Der letzte von insgesamt 20 Songs auf der Setlist im Gloria in Köln ist “My Lullaby”. Das erste Lied, das Maria Mena jemals schrieb. In einem Moment, als sie aus der Wohnung ihrer Mutter abgehauen ist, um bei ihrem Vater einzuziehen. Die Beziehung war zu dem Zeitpunkt komplett hinüber. Dann hält sie inne und sagt, dass es eigentlich sowieso gar keine wirkliche Beziehung gab. Von diesem Erlebnis spürt sie noch zwei Jahrzehnte später Nachwirkungen. Eigentlich möchte sie nicht von ihrem Trauma eingeholt werden. Aber sie singt nur noch drei Konzerte, bevor sie in den Mutterschutz geht. Und da ihr allererster Song über die Beziehung zu ihrer Mutter handelte, möchte sie nun zyklisch das Ganze beenden, sich dem Gefühl stellen, um dann mit etwas Neuem anzufangen, nämlich ihrem Leben als Mutter, die sie selbst bald sein wird. Dazu hat sie Tränen in den Augen.
Mit diesem intensiven Augenblick endet das 125 Minuten lange Konzert der Norwegerin. Ihr erstes in Deutschland seit siebeneinhalb Jahren in exakt derselben Venue. Ist das Konzert vorbei, ist es zumindest für die Zuschauer*innen eigentlich noch gar nicht vorbei. Selten bis nahezu nie wirkt eine Show so lange nach. Und das hat gar nicht groß damit zu tun, dass es musikalisch so überragend ist. Die siebenköpfige Band inklusive zwei Backgroundsängerinnen sind durchweg großartig, Maria Mena singt auch bis auf absolute Minimomente, in denen mal der Registerwechsel zwischen Kopf und Brust nicht ganz flüssig funktioniert, genauso fantastisch. Aber das ganz Entscheidende liegt hier an jenem Abend woanders.
Wer war überhaupt nochmal Maria Mena? Kurzer Recap: Die fast 38-jährige Künstlerin aus Oslo schafft bereits mit 16 den Sprung in die Top 5 ihres Heimatlandes. Bei uns taucht sie 2006 das erste Mal auf und landet mit “Just Hold Me” einen der zu dem Zeitpunkt meistgespielten Radiohits. Zwei Jahre darauf klappt das Ganze mit “All This Time (Pick-Me-Up Song)” in etwa genauso gut. Beide Songs hört man immer mal wieder hier und da. Ansonsten ist der Erfolg aber in Deutschland doch eher überschaubar. Maria sagt auf der Bühne in Köln auch, dass sie befürchtete, viel zu lange weggewesen zu sein, sodass sich Deutschland nicht mehr für sie interessieren würde. Zwar ist die Show im Gloria nicht ausverkauft, aber allzu viel Platz ist da auch nicht mehr. Obwohl lediglich zwei Gigs hierzulande anstehen, bietet Hamburg ebenso wenige Stunden vor Beginn noch einige Tickets an. Aber sie ist dennoch so glücklich und überwältigt von dem wirklich sehr, sehr großen Applaus nach nahezu jedem einzelnen Lied, dass sie verspricht, wiederzukommen. Auch weil sie nach so vielen Alben nicht mehr jedem Fan mit dem jeweiligen Lieblingstitel gerecht werden kann. Also müssen die restlichen dann beim nächsten Mal drankommen.
Acht LPs sind es bisher. Die aktuellste kam im September heraus. Das erste Album nach fast acht Jahren. Dazwischen gab es jedoch die EP “They Never Leave Their Wives” , mitten in der ersten großen Corona-Welle. Schon damals haben wir uns gefragt, wie es sein kann, dass wir Maria Mena so elendig lange nicht richtig auf dem Schirm hatten – denn eine Künstlerin, die so eine hervorragende, schlüssige, gruselig ehrliche Musik liefert, braucht entschieden mehr Aufmerksamkeit. Nach dem Besuch des Konzertes in Köln würden wir sogar noch zwei, drei Schritte weitergehen.
Ohne Vorband geht es um 20:02 Uhr los. Und dann folgt nicht weniger als ein perfekter Auftritt. Eine eindeutige 10 von 10. Allerdings eine 10, die so anders ist als das, was man wohl gegenwärtig meist unter einer 10 verbucht. Es gibt keine Leinwand, keine Bühneneffekte, außer Licht. Es gibt keine eskalierende Crowd. Keine Choreografien. Nicht einmal Hits im klassischen Sinne. Was ist es dann? Es gibt nicht weniger als das vielleicht authentischste Pop-Konzert, das man besuchen kann. Sie selbst nennt es etwas pathetisch “Gruppentherapie”, aber genau das ist irgendwie sehr wahr und treffend. Gefühlt ist das gesamte Konzert ein einziges Konzept. Eine ganz große Geschichte, die sich ausschließlich um Stationen in Marias Leben dreht. Ja, das macht natürlich jede*r Künstler*in, aber so gefiltert und mit so klaren Worten versehen, findet man auf den meisten Shows eher einen, vielleicht zwei Songs. Hier ist es aber jeder einzelne. Zu fast jedem Titel erzählt sie vorab eine konkrete Situation. Viele handeln von Liebe. “Ich habe alles durchgemacht, sodass ihr das nicht mehr machen müsst”, scherzt sie. Immer wieder lacht man auf, weil ihr Wortwitz einerseits mit so einem guten Timing daherkommt, andererseits aber so tragisch und verletzbar wirkt, dass man gar nicht anders kann, als sich gerade damit zu verbinden.
