4000 Menschen haben sich eingefunden, schlängeln sich kilometerlang die Schanzenstraße hinab in Richtung Döner- und Bekleidungsläden. Viele tragen Caps, einige Streetware-Marken, hier und da blitzt ein Tattoo durch. Es riecht nach einem Konglomerat aus Parfüm, Aftershave, Rauch und anderen Drogen. Etwas speziell ist dieser Cocktail, aber doch normaler als bei Name und Kunst der Gastgeber annehmbar. Die Suicideboys gastieren heute im seit Wochen ausverkauften Palladium – zwei Männer Anfang 30, ihre Lebenserfahrungen gepresst in knackige Zweiminüter. Rapmusik als Outlet für ihre “wir gegen den Rest der Welt”-Haltung, verpackt in ausgefuchste Flowketten, immer unterschwellig geplagt von Depressionen und (Sehn)Süchten.
Eine Selbstverständlichkeit ist es nicht, dass Ruby Da Cherry und Scrim – so nennen sich die zwei Rapper – mittlerweile über zehn Millionen Menschen monatlich zuhören. Immerhin: Wenig greifbar sind vieler ihrer Songs. Melodien zwar gibt es streckenweise viele, Gefallen an ewiger Wiederholung solcher Parts scheinen die Zwei aber nicht zu finden. Entsprechend kurz fallen die Songs aus, entsprechend viel Text passen so manchmal in wenige Minuten. An erster Stelle stehen so meist Pose und Ästhetik. Eigentlich füllt soetwas keine Arenen und Hallen. Bei den Suicideboys ist das anders. Das hat vielerlei Ursache.
Ein erstes Indiz liefert der Tourkontext. Auf der “Grey Days Tour” begleiten die Gruppe befreundete Rapper, manche untergekommen beim bandeigenen Label G59-Records, manche langjährige Begleiter. Dieses Gemeinschaftsgefühl, es dominiert. Gleich vier Warmups gibt es demzufolge heute, man supportet sich gegenseitig. Euphorisch begrüßt werden alle der Acts, wohl niemand aber so sehr wie Ski Mask The Slump God. Mit Rucksack und orangener Warnjacke hüpft der über die Bühne während die Menge so eskaliert als stünde schon der Headliner vor ihr. Ernüchternd aber: Gut gerappt oder performt ist hier wenig, quasi alles läuft vom Band, das Mikrofon ist an vielen Orten, nur nicht an Ski Masks Mund. Besser machen das zuvor Germ und Shakewell, die später nochmal Ruby und Scrim Gesellschaft leisten.
Vier Jahre sind vergangen seitdem die Suicideboys das letzte Mal in der Domstadt vorbeischauten. Viel ist seitdem geschehen. Ein Ausschnitt: Eine Pandemie brach aus, Trump wurde zum Ex-Präsidenten und Tiktok entwickelte sich zu einer geschmacksbildenden Plattform. Von den Retro-Ästhetiken auf Tiktok wiederum profitieren auch die Suicideboys, die in der Zwischenzeit mächtig neue Songs produziert haben. Zwei Alben und EPs sind seitdem erschienen. Das Songmaterial selbst zwar liegt nah am Zeitgeist, Artworks, Auftreten und Co aber schlägt Brücken von Metal zu Emo zu Horror. Es bleibt nicht dabei: In den kurzen Pausen zwischen den Rappern laufen ausschließlich Artists, die die Anwesenden wohl ausschließlich über den Tiktok Retro-Hype kennen dürften. Auf Cher folgt Patty Smith, auf ABBA wiederum Devo.
Doch die Anziehungskraft der Suicideboys reicht weiter als reine visuelle Ausstrahlung. Fühlt man sich der Außenwelt nicht zugehörig, so lebt man hier Zugehörigkeit. Scrim stellt wenige Minuten nach Konzertbeginn klar, er habe kürzlich einen DNA-Test gemacht und sei zu 50% deutsch. Die Menge eskaliert. Da steht wer auf der Bühne, der ist einer von uns – dieser Eindruck entsteht auch, wenn der 33-Jährige knapp 70 Minuten später über mentale Krisen, von Depressionen und Drogensucht spricht. Holt euch Hilfe, nur das wirkt seine Message. Es folgt das Stück “…And to Those I Love, Thanks for Sticking Around”, auf dem die Zwei ihre Lebenskrisen verarbeiten. Vor der Bühne währenddessen ist man auch gemeinsam: Hebt einer das Handy, dann alle. Fängt eine an zu moshen, dann alle (so sehr, dass vor dem Hauptact ein Crewmitglied die Bühne betreten und alle Anwesenden darum bitten muss, wenige Schritte zurückzutreten). Immer wieder brüllen alle Schlagworte (wie den Labelnamen G59 oder den Ausruf “Fuck yeah”) im Chor.
Die Anziehungskraft der Suicideboys also liegt wohl in all dem: Einem Zugehörigkeitsgefühl in der Ablehnung der Mehrheitsgesellschaft, einer sehr bestimmten Ästhetik und dem Gefühl, irgendwie Teil einer Untergrundbewegung zu sein – mit Millionen anderer Menschen.
Mehr Suicideboys gibt es hier.
Und so hört sich das an:
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Suicideboys live 2023:
19.03. – Berlin, Verti Music Hall
20.03. – Hamburg, Sporthalle
26.03. – München, Zenith
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