Netta, Club Bahnhof Ehrenfeld Köln, 18.11.2018

Netta Köln

Der Monat Mai gehört dem größten Musikwettbewerb der Welt, dem Eurovision Song Contest. 186 Millionen Zuschauer sahen zu, wie dieses Jahr Portugal Premiere als austragendes Land feierte. Das Gewinnerland hingegen stand nicht erstmalig auf der Pole: Israel durfte bereits viermal den Sieg einheimsen und bringt damit das Spektakel nächstes Jahr nach Tel Aviv. Schuld daran hat eine 25jährige Sängerin namens Netta, die zuvor – wie für den israelischen Beitrag gewöhnlich – die Castingshow gewann, die gleichzeitig den Vorentscheid für den ESC darstellt. Mit dem auffallend kreativen “Toy” konnte Netta zwar nur den dritten Platz beim Juryvoting einheimsen, ihr großer Vorsprung bei den Zuschauern genügte aber, um den endgültigen 1. Platz belegen zu dürfen.

Genau ein halbes Jahr später ist Netta das erste Mal nun auf Tour durch Europa – und das ohne zweite Single, geschweige denn ein Album. Am 18.11. wird in Köln im Club Bahnhof Ehrenfeld gehalten. Geschätzt sammeln sich knapp 150 Leute in den leicht heruntergekommenen Hallen, um Netta zu feiern. Das Publikum ist größtenteils männlich, vom Alter her jedoch bunt gemischt, durchschnittlich wahrscheinlich um die 30. Um 19h ist Einlass, 20h soll es losgehen. Nicht weiter ungewöhnlich. Aber…

Was hingegen überrascht: Die Bühne ist bereits mit dem für die Künstlerin bekannten Drumcomputer, mehreren Mikrofonen und Loopstations ausgestattet. Daneben eine Gitarre und ein Stuhl. Das war’s. Gibt es etwa keine Vorband? Gerade bei so kleinen Konzerten mit Newcomern, bieten sich Supportacts besonders gut an – und tatsächlich bleiben diese aus. Stattdessen nennt sich der Anheizer DJ-Musik vom Band. Und das bis 21:05. Über zwei (!) Stunden warten die Leute vor der Bühne und es passiert NICHTS. Gar nichts. Ab 20:30 ist die Stimmung bereits etwas geknickt, die Crowd genervt und es wird sich ordentlich über die Wartezeit aufgeregt. Einige probieren mit Jubel und Applaus, dass das Konzert losgeht – leider vergebens. Als dann irgendwann doch das Licht ausgeht, ist eigentlich die Luft bereits raus.

Trotzdem schafft es Netta Barzilai, wie sie mit vollem Namen heißt, bereits in kurzer Zeit das Publikum in Tanzlaune zu bringen. Als Opening dient eine neumodische Version des 90s Classics “Barbie Girl” von Aqua. Der Trap-Remix knallt fett und macht aus einem bereits totgedudelten Track eine wieder Freude machende Dancenummer. Netta betritt parallel die Bühne und beweist optisch auch das, wofür sie beim ESC bekannt wurde: Feminismus! Lieb dich selbst! Sie trägt ein langes, fast komplett durchsichtiges, graues Kleid, hat lange Haarteile befestigt, ein Bikinioberteil an und kommt bauchfrei trotz ordentlichen Übergewichts. Dann bastelt sie mit ihrem Technikset selbst an der “Barbie Girl”-Version weiter.

Und das tut sie letztendlich das gesamte Konzert über. Netta beweist extrem gutes Geschick dafür, elektronische Musik vor Ort zu kreieren – immerhin hat sie an einer Musikschule genau das studiert. Netta fährt alles auf, was eine Loopmaschine hergibt, verzehrt ihre Stimme ins Unverkennbare und ballert mit catchy Basslines um sich. Ihr Grundgerüst: Große Hits aus den 90ern und 2000ern, aufgefrischt mit modernen Sounds. Abwechselnd gibt es Dubstep, Techno, HipHop und eben Trap. Jede Bastelei von ihr ist einerseits beeindruckend anzuhören, andererseits aber auch wirklich auffordernd inszeniert. Stehenbleiben ist keine Option.