Und so sich plötzlich mit sehr vielen verdammt unschönen Situationen aus dem eigenen Leben konfrontiert sieht. In Filmen und Podcasts würde es wohl eine Triggerwarnung geben. Es geht um Essstörungen, um Alkoholmissbrauch, um Liebeskummer der allerschlimmsten Sorte. Sie sagt, sie war selbst schon die eine Person, die wir alle doch immer hassen. Sie war der Sidekick von einem vergebenen Mann, der ihr den Himmel versprach – und am Ende seine Ehefrau doch nicht für sie verlassen hat. Jeder Act singt zu großen Teilen über Liebe, aber bei Maria Mena fühlt es sich komplett anders an. Es ist das exakte Gegenteil von Abstraktion oder Oberlächlichkeit. Sie ist der Gegenentwurf von einem übermenschlichen, künstlichen Superstar. Während des Konzertes in Köln hat man das Gefühl, man liest ihr Tagebuch. Man ist bei ihrer ganz persönlichen Psychotherapie dabei, in der sie gerade laut reflektiert und ihre Erkenntnisse formuliert.
Sie singt davon, wie schrecklich es ist, sich von jemandem zu trennen, der dich noch liebt, du ihn aber nicht mehr. Sie berichtet davon, dass sie Phasen durchhat, von denen sie nicht gedacht hätte, dass sie sie überlebt. Sie berichtet davon, wie enttäuscht sie von Männern war, dass sie eigentlich nicht mal mehr trauern konnte, sondern Dating für beendet erklärt hat. Dann bleibt sie eben alleine. Auch ok. Doch dann lernt sie einen Typen kennen, der eigentlich optisch so gar nicht ihr Geschmack, aber nett zu ihr ist. Er soll ihr ein bisschen Wärme spenden. Auf gar keinen Fall wird sie sich verlieben. Und zack, bumm! 30 Minuten und sie weiß, sie ist schon wieder total drin. Sie beschließt, etwas zu tun, was ihn davon komplett abhalten wird, ein zweites Date zu wollen. Sie wirft die Themen Hochzeit und Kinder ein. Doch er checkt, was mit ihr los ist. Er sagt, dass sie sich doch erst einmal gesehen haben, man die Themen hinten anstellen kann, er sie aber dennoch erneut treffen möchte. Sie ist verwundert, entschuldigt sich für ihre dumme Strategie – einige Zeit später heiraten sie und nun steht sie schwanger mit Babybauch auf der Bühne.
Hat man jemals das Gefühl, jemanden wirklich so nah kommen zu können, ohne ihn wirklich zu kennen? Natürlich ist auch das ein Image, klar. Ob das, was Maria Mena in Köln inszeniert, nun wirklich 100 Prozent authentisch ist oder nicht, kann nicht komplett überprüft werden. Aber es wirkt so. Es wirkt wie wahrhaftige, hilfreiche Tipps. Wie eine Person, die so viel Schmerz ausgehalten hat, sich durchgekämpft hat, daran gewachsen ist und nun ihre Erfahrung teilen möchte. Das tut sie eben in Form von Songs. In Form von richtig, richtig guten, klassischen Pop-Songs mit starken Melodien in den Refrains, so viel Emotion in der Stimme, dass einem manchmal ein wenig schwindelig oder schlecht wird, weil man nicht fliehen kann. In your face und in die Magengrube. Ein Wachrütteln. Eine Aufforderung, sich endlich den Dämonen zu stellen. Sie ist der felsenfesten Überzeugung, dass am Ende alles gut wird und man nicht weniger verdient als absolute Zufriedenheit. “Wenn sich die Liebe immer nur nach Hochklettern auf einem Berg anfühlt, ist das falsch, weil man nie oben ankommen wird. Liebe fühlt sich leicht an. Liebe ist Genuss.”
So viele so wichtige Messages, die in Songs gepackt wurden, bei denen es eben nicht darum geht, mitzusingen oder zu tanzen. Sie besitzen schöne Hooks. Sie besitzen zwischenzeitlich wirklich sensationelle E-Gitarren-Soli, ganz fantastische Harmonien von ihren Backgroundsängerinnen plus ihrem zweiten Gitarristen, der ebenfalls mitsingt. Doch all das ist wirklich so egal, weil diese zwei Stunden ein richtig wertvolles Konzerterlebnis darstellen. “Leaving You”, “Sorry”, “Till The Water Runs Clear”, “Lies”, “Not Sober”, “Easy Love”, “You’re The Only One”. Highlight an Highlight, nahtlose Flashes an Gedanken. Immer wieder nickt man, weil man sich so verstanden fühlt und sie in den Arm nehmen möchte. Tatsächlich sind sogar die beiden Hits “Just Hold Me” und “All This Time” pure Nebensache, weil im Vergleich so gewöhnlich. Doch insgesamt ist Maria Mena in Köln wahrhaftig haunting. Ein ganz rarer Abend, bei dem nach dem Anmachen des Lichtes in sehr vielen Augen noch Flüssigkeit erkennt. Ein Abend, für den man dankbar ist und von dem man zehrt.
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Foto von Christopher
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