Revolverheld, Turbinenhalle 2 Oberhausen, 11.01.2024

revolverheld in der turbinenhalle oberhausen 2024

Die Musikindustrie ist aktuell schon irgendwie merkwürdig. Ein Großteil der Bevölkerung nimmt die Charts gar nicht wahr, weil sie überwiegend aus Musik bestehen, die der breiten Masse gar nicht unbedingt entsprechen. Globale Hits sind absolute Raritäten. Alben verkaufen sich oft nur in der ersten Woche gut. Einige Acts funktionieren nur durch ihre Alben, sind aber nie in den Singlecharts. Sowieso kommen täglich neue Songs auf Streamingportalen heraus, sodass eine Veröffentlichung eigentlich gar keinen richtig juckt. Und natürlich besitzt eh jede*r alles. Revolverheld scheinen sich mit diesen Trends zuletzt intensiver auseinandergesetzt zu haben.

Die Hamburger Band steht seit rund 20 Jahren für Radio-Pop mit Ohrwurmhook und ein bisschen E-Gitarre. Und natürlich für die ziemlich schöne Stimmfarbe von Johannes Strate, die zweifellos Wiedererkennungswert besitzt, was verdammt viel ausmacht. Starteten die damals Anfang 20-jährigen noch mit einem etwas knalligeren, lauteren Sound, zeigte sich schnell, welche Songs sich gut verkauften. Das war nämlich nicht ein „Generation Rock“ – so hieß die erste Single – sondern eben die etwas softeren Nummern „Freunde bleiben“ oder „Die Welt steht still“. So wurde man dann doch eher Juli und Silbermond mit männlichem Frontmann statt Beatsteaks auf Deutsch.

Seitdem hat man eine konstante Fangemeinde, die jedoch erst beim vierten Longplayer im Jahr 2013 plötzlich nochmal um ein Vielfaches größer wurde, als man auf „Immer in Bewegung“ den Sound perfektionierte und gleich mehrere dicke Hits am Band lieferte. Ganze 98 Wochen hielt sich das Album damals in den Charts und schaffte Doppelplatin. Damit war offensichtlich der Zenit erreicht. Zwar hat sich die Art des Musikkonsums, wie eingangs beschrieben, auch ganz schön verändert, aber anscheinend hatte Deutschland generell den Klang etwas über. In dem Fahrwasser, in dem auch die Giesingers und Forsters ihre Boote navigierten, ging man ein wenig unter, sodass man seit 2015 exakt einmal die Singlecharts gesehen hat. Für eine Woche.

Jetzt könnte man sich natürlich mit den Albumverkäufen und Liveauftritten zufrieden geben, aber auch da kriselte es ordentlich. Die fünfte LP, „Zimmer mit Blick“ , konnte zwar durch den vorangegangenen großen Erfolg noch gut verkaufen, inhaltlich aber wenig überzeugen. Mit „Neu erzählen“ versprach man im Titel viel, gab inhaltlich aber exakt dasselbe wie eh und je, wenn auch qualitativ einen Ticken besser als bei dem vorigen Versuch. Was macht man jetzt? Solang spielen, bis niemand mehr kommt? Solang Alben veröffentlichen, bis die Ausgaben dafür teurer werden, als die Einnahmen zurückgeben? Corona ist mit Sicherheit eine nachvollziehbare Entschuldigung, allerdings gab es auch bei den Ticketverkäufen dermaßen erhebliche Probleme, dass die große Hallentour, die Anfang 2023 stattfinden sollte, komplett abgesagt wurde. Statt 15 großen Hallen konnten Fans lediglich zu neun Open-Air-Shows im Sommer, darunter mehrere Orte, an denen eher selten Konzerte stattfinden und somit auch Leute kommen, die einfach zu allen Veranstaltungen gehen, die in ihrem Dorf passieren.

