Renommierte Musikhäuser, in denen überwiegend Klassik läuft, haben oft ein Problem mit ihrem Publikum: Es wird selten jünger. Stattdessen müssen sie mit dem Klischee klarkommen, nicht wirklich am Puls der Zeit zu sein. Doch das Musiktheater im Revier hat Ideen, um dagegen anzukämpfen und Impulse so zu geben, dass sich gleich mehrere Generationen in einem Raum treffen können. Ein kluger Versuch zur gerade erst begonnenen Spielzeit ist das Konzert MiR Goes Pop: Back to the 90s.
Man merkt bereits im Namen, dass das Pop-Genre für ein Haus wie das Musiktheater in Gelsenkirchen eher eine Ausnahme als eine Regel darstellt. Umso spannender ist es, wenn man sich ein wenig außerhalb der Komfortzone bewegt, über den Tellerrand hinausschaut und eben einfach mal was wagt. Ist das Ergebnis glaubwürdig oder eher ein netter Versuch? Um das herauszufinden, setzen sich am 10.9., einem Samstagabend, mehrere hunderte Menschen auf ihre Plätze. Der Saal ist geschätzt zu 70% gefüllt. Anscheinend ist das Interesse, einen mindestens 23 Jahre umfassenden Zeitsprung in die Vergangenheit zu machen, nicht nur auf Seiten des Theaters, sondern auch auf Seiten des Publikums vorhanden.
MiR Goes Pop ist keine frisch geborene Idee. Stattdessen handelt es sich um eine Reihe, die immer wieder in neue Gefilde aufbricht. Gab es schon “Back to the 70s” – ein Konzert, bei dem 70er Hits gesungen wurden -, folgt Ende April sogar ein reines ABBA-Tribute mit dem Namen “ABBA Forever”. Und ganz ehrlich: Welcher Musikfan mag nicht die Classics aus den kultigen Jahrzehnten oder die Evergreens von dem Schweden Quartett? Also eigentlich ist es ein Programm für jeden, was auch gut so ist. Da entdecken Eltern fast schon vergessene Ohrwürmer wieder, die Kinder die jeweiligen Ohrwürmer ganz neu und die Großeltern freuen sich, weil alle gemeinsam etwas unternehmen.
Sich an die 90er heranzuwagen, ist allerdings auch ein wenig mutig. Eine Dekade, die durch äußerst unterschiedliche Genres glänzt, ein wenig verrückt und drüber erscheint. Seit einigen Jahren konnte sie ihren Ruf als “peinlich und trashig” ablegen, stattdessen ist sie eben einfach nur noch Kult. Fast monatlich kommen Titel in die aktuellen Charts, die einen 90s-Track samplen oder gleich covern. Auch hier wieder: Die junge Generation findet den ersten Zugang, Ü30 schlägt die Hände über den Kopf zusammen und wünscht sich das Original zurück.
Kalt lässt es jedenfalls kaum jemanden. Doch genau deswegen ist es auch schwierig, ein Konzept für ein 90er-Konzert aufzustellen. Entscheidet man sich nur für große Hits, die überall permanent laufen und eigentlich ein wenig totgedudelt sind? Zeigt man sich in der Auswahl divers? Konzentriert man sich auf ein Genre? Möchte man den anspruchsvollen, coolen Pop des Jahrzehnts zeigen?
MiR Goes Pop: Back to the 90s macht diesen Aspekt ziemlich gut und legt sich gar nicht so fest. Es ist eine Zeitreise, aber auch ein “Hey, das sind auch die 90er, vergesst das nicht!”. Das insgesamt 135 Minuten lange Programm, das von einer halbstündigen Pause unterbrochen wird, ist überwiegend stilvoll und lässig, aber manchmal auch schonungslos. Über 30 Titel haben es auf die Setlist geschafft, davon einige in thematisch orientierten Medleys.
