Corona ließ niemanden kalt. Die einen beschäftigten sich emotional intensiver damit, die anderen weniger. Musiker*innen fanden ihren ganz persönlichen Umgang mit dem Virus, das sich grade ganz langsam ausschleicht bzw. so zu händeln ist, dass es nicht mehr allzu doll stört. AnnenMayKantereit machten aus der Not eine Tugend und nahmen gar ein fragiles Lockdown-Album auf.
“12” stand für “Kurz vor 12”. Es brennt. Es ist ernst. Während man unzählige Stunden allein mit sich zuhause verbrachte, nutzten Henning, Christopher und Severin die Macht der neuen Medien und entwickelten über die Distanz ihre gemeinsame dritte Platte. Die klang sehr düster, wenig feingeschliffen, schwermütig und nicht in Ansätzen so ausgearbeitet wie die zwei LPs davor, die gefühlt keinen Player von Menschen U35 ausließen. Man wagte einen recht radikalen Einschnitt, der letztendlich nicht einfach nur ein “Uns ist so ‘n bisschen langweilig”-Projekt vorstellte, sondern wirklich als drittes Album herhielt. Immerhin dauerte es nun zweieinhalb Jahre bis zum neusten Material.
“12” war anders und dadurch wohl auch für viele in der Fanbubble ein wenig überfordernd, eventuell gar enttäuschend. Waren viele eigene Probleme doch schon groß genug, muss man nicht unbedingt noch die der anderen auf den Ohren haben. Schlecht war das alles nicht, nur eben der Soundtrack für eine düstere Zeit, durch die wir halt durchmussten. Im Nachhinein betrachtet tat aber dieses Konzeptding dem im Köln gegründeten Trio ziemlich gut. Zwar stand man mit dem aktuellen Longplayer statt zwei Jahre lang nur noch gute vier Monate in den Charts, konnte sich so aber von dem Ultrahype ein wenig freischwimmen, Erwartungen etwas herunterschrauben und sich neu sortieren. Genau das kommt Es ist Abend und wir sitzen bei mir sehr zu gute.
Zugegeben: AnnenMayKantereit waren irgendwann dermaßen omnipräsent, dass man sich den Sound vielleicht ein bisschen leid hörte. Das schwere zweite Album “Schlagschatten” lieferte zwar nur geringfügig schlechtere Qualität als das bahnbrechende Debüt “Alles Nix Konkretes”, aber man merkte doch den Erwartungsdruck. Man wollte gefallen, man wollte nachliefern. Mit Sicherheit wollen die Drei auch 2023 liefern, aber setzen tatsächlich ganz neu an. Es ist Abend und wir sitzen bei mir klingt frisch, anders, leichtfüßiger, trotzdem nostalgisch – und richtig, richtig gut.
Für viele mag es bedauernswert sein, kehrt die Band nämlich nach dem reduzierten Lockdown-Werk nicht zurück zu Indie-Stompern mit der Durchschlagskraft eines “21, 22, 23”, man bleibt schon mehr bei kleineren Arrangements. Allerdings sprüht die neuste Platte nur so vor Ideenreichtum. Selten klangen 15 Tracks so unverkennbar nach dem bekannten Sound und gleichzeitig neu. AnnenMayKantereit haben sich hörbar weiterentwickelt, lassen ein wenig das Ewige-Studierenden-Image los, bieten weniger Identifikation durch Texte und dafür viel mehr Storytelling.
Es ist Abend und wir sitzen bei mir ist das andere Ende des Kontinuums, was die Forster–Bourani–Poisels dieser Nation liefern. Es ist nämlich lyrisch äußerst konkret, nicht vollgepackt mit Bildern, die die Zuhörer*innen auf Anhieb verstehen und noch weniger mit Worthülsen, die sowieso auf jedes Leben zutreffen. Erkennt man sich hier wieder, trifft das dadurch emotional auch ganz anders, weil es eine überschaubare Situation karikiert.
Dazu gibt es so wunderbar viele musikalisch wertvolle Momente, die den Ohren verdammt gut tun. Keine permanent vorhersehbaren Harmonien, keine Akkordfolgen nach Schema F, sondern bemerkenswerte Musikalität, die auch in der Produktion fantastisch abgenommen wird und zwischenzeitlich das Gefühl vermittelt, man säße mit den Jungs im Proberaum. Komischerweise gehört das mit Gold-ausgezeichnete “Ausgehen” – das bereits vor exakt drei Jahren veröffentlicht wurde und somit eigentlich zur “12”-Ära gehört, da nur eben so gar nicht draufpasste – zu den wahrscheinlich drei schlechtesten Nummern.
Umso besser ist direkt der Einstieg mit dem groovigen “Lass es kreisen”, das dazu motiviert, mal wieder den Arsch hochzukriegen und sich den Alltagsstress aus dem Körper zu schwofen. Sowieso drehen sich viele Texte um Selbstverarbeitung, Me-Time und Selfcare. Am Ende sind es aber die fast schon Jazz- und Chanson-artigen Loungesongs, die einfach voll ins Schwarze treffen. Allen voran das sensationelle “Weißhausstraße”, das ohne Anstrengung zur absoluten Top-Riege sämtlicher AnnenMayKantereit-Songs gehört.
Ein wenig Leichtigkeit darf es dennoch sein, so ist “Erdbeerkuchen” ein vortrefflicher Mittelpunkt zwischen coolem Ohrwurm und Witzigkeit. Ähnlich humorvoll, aber ganz anders gestaltet ist der Rückblick auf die 90er in “Als ich ein Kind war”. Bei “Tommi”, das Henning in Teilen auf Kölsch singt, wird man melancholisch, ohne selbst betroffen zu sein. Für die Heartbroken-Fraktion wartet “Lottoscheine” darauf, entdeckt zu werden.
Etwas weg vom Indie-Rock, etwas weg davon, die große Menge begeistern zu müssen, hin ins heimische Wohnzimmer, in dem man intimere Atmosphäre zaubert, in dem man auf Augenhöhe agiert. AnnenMayKantereit zeigen eine weitere Facette und schießen sich damit erneut in die Liga der besonders guten deutschen Acts. Das mag womöglich ein, zwei Fans kosten, aber dafür die, die mit ihnen reifen, bestimmt begeistern.
Und so hört sich das an:
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Die Rechte fürs Cover liegen bei ANNENMAYKANTEREIT RECORDS / UNIVERSAL MUSIC.
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