“Barbie Girl” (Aqua), “Rude Boy” (Rihanna), “Sing Hallelujah” (Dr. Alban), “What Is Love” (Haddaway), “Gangnam Style” (Psy) und “Tik Tok” (Kesha) – was kann man da schon groß falsch machen? Selbstverständlich tanzt der Club Bahnhof Ehrenfeld mit, schießt unzählige Fotos und nutzt die Nähe zu Netta, die selbst wirklich zum Greifen nahe ist und sich sehr gut gelaunt präsentiert. Zwischen den Titeln erzählt sie ein wenig von ihrem Werdegang und hält Toleranzansprachen. Außerdem motiviert sie dazu, man selbst zu sein, um Erfolg zu haben. Als die Crowd bei “What Is Love” a-capella weitersingt, obwohl sie den Song bereits beendet hat, kommen ihr Tränen und sie ist komplett aus dem Häuschen. Während sie ihre Beats produziert, kehrt sie immer wieder von ihrer Loopstation nach vorne und tanzt und springt selbst wie eine Neuausgabe von Beth Ditto.

Zwei Highlights der Setlist fallen jedoch aus dem Rahmen. “Ah-Bah-Nee-Bee” war 1978 der erste Siegertitel für Israel beim ESC und wird nun von Netta auf einer Gitarre mit nur einer Saite präsentiert – quasi der Akustikblock des Gigs. Hält leider nur für einen Song an. Eine Ballade, in der sie zeigt, wie hervorragend sie singen kann, wäre durchaus wünschenswert gewesen. Der Gesang geht nämlich zwischen ihren Beats häufig unter und wird viel zu wenig geschätzt. Mit Fannähe glänzt sie des Weiteren damit, dass sie einen auffallend gekleideten Herrn aus der ersten Reihe nach oben auf die Bühne bittet. Er heißt Marco. Netta fragt ihn, was er denn heute gegessen habe. Marco antwortet darauf: “Rouladen”. Das wird gleich als Hook für den nächsten Track verwendet. Somit baut Netta aus die von ihm eingesprochenen Zeilen “I am Marco. I love Rouladen” einen richtigen Stomper, der ordentlich abgefeiert wird.

Und mehr ist dann auch nicht passiert. Ganze sieben (!) Tracks umfasst die Setlist. Dann verzieht sich Netta schon für kurze Augenblicke von der Bühne und kommt zur Zugabe “Toy” zurück (seht HIER einen Ausschnitt auf unserem Instagram-Profil). Ihr Hit ist natürlich der Song, der vom gesamten Publikum tatkräftig mit Gesang unterstützt wird, allerdings singt sie selbst diesmal zu einer Instrumentalversion, um mehr beim Publikum sein zu können – die Loopstation bleibt also bei der Zugabe außen vor. Demnach geht der größte Hit auch nur die übliche drei Minuten-Länge und wird nicht mal verlängert, um richtig genossen werden zu können. Schade. Ein “Toy” als Extended Version wäre hier wirklich wünschenswert gewesen.

Stattdessen ist um 21:55 alles vorbei, Musik vom Band geht erneut los. 50 Minuten Konzert, 125 Minuten Rumstehen. Das ist wirklich hart. Knapp 30€ für ein Ticket sind zwar generell nicht viel, aber für das Programm dann doch äußerst grenzwertig. Natürlich war nicht zu erwarten, dass Netta hier 20 Songs präsentiert, die es noch nicht gibt – aber eine oder zwei neue Nummern wären drin gewesen. Wenn zum Schreiben und Produzieren in dem letzten halben Jahr keine Zeit war, dann hätte man die Tour eher um ein paar Monate verschieben sollen. So bleiben zwar 50 Minuten geile Stimmung und eine äußerst liebenswerte Netta im Kopf, aber irgendwie fühlt es sich nicht nach Konzert an – stattdessen wie ein Restaurantbesuch, der nach der appetitlichen Vorspeise beendet wird.

Und so hört sich das an:

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Foto von Christopher.

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