Johannes und seine Jungs hatten wirklich keine leichte Aufgabe vor sich. Wie gesagt, hätte man genau das jetzt weitermachen können, bis entweder die Band nicht mehr will oder die letzten Till-I-Die-Fans gehen. Doch letztendlich startete man mal gemeinsam, um Musik zu machen. Um vor allen Dingen auch Musik zu machen, die einem selbst richtig gut gefällt. Bevor man zum wiederholten Male Songs schreibt, die im Radio nicht mehr funktionieren und ein Album schreibt, das wieder zu 80 Prozent klingt wie das davor und das davor, aber die Plattenfirma eben genau das verlangt, weil das ja Revolverheld ist, gründet man nach so vielen Jahren sein eigenes Label. Auf „Revolverheld Records“ erscheint nun das erste Produkt, das die Gruppe nahezu komplett in Eigenregie geschrieben, produziert und sogar finanziert hat.

Das hat im ersten Augenblick alles so gar nichts mit einem Konzertbericht zu tun, und doch ist es wahnsinnig wichtig, eben jene Geschichte auf dem Schirm zu haben. Denn die Tour, die die Band Anfang Januar an neun Tagen in neun Städten am Stück spielt, ist anders. Man spielt die neue Platte R/H/1 live. Ok, das ist noch nicht außergewöhnlich. Man geht in kleine Locations, nicht größer als 2000 Leute. Das ist schon ein Unterschied, stand eben vor einem Jahr eigentlich unter anderem die Lanxess in Köln auf dem Plan. Der entscheidende Faktor ist aber, dass man das Album nur hier spielt, es nicht promotet und es nirgendwo ansonsten zu hören ist. Keine Singles vorab, kein Stream, keine physischen Tonträger bei Amazon oder im Bandshop. Wer jedoch ein Ticket für rund 80 Euro für einen der Gigs kauft, bekommt gleichzeitig eine Tasche geschenkt, in der sich das Album auf LP, CD und als Download befinden.

Nun kann man sich natürlich fragen, warum man so ein Wagnis eingeht. Warum man es für eine gute Idee hält, so viel Zeit und Energie in etwas zu investieren, was dann am Ende kaum jemand wahrnimmt und eine noch kürzere Haltbarkeitsdauer besitzt. Warum man, selbst wenn es Leute gibt, die es dann doch richtig mögen, nicht im Nachhinein noch die Musik veröffentlicht, um sie ganz vielleicht doch in die Charts und Radios zu hieven, um dadurch selbst wieder erfolgreicher zu werden und am Ende finanzieller besser aufgestellt zu sein. Und das ist wohl nun ein Diskurs, zu dem man ein ganzes Buch schreiben könnte. Denn selbstverständlich kommt dieser Zeitpunkt nicht ganz zufällig. Man sieht eben die Schwierigkeit, dass sich die Musik nicht mehr gut verkauft, jetzt auch schon über einen längeren Zeitabschnitt. Man sieht, dass die Hallen nicht mehr voll werden. Also braucht es neue Wege. Sollten Fans nicht kommen, wenn sie komplett neue Songs zu hören bekommen und diese am Ende exklusiv mit nach Hause nehmen können, wann dann? Wenn man nun die Chance nicht nutzt, um ein Album so aufzunehmen, wie es einem als Band Revolverheld wirklich gefällt, wann dann?

So sind einfach die Neugier auf der einen Seite, aber wohl auch die Treue auf der anderen Seite Grund genug, um zur Tour zu kommen. Von den neun Auftritten melden am Ende fünf ausverkauft, aber auch Oberhausen zum Abschluss ist am 11.1., einem Donnerstag, sehr gut voll. Ganz nebenbei rettet man mit dem Konzept nicht nur die Kontostände der Band, sondern natürlich auch die Existenz eines ganzen Teams dahinter, da Tourneen schon längst zur Haupteinnahmequelle wurden. Während es draußen eisigkalt ist und der Boden rutschig-glatt, definiert sich Revolverheld auf der Bühne neu. 20 Jahre braucht es also, um mal richtig auf Anerkennung und Vorgaben zu scheißen und einfach mal sein ganz eigenes Ding durchzuziehen. Ohne Vorband wird es exakt auf die Minute um 20 Uhr dunkel. Das Publikum ist ziemlich gemischt, der Anteil an männlich und weiblich gelesenen Menschen ungefähr gleich. Das Durchschnittsalter wohl Ende 30, Anfang 40 – und im Styling bewegt man sich hier eher unauffällig mainstreamig.

