Welcome to Hövelhof! Na, wer weiß, wovon hier gesprochen wird? Wohl nur die Allerwenigsten. Die Gemeinde mit rund 16.000 Einwohner*innen gehört zum Kreis Paderborn, und von Paderborn kennt man als NRWler*in wohl auch nur den Flughafen. Verrückterweise gibt’s aber in eben jenem Dörfchen ein frisch konzipiertes Festival, für das man in unmittelbarer Nähe nicht mal Parkgebühren bezahlen muss. Und dann treten dort auch noch Revolverheld auf.
Klingt doch eindeutig so, als ob das Ganze eine Anreise wert wäre. Fast 5000 Leute besuchen am Samstag, dem 21.8.22, das Senne-Open-Air, welches auf dem Schützenplatz stattfindet. Eine Woche lang bauen hier Freiwillige auf, damit Hövelhof einiges an Bekanntheit dazugewinnen kann und mal richtig was geht. Und ja, wenn fast ein Drittel so viele Menschen zu einem Event gehen, wie in der Gemeinde leben, ist das schon eine beachtliche Zahl. Laut Autokennzeichen sind aber Menschen mit ihrem Fahrutensil aus einem viel größeren Radius angereist. Einige müssten gar über 100 Kilometer in Kauf genommen haben. Wir übrigens auch.
Doch wie schon angedeutet: Wenn man sich für dieses eine große Ding so intensiv vorbereitet und richtig Herzblut reinsteckt, dann kommt da am Ende auch was Vernünftiges bei rum. So ist das eintägige Festival, das erst zum zweiten Mal stattfindet, schon bei der Ankunft urig schön. Ein paar Gastro-Stände mit typischen Kirmes-Leckereien, hier und dort Merchandise, dazwischen ein Glücksrad von der Volksbank. Eben noch so richtig alte Schule. Immer wieder beobachtet man, wie sich Bekannte durch Zufall auf dem Gelände treffen und einen Schnack halten. Von Kindern bis zu Großeltern sind die Generationen gemischt. Die Stimmung ist eher Gemeindefest statt Konzert und dadurch aber eben auch super angenehm, sodass selbst zwei Stunden nach dem um 17 Uhr gestarteten Einlass noch Platz in den ersten Reihen vor der Bühne gefunden werden kann. Plausch, Bierchen und Currywurst sind eben genauso wichtig wie Musik.
Um 18:35 Uhr begrüßen der Veranstalter und der Bürgermeister die Gäst*innen und sind unverkennbar unglaublich stolz und erfreut, dass nach einem Zwangsausfall doch wieder die Hütte eingerannt wurde. 2019 wurde das Konzept erstmalig auf die Beine gestellt, um das Kulturleben in Hövelhof nach vorne zu bringen. Funktioniert offensichtlich. Um dann aber nicht nur mit dem Hauptact den Abend schnell zu Ende zu bringen, gibt es hier gleich zwei Vorbands, sodass man sich für nicht mal 50€, die man für den Eintritt bezahlten musste, sechs Stunden auf dem Festplatz aufhalten darf und fast drei Stunden davon mit Musik unterhalten wird.
Bevor Revolverheld als Headliner um 21 Uhr auf die Bühne dürfen, spielt zunächst Manuel Hahn, gefolgt von Timo Scharf. Manuel Hahn hat ein halbes Heimspiel. Der Paderborner fühlt sich äußerst wohl, kennt die Ecke seit klein auf und war sogar bei der ersten Ausgabe des Senne-Open-Airs schon am Start. Die 40 Minuten Showtime, die um 19 Uhr beginnen, werden von ihm mit relativ beliebigem Deutsch-Pop gefüllt, der eher ohne groß anzudocken an einem vorbeiflutscht, aber immerhin sehr sympathisch mit persönlichen Ansagen und viel Motivation vorgetragen wird. Hahn scherzt und weiß jede Aufmerksamkeit zu schätzen. Zusätzlich ist der Sound am Anfang noch ganz schön breiig, was es den Zuschauer*innen erschwert, den unbekannten Lyrics zu folgen.
