Scala & Kolacny Brothers, Colosseum Theater Essen, 13.09.2019

Chormusik. Ihr kennt uns ja, wir gucken gerne mal über den Tellerrand. Heute brechen wir also abermals in neue Gefilde auf. Vielleicht einen Schritt zu weit? Das Colosseum Theater in Essen präsentiert am 13.09.2019, einem Freitag, eine Formation, die es hier in der Gegend eher seltener zu hören gibt: Scala & Kolacny Brothers aus Belgien.

Klingelt es schon beim Namen? Falls nicht, helfen wir gern auf die Sprünge: der seit 1996 existierende Chor weist einige Merkmale auf, die man regulär nicht vergisst, wenn man jemals davon gehört hat. Das knapp 60 Mitglieder umfassende Gesangsensemble besteht zunächst ausschließlich aus weiblichen Personen. Die sind mindestens 14 Jahre jung und maximal 24 Jahre alt und damit definitiv nicht mehr in der Urbesetzung anzutreffen. Hingegen seit Anfang an dabei sind die zwei musikalischen Leiter Stijn und Steven Kolacny. Steven sitzt am Piano und schreibt diverse Arrangements, Stijn dirigiert.

Auch dieses Mal gelangt die ungewöhnliche Gruppe nicht auf normalen Wegen nach Essen, sondern auf spezielle Einladung durch den Lions Club Essen Baldeney. Ein Verein, der gemeinnützige Projekte für Kinder und Jugendliche in Not in Essen ins Leben ruft oder unterstützt. Solche Einladungen kann und sollte man auch wirklich nur schwer abschlagen. Dementsprechend befinden sich aber im Colosseum nur vereinzelt wirklich große Fans des Chores und viel mehr Anhänger des Vereins, der an diesem Abend sein 40-jähriges feiert. Der Dresscode ist gehoben, nicht selten sieht man Abendgarderobe und Menschen, die sich untereinander quasi alle zu kennen scheinen. Zur Eröffnung gibt es kein klassisches Opening der Künstler, sondern eine Rede von einem der Vorsitzenden, die allerdings weder gut vorbereitet noch gut vorgetragen klingt. Sei es drum, es handelt sich um einen Charityabend, da dürfen gern drei Augen zugedrückt werden.

Zum Glück müssen bei den Künstlern auf der Bühne gar keine Augen zugedrückt werden. Dass Chor nicht gleich Chor zu sein hat, wird an jenem Abend mehrmalig unter Beweis gestellt. Eingestaubte Kirchenmusik bleibt unbeachtet – Pop is the word. Und zwar eine Art extravagantes Best Of der Popgeschichte. Mittlerweile werden Social Media und Videoportale nur so überschwemmt von mehrstimmigen Coverversionen, da ist es nicht immer einfach, ein Highlight zu finden. Scala bieten Highlights. Mehrere. Ihr neues Programm heißt „Mädchennamen“ und wird in Essen als Previewshow gezeigt, bevor in wenigen Wochen die große Tour losgeht.

Mia., Rammstein, Die Ärzte, Fettes Brot, Die Toten Hosen. Moment mal… waren die nicht aus Belgien? Doch, aber warum darf man nicht trotzdem auf Deutsch singen? Und was zur Hölle ist das für ein gruseliger Mix an Musikern, die gecovert werden? Braucht man das? Nicht zwangsläufig, aber wenn man sich traut, so schamlos alles durcheinander zu würfeln, muss man liefern. Und das tun sie. Nach der Anmoderation des Veranstalters ist um 20:10 Showbeginn. 110 Minuten bringen die Belgier in einer untypischen Besetzung diverse große und kleine Hits aus mehreren Jahrzehnten, in mehreren Sprachen und runden mit selbstkomponierten Werken ab. Von den ungefähr 60 teilnehmenden Mädels sind 16 in Essen dabei. Dazu gibt es die beiden Kolacny Brüder und eine dreiköpfige Band, bestehend aus Bass, E-Gitarre und Drums, die – Obacht – einen richtig derben Rocksound liefern.