Das Allerstärkste: Man befindet sich in einem Musiktheater. Demnach gibt es Livemusik, und zwar von einem nicht weniger als knapp 50-köpfigen Orchester inklusive Band. Unter der Leitung von Rasmus Baumann, der gleichzeitig am Klavier sitzt und dirigiert, spielt die Neue Philharmonie Westfalen und holt von mehreren Stücken das Maximum und noch einiges darüber hinaus raus. 90er Fans… nein, stopp: Alle Menschen, die sich für Popkultur interessieren, sollten in den Genuss kommen, diese wunderbaren Arrangements zu hören. Schon beim rein instrumentalen Opening zu dem Dreamhouse-Hit “Children” von Robert Miles wird gezeigt, wie unglaublich gut und eindrucksvoll es klingen kann, wenn Radiohits auf einmal einen ganz neuen Charakter bekommen. Nämlich den, den sie verdienen. Da sind über 20 Streicher einfach pures Gold für die Ohren. Eröffnung on point.
Letztendlich bleibt es allerdings bei einem Instrumentalstück. Die restlichen Songs werden durch einen Sänger und eine Sängerin, teilweise auch im Duett ergänzt. Der Brite Henrik Wager war bereits Sänger bei Stefan Raabs Band Heavytones, spielte in unzählbaren Musicals die Hauptrolle. Dass er einiges an Bühnenerfahrung hat, merkt man ihm an – gleichzeitig liegt da aber auch ein Knackpunkt. Optisch scheint er sich wenig Mühe geben zu wollen und trägt eher ein Outfit für die Fancy-Dress-Mottoparty im Club als für eine Theaterbühne. Gesanglich zeigt er an vielen Stellen gutes Feingefühl, bei den Zugaben wird gar gerappt. Besonders in den Soulnummern wie “Still Got The Blues” (Gary Moore) oder den funkigen Songs von Jamiroquai (“Virtual Insanity”, “Cosmis Girl”) ist er richtig gut und groovt ordentlich. Auf der anderen Seite ist er aber an zwei, drei Stellen tonal locker einen Halbton daneben, patzt bei “Fields of Gold” von Sting und “Wonderwall” von Oasis auch textlich. Eine gute Leistung bleibt’s am Ende trotzdem, nur eben nicht auf dem Niveau des Orchesters, was mit ihm spielt.
Eine bessere Figur gesanglich wie optisch macht hingegen Bonita Niessen, wo wir wieder bei Stefan Raab wären. Die in Südafrika geborene Sängerin unterlag damals im SSDSGPS-Finale Max Mutzke, der schließlich für Deutschland zum Eurovision 2004 in die Türkei fuhr. Bonita ist seitdem zwar nicht mehr so bekannt, aber immer noch im Rampenlicht für unterschiedliche Projekte. Sie hat die ziemlich schwierige Aufgabe, äußerst unterschiedliche Stimmfarben nachmachen zu dürfen, schlägt sich aber wirklich gut. “Ironic” von Alanis Morissette auf der einen Seite, “Wannabe” von den Spice Girls auf der anderen. Dazu “Free Your Mind” von En Vogue und sogar “Smells Like Teen Spirit” von Nirvana. Von den ganz tiefen Tönen bis zum hohen Belting muss da geliefert werden, was sie auch fast immer mit Bravour schafft. Textlich ist sie gleichwohl auch nicht ganz sicher. “Get Here” von Oleta Adams ist in den Strophen ein Kuddelmuddel. Außerdem ein Gruß an die Technik: Wenn locker zehnmal das Mikrofon der Sängerin zu spät eingeschaltet wird, ist es kein Wunder, wenn sie ständig an ihren In-Ears fummelt oder am Sender korrigiert.
Man merkt jedoch: Die Songauswahl hat was. Ein Programm, bei dem Britney Spears (“Baby One More Time”) genauso Platz findet wie Metallica (“Nothing Else Matters”), aber nicht unangenehm wirkt, verdient Applaus. Auch dass auf der Leinwand im Hintergrund lediglich mit Farben und nicht mit Filmen gearbeitet wird, tut gut. Hätte nur unnötig abgelenkt. Zusätzlich hervorzuheben ist das Zwischenspiel der beiden Sänger*innen, die sichtlich Spaß auf der Bühne haben, hier und da kleine Choreos einlegen und auch mit dem Publikum interagieren. Henrik Wager darf aber ruhig 30% von seinem Overacting rausnehmen. Das hat doch ein wenig was von altbackener Überheblichkeit. Andere Klamotte, weniger Gestikulation, mehr Fokus auf Gesang, dann ist’s bei der zweiten Vorstellung am kommenden Sonntag noch stimmiger.