Wesentlich verhaltener funktionieren hingegen die 20 Minuten, die Timo Scharf um 20 Uhr spielt. Der Hamburger ist keine drei Tage zuvor erst als Vertretung für Mads Langer ausgewählt worden, der aus reisetechnischen Gründen nicht kommen konnte. Timo ist ebenso wie der Headliner Revolverheld aus der Hansestadt und macht englischsprachigen, sentimentalen Singer/Songwriter, zu dem er von einem Klavier begleitet wird. Das ist kompositorisch und gesanglich auch gar nicht so schlecht, nur völlig deplatziert. Lockerte Hahn die Stimmung auf, zieht Scharf sie mit zu viel Tristesse und introvertiertem Verhalten ganz schön runter. Besser mal auf der Couch im Herbst als auf dem Schützenplatz im Hochsommer.
Vier Stunden Vorlauf sollten dann aber doch genügen, um so richtig warm zu werden. Die Atmosphäre ist gespannt wie entspannt, das Wetter macht trotz einiger Regenprognosen durchgängig mit. Um Punkt 21 Uhr – Chapeau für die Orga, da können sich andere Festivals aber einiges von abschauen – ist nicht nur die Sonne fast komplett untergegangen, auch das Licht auf der Bühne geht aus. Die Aufmerksamen wissen, was das heißt. Wenige Sekunden später beginnt das leicht mystische Intro und die vierköpfigen Revolverhelden, die mittlerweile auch alle die 40 geknackt haben, betreten zuzüglich ihrer zwei treuen Bandkollegen die Stage.
Wahrscheinlich gibt es kaum eine Band, die besser zu dem Happening passt. Es handelt sich eben um kein typisches Revolverheld-Konzert, zu dem nur Fans im passenden Shirt schreiten – wobei es davon auch einige gibt -, sondern um ein Fest in einer Gemeinde, zu dem man ebenso geht, weil man keine fünf Minuten hinlaufen muss und es für die Nachbar*innenschaft eine außergewöhnliche Veranstaltung ist. Exakt das matcht ganz fantastisch mit dem Hamburger Quartett, das in 17 Jahren mehr Hits lieferte, als man zunächst im Kopf präsent hat. Das beweisen die 110 Minuten Spielzeit.
Johannes Strate, der zwischen E- und Akustikgitarre sowie Schellenkranz wechselt und jedes dieser Instrumente mit Gesang verbindet, versprüht mit Kristoffer Hünecke als Leadgitarrist äußerst gute Laune. Auch für diese Beiden ist es ein kleines Heimspiel, verbinden sie mit der Gegend nämlich ihre zweite Leidenschaft Tennis. So wird gleich mehrfach zwischen den Songs ordentlich erzählt und gewitzelt, ganz frei von auswendiggelernten Dankesreden. Sympathie und Unterhaltungswert sind vorhanden. Kris ist sogar noch mehr als Johannes unglaublich nah am Publikum, singt als Nicht-Frontsänger permanent mit, wirkt stets emotional, gerührt und auf Blickkontakt.
Denn ganz ohne faden Beigeschmack läuft das Prozedere für die Band nicht ab. Erst vor Kurzem wurde bekannt gegeben, dass die anstehende große Hallentour im Winter komplett (!) abgesagt wurde. Die Befürchtungen, wegen Corona nicht spielen zu dürfen und nicht genügend Karten verkaufen zu können, ist aufseiten des Veranstaltungsteams zu groß. Sidenote am Rande: Leute, wenn ihr eure Acts unterstützen wollt, kauft Tickets, sollte es in eurem finanziellen Rahmen sein. Überlegt nicht bis zur letzten Minute. Revolverheld gehören zu den größten Bands des Landes der letzten zwei Dekaden und können ihre Tour nicht spielen. Lasst euch nicht von ausverkauften Gigs von Rammstein und Co. blenden – das sind alles verschobene Konzerte aus den letzten zwei Jahren. Die Branche steht weiterhin an der Klippe und ist kurz vorm Abrutschen.
Doch das nur als Einschub. Wer 18 Jahre zusammen zockt, ist aufeinander abgestimmt. Die Band patzt keine Sekunde, der Sound ist mittlerweile ordentlich abgemischt und alles wirkt routiniert. Zum Glück nur während der Songs, sodass eben für die Zwischenparts Raum für Improvisation bleibt. So entstehen eben Gespräche über das regionale Bier. Letztendlich trinkt Strate aber während des Gigs lieber Weißwein. Why not?