Scala benötigen gar nicht so viel, um ihr Staging wirkungsvoll an den Zuschauer zu transportieren. Einen extrem fetten Bandsound, der leider am Anfang etwas zu laut daherkommt und die Stimmen übertüncht, jedoch im Laufe der Show besser klappt; dazu schlichte Schwarz/Weiß-Outfits mit nur geringen Unterschieden in den Accessoires; zwei hochmotivierte Leiter; perfekt getimte Lichteffekte und ein gutes Händchen bei der Songauswahl. Direkt beim Opening fliegen einem ordentlich die Ohren weg – Nine Inch Nails als Chormusik. Was für den einen wie ein wahrgewordener Albtraum klingt, kann mit etwas Toleranz und Offenheit sehr gefallen. Viel zu oft erstickt Crossover zwischen Klassik und Pop an seinem aufgeplusterten Überhang – siehe David Garrett –, genauso oft kippt moderner Chorgesang in den Kitsch – siehe Pentatonix. Scala hingegen lassen bis auf das wirklich aufwendige Licht all das sein, verzichten auf peinliche Videos auf Leinwänden, laden Gottseidank keine Balletttänzer ein und setzen stattdessen auf die Kraft der Statik. Bei vielen Songs stehen die Sängerinnen und bewegen sich nicht. Sie gehen höchstens mal ein paar Meter, um sich neu zu formieren. Es wird sich auf den Gesang konzentriert. Sie schauen ins Publikum oder auf den Chorleiter. Gerade durch diese Ruhe fürs Auge erweckt der Klang im Ohr noch größere Energie und hüllt einen komplett ein.

Dass bei mehreren Titeln eine Band zum Einsatz kommt, gibt dem Chorsound einen hervorragenden Anstrich. Scala schafften es tatsächlich bereits einige Male mit ihren Interpretationen in die Single- und Albumcharts diverser Länder – und sogar in den Trailer von David Finchers „The Social Network“ oder in Werbungen von deutschen Bankfirmen. Scheint also durchaus zu gefallen. Fans der Truppe bekommen im aktuellen Programm natürlich die bekannten Versionen von „Engel“ (Rammstein), „With Or Without You“ (U2), „Hallelujah“ (Leonard Cohen) „Every Breath You Take“ (The Police) oder „Creep“ (Radiohead). Aber das Programm heißt schließlich nicht umsonst „Mädchennamen“ und hält einige Songs parat, in denen es um weibliche Vornamen geht, z.B. „Emanuela“ (Fettes Brot), „Die fette Elke“ (Die Ärzte) oder „Cordula Grün“ (Josh.). Dank der Band erwecken aber eben bereits oft gehörte Titel wie „Engel“ zum neuen Leben und klingen in der zweiten Hälfte genauso rockig wie das Rammstein-Original. Beim Nine Inch Nails-Opening gibt es mystische Stroboskopeffekte, die die Gesichter der Sängerinnen noch nicht enthüllen – und bei „Black Horse And The Cherry Tree“ (KT Tunstall) wird sogar richtig getanzt. Ob Metal, Deutscher Hip-Hop, 80s-Classics oder sogar Trance. Wild, verrückt, mutig und unkonventionell. Eine Show mit einer Klimax und einer konsequenten energetischen Entladung im Finale.

Scala kriegen immer die Kurve, um nicht kitschig oder trashig zu wirken. Tanzen? Gern, aber dezent. Gefühlvoll? Gern, aber auch lieber ruhig als mit großen Gesten. Für die großen Gesten ist nämlich nur Stijn Kolacny zuständig, dessen Dirigentenarbeit einem Ausdruckstanz inklusive Publikumseinbindung ähnelt und einen gleichzeitig zum Lächeln und faszinierten Beobachten bringt. Bruder Steven am Piano ist ebenso ambitioniert, steht beim Spielen gerne mal auf, arbeitet gekonnt mit Crescendo und Decrescendo, unterstützt den Chor und bietet keine One-Man-Show. Beide führen mit lockeren, teils selbstironischen Moderationen durch den Abend, erzählen ein paar Facts zu den Frauen oder den ausgewählten Titeln. Am beeindruckendsten bleibt jedoch das unglaubliche Timing innerhalb der Gruppe. Man muss wirklich sehr genau zuhören, um Einsätze mitzubekommen, die nicht 100% synchron sind. Die gibt es selten und fallen wohl kaum jemandem auf. Der Klang der Mädchen ist angenehm, keine Stimme dominiert, sondern trägt ihren Teil zum stimmigen Gesamteindruck bei. Dass solche Shows funktionieren, obwohl die Besetzung stets ein wenig variiert, verdient große Anerkennung.

Wer also weiterhin bei dem Stichwort „Chor“ an schlechte Gesangsensembles Ü60 zur Weihnachtszeit denkt, sollte sich davon endgültig verabschieden. Scala & Kolacny Brothers gehören völlig zu Recht zu den erfolgreichsten Chören Europas. Das wird nicht jedem gefallen und niemals das größte Publikum erreichen – aber wer sich traut, wird einen sehr musikalischen Abend erleben, der zeigt, dass Covern nicht unbedingt YouTube-Akustikgitarre heißen muss.

Und so hört sich das an:

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Foto von Christopher.

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