Es ist tatsächlich gar nicht so einfach, einzuschätzen, mit welchem Gefühl die Crowd hier am Ende nach Hause geht. Mit Sicherheit gibt es genug Hardcore-Fans, die alles abfeiern, was die Hamburger tun. Aber besonders bei Gelegenheitshörer*innen, die die Band aus dem Radio kennen und wohl eher auf „Stört nicht beim Bügeln“-Musik stehen, können hier Irritationen auftreten. Die rund 95-minütige Show macht Kompromisse, aber eher kleine. Auf der 18 Tracks umfassenden Setlist inklusive einem Medley aus vier Songs vom Debütwerk aus 2005 gibt es zwölf Titel, die eben niemand kennt, ein Cover und vier wirkliche Hits. Das Konzert fühlt sich komplett anders an, als das, was man von Revolverheld kennt und womöglich eben auch mag und es klingt auch wirklich anders. Wie stark man sich darauf einlassen möchte, ist individuell.

Es mag sich zunächst absurd lesen, aber Revolverheld liefern ein ziemlich lautes, sehr energiegeladenes Konzert voller Songs, die jetzt nicht komplett den Rahmen des Erdenklichen sprengen, aber doch eindeutig out of the box gehen. Das mag jetzt gerade zum Losprusten sein, aber tatsächlich spielt die Band hier ein fast lupenreines Rockkonzert, bei dem es manchmal richtig knallt und Johannes Strate mehrfach shoutet und screamt. Nein, das ist alles kein Scherz. Erstmalig kann der Sänger mit der schönsten männlichen 0815-Mittellage Deutschlands mal richtig abgehen, was dazu auch noch technisch ganz hervorragend klappt. Das sind nicht nur Töne, die man ihm nicht zugetraut hätte, sondern eben besonders Gesangstechniken, von denen man nicht gedacht hätte, dass er sie in dem Umfang beherrscht und derartig schnell wechselt. Denn trotz starker Beanspruchung an neun aufeinanderfolgenden Tagen sind seine Vocals auch beim Tourabschluss richtig on point.

Die restliche Truppe lässt es auch mal richtig krachen. Verzerrte Gitarren, bretternde Drums, brummender Bass. Die Ü40-Fraktion kehrt zu den Wurzeln zurück, die sie angetrieben haben, selbst Musik zu machen, und das waren eindeutig härtere Klänge. Videobildschirme bleiben zuhause, es gibt exakt einen kleinen Konfettiregen, ein Banner und stimmiges Licht mit ein bisschen Stroboskop. Das war’s. Trotzdem sind die anderthalb Stunden besonders aus musikalischer Perspektive ziemlich gut gespielt und noch viel besser gesungen. R/H/1 könnte über weite Strecken auch ein JenniferRostock-Album sein, wenn Jennifer Weist am Mikro stände, manches ist ein wenig Nu-Metal und hat LinkinPark-Vibes auf Deutsch ohne Rap-Strophen. Das Schöne: Es wirkt nicht peinlich. Dankenswerterweise konzentrieren sich alle auf ihr Instrument, Johannes spielt deswegen auch keine Gitarre, sitzt einmal für wenige Sekunden am Piano und legt ansonsten alles in die Vocals.

Letztendlich ist ein Künstler*innen-Image aber dennoch meist recht klar definiert. Wie viele Revolverheld-Fans wollen, dass ihre Lieblinge plötzlich so auf die Fresse hauen? Auch wenn der Rock, der hier präsentiert wird, ein entscheidendes Revolverheld-Mittel beibehält, nämlich mindestens einen hookigen Refrain, wollen wohl viele hier trotzdem smoothere Songs zum Mitsingen. Da wären wir bei einem schwierigen Punkt, nämlich dem Liveerlebnis. Das hat nur in Teilen mit der musikalischen Qualität und den Kompositionen zu tun, aber eben stark mit der Liedauswahl. Kennt man locker zwei Drittel des Sets nicht, kann nicht mitgesungen werden. Man weiß als Zuschauer*in nicht, ob man sich auf das Happening fokussieren soll, also irgendwie körperlich mitgeht, oder man eher den Lyrics lauscht, um zu erkennen, was Johannes da gerade singt. Wer das Zweite bevorzugt, hat es in Oberhausen leider etwas schwer. Zwar ist die Band gut abgenommen, aber zumindest in den höheren Gesangsparts werden die Worte doch ganz schön verwaschen, was dazu führt, dass man eben nicht versteht, was gerade die Kernaussage des neuen Titels ist. Schade.

