KEiiNO – OKTA

Der 65. Eurovision Song Contest stellt eine Besonderheit dar – er findet nicht statt. Erstmalig muss der größte Musikwettbewerb der Welt aus gegebenem Anlass ausfallen. Ähnlich verhält es sich mit unzähligen Konzerten und Festivals. Zusätzlich entscheiden sich diverse Künstler dazu, ihre Alben erst später im Jahr zu veröffentlichen, da keine Promotouren möglich sind. Stille in einer sowieso schon stillen Zeit.

Doch vor ziemlich genau einem Jahr sah das alles noch ganz anders aus. Am 18.05.2019 landete Norwegen und seine Band KEiiNO auf dem 6. Platz beim ESC in Tel Aviv. Zunächst keine große Besonderheit. Beachtet man aber die Tatsache, dass die nationalen Jurys das Land auf Platz 18 wählten und bei den Zuschauern hingegen sogar der Sieg drin war, wird die Sache schon interessanter. 40 Länder à 5 Jurymitglieder gegen 182 Millionen Menschen an den Fernsehgeräten. Spricht für sich.

KEiiNO ist Nordsamisch für „Weg“. Nord-was? Circa 24.000 Menschen in den Tiefen Skandinaviens und in Teilen von Russland sprechen Formen dieser uralischen Sprachfamilie. Einer von ihnen ist der 32-jährige Fred Buljo, der sogar in einer Sami-Partei kandidierte. Ganz nebenbei ist er Kindergärtner und mit seiner Rap-Gruppe Duolva Duottar Finalist in der norwegischen Ausgabe von „Das Supertalent“ gewesen. Die 23-jährige Alexandra Rottan probierte sich ebenfalls an Castingshowformaten und sang im Background von Alan Walker. Und dann wäre da noch der bereits 40-jährige Tom Hugo, der seit über 10 Jahren immer wieder zwischen Deutschland und Norwegen hin- und herpendelt, sich an unzähligen eigenen Gesangsprojekten, aber besonders im Songwriting probiert hat. Er und sein Ehemann legten den Grundstein für den Eurovision-Beitrag „Spirit In The Sky“.

Warum hat „Spirit In The Sky“ so viele Millionen von Menschen in den Bann gezogen? Die Antwort ist so simpel wie logisch: weil „Spirit In The Sky“ alles serviert, wofür der Eurovision steht. Alles. Und das par excellence. Ein Song, der ruhig und mystisch beginnt, tolle Sänger verbindet, im Refrain voll losprescht, sofort im Kopf bleibt, wiedergehört werden will und ein kreatives, nationales und unerwartetes Element besitzt: Joik.

Joik ist ein gutturaler, also in der Kehle gebildeter Gesang, der dem Jodel ähnlich ist. KEiiNO verwenden diesen zunächst vielleicht etwas befremdlichen Sound in nahezu jedem Track ihres mit 31 Minuten leider sehr kurzen Debütalbums OKTA. Eine Platte, die ohne Plattenvertrag zustande kam und quasi im Alleingang von dem Trio entwickelt wurde. Nur dafür schon mal den größten Respekt! Wer der Gruppe seit ihrem Erscheinen in dem völlig eingeschlafenen Dance-Pop-Genre folgt, hatte die Ehre bereits neun Songs hören zu dürfen. KEiiNO waren fleißig und haben in den vergangenen zwölf Monaten non stop ihre treue Fangemeinde mit Auftritten und Veröffentlichungen versorgt. Die drei Coverversionen „Shallow“, „Vill Ha Dig“ und „Storbyjul“ wurden gestrichen, die restlichen sechs selbstgeschriebenen Titel übernommen und mit vier neuen Kompositionen („Take Me Home“, „Roar Like A Lion“, „Louder“, „Bed With The Wolf“) aufgestockt.

OKTA war eigentlich bereits für Februar angekündigt, brauchte aber noch ein paar Wochen und kommt nun – wie sollte es anders sein – passend zur ESC-Primetime. Einen Tag vor dem ursprünglich geplanten Finale ist der Longplayer verfügbar und liefert fast genau eine halbe Stunde ausschließlich gute Laune. Eine Ballade hätte ohne Frage für eine Überraschung gesorgt. Die bleibt zwar aus, dafür liefern KEiiNO pausenlos starke Hooks, die sich festbrennen, richtig nach vorne gehen, einen Ohrwurm nach dem nächsten auslösen und einfach für kurzweiligen Spaß sorgen.

Glücklicherweise ist „Spirit In The Sky“ nicht das einzige Lied, das die gelungene, kreative und so sympathische Pop-Formation, die sich erst Ende 2018 kennenlernte, bereithält. Um für möglichst viel Abwechslung zu sorgen, sind gleich bei vier Songs Features am Start. Auch hier wurde an Kreativität und besonders an Internationalität nicht gespart: Sängerin Charlotte Qamaniq aus Kanada („Black Leather“), die Aborigine-Australien Band Electric Fields („Would I Lie“), die aus Hawaii stammende Band Te Hau Tawhiti („Roar Like A Lion“) und der indigene kanadische Rapper Drezus („Louder“). KEiiNO betonen stets ihr Faible für Diversität, das sich sowohl in Herkünften als auch in Sexualitäten und Gesangsarten wiederfinden lässt.

Auf Papier gehen Alexandra, Fred und Tom also wesentlich tiefer als die vielleicht zunächst eher einfacher wirkenden Pop-Songs zeigen. OKTA klingt wie ein guter Sampler aus den 90’s – unterschiedliche Dance-Tracks, die mal ein wenig tropische Brise mitbringen („Praying“), auch mit E-Gitarre und Drums mal ordentlich knallen dürfen und gleichzeitig unfassbar sexy wirken („Black Leather“), selbst vor zuckersüßen Kinderstimmen nicht zurückschrecken („Colours“), leichte Samba-Sommernuancen bereithalten („Would I Lie“), Mehrstimmigkeit mit catchy Lines paaren („Bed With The Wolf“) und auch Freds Rap-Künsten Freiraum schenken („Take Me Home“). Alles Titel, die schnell ein gewisses Suchtpotenzial entfalten, sich auch bei mehreren Stunden Repeat nicht abnutzen und spätestens nach drei Durchläufen zu Highlights werden. Lediglich bei „Roar Like A Lion“ ist etwas zu viel Fußball-EM-Luft geschnuppert worden. Das ist doch einen Hauch too much.

OKTA ist Retro, ein verrückt-erfrischender, mehrsprachiger Mix und liefert gerade für 90er- und 2000er-Fans Soundspielereien, die mit modernen Elementen kombiniert werden und eine halbe Stunde so echt, freudvoll, mitreißend und groovend klingen, dass es unmöglich ist, nicht die Hüften kreisen zu lassen. Obendrauf singen und harmonieren Tom und Alexandra durchweg großartig und Fred ist eh der Geilste, so wie er ist. Für Eurovision-Anhänger ein absolutes Muss-Album; für Liebhaber der bereits zurückliegenden, kultigen Jahrzehnte ein neu zu entdeckendes Guilty Pleasure und für Pop-Hörer ein Geheimtipp in der viel zu überfrachteten apokalyptischen Weltatmosphäre, die gerade mehr dieser Leichtigkeit und authentischen Liebe für Musik und Facettenreichtum verdient. In diesem Sinne: „He lå e loi la, Čajet dan čuovgga“, und das noch hoffentlich sehr lange.

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