Für die hinteren Reihen auf dem Gelände gibt es links und rechts große Bildschirme. Ansonsten ist der Fokus die Musik. Großes Banner mit dem Bandnamen, abwechslungsreiches Licht, das war’s vorerst. Macht aber nicht viel, denn die dickgefüllte Playlist aus über 20 Titeln ist fast perfekt. Jedes der sechs Alben wird berücksichtigt, das ist nicht selbstverständlich. Auch die eingebundenen neuen Lieder aus der 2021 erschienenen LP “Neu erzählen” fügen sich stimmig ein. Songs mit lockerem Radio-Pop-Rock sind bei dem Set in der Überzahl, einige davon haben tolle Texte, manche zelebrieren Nostalgie-Gefühle für die Gen Y.
Etwas schade ist, dass es trotz guter Instrumentierung ein bisschen zu selten knallt. Revolverheld sind manchmal braver als nötig, manchmal doch zu viel Formatradio statt Rock’n’Roll. Dass sie das aber durchaus können, beweisen die etwas zu rar gesäten Stampfer “Ich werde nie erwachsen”. Auch ein “Darf ich bitten” hätte man in die Setlist packen können, um zumindest etwas mehr zu eskalieren.
Andererseits klingt Johannes dafür 1:1 so wie in den Studioversionen und singt nur eine sehr kleine Anzahl an Tönen nicht ganz mittig. Zweifelsohne zählt er weiterhin zu den markantesten männlichen Stimmen des Landes und hebt sich nach wenigen Zeilen immer von den anderen aus der hiesigen Deutsch-Pop-Szene ab. Die Vocals, die poppigen Ohrwurmmelodien und die lebensnahen Texte führen auch dazu, dass man am Ende des Abends von einer richtigen Feel-Good-Show sprechen darf. Da sind “Oho ho ho ho ho ho”-Chöre bei “Das kann uns keiner nehmen” genauso elementar wie die großen Mitsingnummern “Spinner” und “Ich werd’ die Welt verändern”, aber auch bittersüße Filmcollagen wie in “Liebe auf Distanz”.
Und dann gibt es zweimal doch etwas fürs Auge und fürs Publikum. Bei dem 2006-Klassiker “Freunde bleiben” springt Johannes in den Graben und klatscht Fans in den vordersten Reihe ab. Perfekter Insta-Content. Zu dem sommerlichen Fernwehtitel “Lass uns gehen” landet plötzlich eine Unmenge an riesiger Luftballons in Schwarz und Weiß im Publikum und wird den gesamten Track über hochgehalten. “Halt dich an mir fest” ist Gefühlskino, nur noch getoppt durch die sehr persönliche und wirklich pur authentisch vorgetragene neue Ballade “Das Größte”, die der Frontmann für seinen Sohn schrieb. Wer ihm das nicht abkauft, scheint einen Eisblock in sich zu haben.
Entlassen wird das Publikum von Revolverheld in Hövelhof mit dem Platin-veredelten “Ich lass für dich das Licht an”, das bis zum Ende des ersten Refrains erst nur von den Zuschauer*innen gesungen wird, die gleichzeitig mit ihren Handytaschenlampen leuchten. Ein wahrer Gänsehautmoment, den wohl jede*r mit nach Hause nimmt. Anschließend gibt es den ganzen Song nochmal von der Band. Die bedankt sich mehrfach dafür, endlich wieder vor richtigem Publikum spielen zu dürfen. Es sei eben etwas ganz anderes, ob das Publikum im Auto säße, in weit voneinander entfernten Strandkörben oder gar vor Handybildschirmen im heimischen Wohnzimmer zuschaut. Dem kann wohl jeder Mensch vor der Bühne nur zustimmen. Schaut man danach in die Gesichter der Leute, weiß man, hier geht wohl kaum jemand ohne Glückseligkeit ins Bett. Deswegen: Tickets kaufen. Tut euch gut, tut den Künstler*innen gut, tut allen weiteren Beteiligten gut. Kultur bleibt unersetzbar. Hövelhof möchte sie in dieser Form sicherlich auch nicht mehr missen.
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Es war ein fantastischer Abend. Auch das Wetter hat gut mitgespielt. Leider verging die Zeit viel zu schnell. Immer wieder gern.
Wie schön, dass du so einen tollen Abend hattest, Petra!
Ich fand’s auch echt gut und hoffe, beim nächsten Mal wieder dabei sein zu können 🙂
Liebe Grüße aus Dortmund
Christopher