Dennoch stört eine ganz andere Sache quasi am gesamten Abend, und das ist die fast schon katastrophale Moderation von Carsten Kirchmeier. Man fragt sich ein wenig, was das soll. Das Programm heißt MiR Goes Pop: Back to the 90s und ist somit eindeutig eine Hommage an eben jenes Jahrzehnt. Dass man zu den Songs ein wenig Backgroundwissen geben mag, ist nett, aber eigentlich auch gar nicht so nötig. Ein paar Infos mehr im Programmheft hätten ausgereicht. Stattdessen darf man sich aber mehrfach persönliche Anekdoten aus dem Privat- und Studentenleben des Moderators anhören, der wirklich zu jedem einzelnen Song sagen muss, wie er ihn denn findet, welche Songs er von den interpretierten Künstler*innen eigentlich lieber mag und sogar wie seine Freund*innen diese finden. Sorry, aber wen interessiert das bitte?
Ganz, ganz unangenehm wird es, wenn Kirchmeier gute fünf Minuten über Bryan Adams schwafelt, seine 90er Hits extrem abwertet, letztendlich Bryan Adams aber gar nicht gespielt wird. Soll womöglich komödiantisch und kabarettistisch sein, wirkt aber ausnahmslos Boomer-like, arrogant und altklug. Müssen sich diejenigen im Publikum also schämen, die 90s-Songs, die er als unangenehm empfindet, mögen? Muss man nettigkeitshalber mitlachen und sich mit ihm ebenfalls auf einem 90er-Konzert (!) über Boybands erheben? Ist Dissen nicht eigentlich sowas von 2010? Am Schlimmsten: Er macht das eigene Programm schlecht. Zum Finale gibt es ein schwungvolles Latin-Pop-Medley (“Mambo No 5”, “Livin’ La Vida Loca”, “Macarena”, “Let’s Get Loud”), das die Leute von den Stühlen reißt. Angekündigt wird es von dem Moderator mit einer unverkennbaren Abneigung gegenüber “Macarena”. Warum wird er dann gespielt? Einige Minuten vorher berichtet er, dass er auf die Auswahl der Songs für den Abend nur in einem gewissen Maße Einfluss nehmen konnte. Da fragt man sich: Warum übernimmt dann den Job nicht jemand, der*die wirklich Bock auf die Titel hat? Oder warum steht man als Moderator nicht komplett hinter der Songauswahl? Andererseits lobt er sich und alle Mitwirkenden am Ende mit einem “So schlecht haben wir es wohl nicht gemacht” selbst. Merkwürdig, nicht nachvollziehbar, ein wenig beleidigend und einfach unsympathisch.
Final zählt die Musik aber selbstredend mehr. So ist MiR Goes Pop: Back to the 90s ein schönes, kurzweiliges und unterhaltsames Konzert, das besonders von dem Orchester im Alleingang getragen werden könnte. Rasmus Baumann hat alles im Griff. In mehreren Momenten ist Gänsehaut garantiert, selten darf man wohl “Bitter Sweet Symphony” (The Verve) so intensiv hören und das Arrangement von Tom Jones‘ “Sexbomb” mit seinem ausgiebigen Intro ist nicht weniger als sensationell. Lässt man die Moderation einfach komplett außer Acht, schauen die beiden Sänger*innen für die kommende Vorstellung nochmal in die Texte und konzentriert sich die Technik etwas mehr, dürfen Ticketinhaber*innen mit einem sehr guten Abend rechnen. Am Premierenabend war es all in all aber immerhin gut.
Und so sah es bei der Veranstaltung “MiR Goes Pop: Back to the 70s” aus:
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Foto von Christopher.
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