Einige Male ist der Applaus schlichtweg höflich. Es buht niemand, aber von Ausrasten ist man hier weit entfernt. Man klatscht eben, weil die Band, die man mag, gerade einen Song gespielt hat. Nach vier neuen Titeln von R/H/1 lockert man erstmalig mit einem Classic, nämlich „Das kann uns keiner nehmen“, die Stimmung auf. Und zack, alle singen mit, was nun mal für einige eine berechtigte Motivation ist, um zu Revolverheld zu gehen, die Handykameras gehen an, die Arme nach oben. Von den neuen Albumsongs schafft es genau einer, die Crowd mitzureißen. Der heißt „Eine letzte Chance“ und hat einen „Ohohoho“-Teil. Ja gut, ok. Logisch. Ist allerdings die schlechteste Nummer. Wäre wohl beim letzten Album einer der kraftvolleren Tracks gewesen, erhält hier aber eher das „Flutscht so durch“-Siegel.

Wiederum richtig geil ist der Power-Opener „Krieg mit mir selbst“. Auch textlich dreht sich R/H/1 viel um Selbstzweifel und -hass, missglückte Beziehungen, depressive Phasen und Ablehnung. Ein wenig spiegelt also diese gerade andauernde Phase eine Art Midlifecrisis wider. Spätestens bei „So kaputt“ und „Sperrig“ wird jedoch so ins Gesicht der Zuhörer*innen geprescht, dass man hier nur zwischen „Finde ich mega“ und „Finde ich furchtbar“ entscheiden kann, eben weil so untypisch Revolverheld. Unserer Meinung nach ist das aber eindeutig gut und gelungen. Auf Balladen verzichtet das Set fast komplett. Lediglich „Halt dich an mir fest“ kommt in einer Piano Version daher, „Lass uns gehen“ als Rauswerfer in einer reduzierten, tragenden Variante – und dann gibt es noch den neuen, unglaublich atmosphärischen, aufwühlenden Song „Henrik“, bei dem vielen vor der Bühne kurzzeitig der Atem stockt. Die Zeilen „Doch nimmt mich die Geschichte von dir ganz schön mit, 40 Jahre hast du geschafft – dann hat dich der Krebst gefickt“ kommen so unerwartet, rau und unverblümt, dass es einen trifft wie Kugelhagel. Dramaturgisch ein Brett.

Neben starken Gesangsskills ist auf R/H/1 auch Platz für längere Instrumentalsoli, sodass das eigentliche Set vor den Zugaben mit „Das Ende“, dem letzten Song der Platte, beendet wird, der sich viel Raum für Klangteppiche lässt. In den Encores warten mit einer rockigen „Ich lass für dich das Licht an“-Version und einem Metalcover von Stromaes „Alors on danse“ zwei weitere Überraschungen. In den Moderationen von Johannes wird deutlich, wie viel Laune alle haben. Es wird Gin Tonic getrunken, freundlich, aber schonungslos gesabbelt und davon gesprochen, dass es die schönste Tour von allen war.

Ob es die auch für Fans ist? Schwierig. Würde man alle Besucher*innen nach ihrer ehrlichen Meinung fragen, würden wohl viele so etwas sagen wie „Joa, war mal was anderes, aber ich mag die regulären Gigs mehr“. Ist natürlich eine These. Ein Image ist eben ein Korsett. Die Erwartungshaltung, die man sich über so viele Jahre erarbeitet hat, komplett über Bord zu werfen, ist mutig und egoistisch, aber vielleicht auch wegweisend und zukunftsorientiert. Kann man neue Fans gewinnen, die Zielgruppe etwas verlagern? Nun ja. Die Tour von Revolverheld im Januar 2024 ist jedenfalls anders. Anders ist erstmal immer spannend und interessant. Für die, die Revolverheld eher als softy Ausnahme präferieren, ist das neue Konzept pures Gold. Für die breite Masse wahrscheinlich grenzwertig. Ein Aufschrei gegenüber der zermürbenden Musikindustrie, ein riesiger „Ich“-Trip. Ein Konzept, das für Furore sorgt. Respekt hat die Entscheidung in jedem Falle verdient. Doch wie geht es jetzt weiter?

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Bild von Christopher

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