an und gibt den fast schon unverschämt eingängigen Stompern mit seinem gutturalen Joik-Gesang, der dem Jodeln ähnelt, eine hochindividuelle Nuance. Das mag beim ersten Hören stets etwas merkwürdig wirken, gewinnt aber nach einigen Durchläufen an Suchtpotenzial.
Seit Mai gibt es mit OKTA das erste Studioalbum der Band, das unsere hohen Erwartungen erfüllen konnte und auch sieben Monate nach der Veröffentlichung immer noch warmläuft. Nachdem KEiiNO bereits 2019 gleich mehrere Kontinente bereist haben und ihre Fanbase stets erweitern konnten, sollte es 2020 weitergehen – aber das hat bekanntlich nur eingeschränkt funktioniert. Doch mit dem Longplayer und neuen Singles – u.a. dem grandiosen „Transarctic Lover“ – konnten die Anhänger*innen wenig meckern. Ihre nationalen Zuhörer*innen durften, wie bereits erwähnt, sogar eins der fünf Corona-konformen Liveshows besuchen. Blöd nur, wenn man Fans in ganz Europa hat, die auch gefüttert werden wollen. Wie schön, dass sich aber in den letzten Monaten das neuartige Konzept der Streamingkonzerte immer weiter durchgesetzt hat, und KEiiNO anscheinend bei dieser Art von Auftritt auch nicht „Nein“ sagen wollen.
Seit dem 19.12. um 20 Uhr steht das vorab in Kristiansand aufgenommene Konzert online zur Verfügung. Die gemütliche Konzerthalle Haubitz Låven im Süden Norwegens stellt genau die rustikale und gemütliche Location, die für einen Weihnachtsauftritt gebraucht wird. Leider handelt es sich auch bei dem KEiiNO-Stream nicht um eine Liveübertragung. Nicht mal um einen Gig vor Publikum, obwohl dies eben in Norwegen in mit beschränkter Teilnehmerzahl möglich wäre. Dafür bieten die Drei aber eine andere Option, die diese Kleinigkeit schnell vergessen lässt: hat man ein Ticket für die Show, kann man sie vier Wochen lang ansehen, so oft man will. Eine Möglichkeit, von der sich viele andere Streamingkonzerte großer Pop-Künstler*innen eine Scheibe abschneiden können. Sollte nämlich die Technik zuhause während der Übertragung mal nicht funktionieren, kann man bei KEiiNO nach getaner Reparatur noch einmal zuschauen. Äußerst vorbildlich. Jetzt also erst auf den Geschmack gekommen? Auch nachträglich können noch Karten gekauft werden!
Doch nicht nur die Rahmenbedingungen scheinen zu stimmen. In den 55 Minuten Show beweisen Tom, Fred und Alexandra endgültig, dass sie nicht das One-Trick-Pony sind, für das sie wohl viele Zuschauer*innen zunächst hielten. Ganz besonders die äußerst abwechslungsreiche Setlist steckt voller unerwarteter Überraschungen und langweilt zu keiner Minute. Neben vier Albumsongs performen KEiiNO Weihnachtsklassiker auf Englisch, Neuinterpretationen auf Norwegisch und covern sogar einen Eurovision-Gewinnersong. Das Ganze geschieht zusätzlich nicht zu festgefahrenen Instrumentalversionen, sondern mit dreiköpfiger Liveband. Ja, hier wurde sich wirklich Mühe gegeben.
In dem 15 Songs umfassenden Konzert gibt es viele Momente, die die Fans zum Lächeln bringen sollten. Tom und Alexandra sind gesanglich bestens aufgelegt, schauen toll aus und singen harmonisch wunderbar abgestimmt. Sämtliche Dance-Tracks wurden entschleunigt und in ein weihnachtliches Jazz-Swing-Arrangement verpackt. So wird aus „Dancing In The Smoke“ ein „Dancing In The Snow“ und ein „Winter Wonderland“ klingt so, wie man es von Michael Bublé kennt. Erstmalig können beide durch die reduzierten Beats zeigen, dass sie wirklich talentierte Sänger*innen sind und sichtlich Spaß haben – trotz unbesetzter Stühle vor der Bühne. Des Weiteren spielt Tom gleich mehrmals Gitarre und greift zum Schellenkranz. Fred hat zwar einige Male nicht ganz so viel zu tun, unterhält aber durch seinen liebenswerten Tanz daneben. Setzt er jedoch das Mikrofon an die Lippen, folgen oft die Parts, weswegen man KEiiNO eben so anders und gleichzeitig interessant findet. Fred bekommt schlussfolgernd gleich zwei Solosongs auf Samisch – darunter den Albumsong „Colours“ –, die auch Weihnachtsmuffel aufhorchen lassen sollten. Sowas hört man doch eher selten. Gerne mehr davon.
Höhepunkte der Show sind die berührend-besinnliche Eigenkomposition „A Winters Night“, in die Alexandra viel Emotion legt, „Hallelujah“ mit Tom als Solosänger, was ihm sehr gut steht und offensichtlich viel bedeutet, das norwegische Cover von dem The Pogues-All-Time-Favorite „Fairytale Of New York“ namens „Storbyjul“, die Emmelie De Forest-Hommage „Only Teardrops“ und selbstverständlich der einfach nicht tot zu kriegende „Spirit In The Sky“, zu dem KEiiNO auch ihre Zuschauer*innen am Bildschirm auffordern, mitzusingen. Auch das ist bei Streamingkonzerten absolut keine Selbstverständlichkeit, doch KEiiNO richten sich mehrfach an ihre Fans, bedanken sich fürs Zuschauen und moderieren charmant-witzig ihre Songs an. Zwar muss man auf „Black Leather“, „Would I Lie“ und „Transarctic Lover“ verzichten, aber die hätten auch alle nicht gut ins Programm gepasst.
Technisch ist der Aufwand überschaubar. Die Leute hinter der Kamera haben hier und da mal nicht richtig aufgepasst, nicht immer alles perfekt im Bild und in ein paar Augenblicken wird auch auf der Bühne kurz gepatzt – doch geschenkt! KEiiNO zaubern mit ihrem Christmas Spirit In The Sky eine besinnliche und rührende Atmosphäre ins heimelige Wohnzimmer. Eine unglaublich sympathische und authentische Band, die ihre eigene Pop-Nische hat und in der sicher noch viele Ideen lodern. Davon wollen wir einige unbedingt 2021 live hören. Und zwar auf richtigen Bühnen. Deutschland wartet!
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