AnnenMayKantereit – Schlagschatten [Doppel-Review]

Annenmaykantereit - Schlagschatten

Wenn eine Band derart Wellen schlägt, wie es die Kölner von AnnenMayKantereit seit einigen Jahren tun, dann kann man die neue Platte des Quartettes auch aus zwei verschiedenen Perspektiven betrachten. So uneinig sind sich Christopher und Jonas dann aber doch gar nicht. Und los!

Jonas sagt dazu:

Frauengeschichten spielten für die Pop-Rocker AnnenMayKantereit schon immer eine große Rolle. Auch auf ihrem Zweitling „Schlagschatten“ findet man viele solcher Trennungs- und Liebesgeschichten. Die Band, die dafür bekannt ist, dass hinter jeder Geschichte eine echte Person steht – Geschichten aus dem Leben also – öffnet sich auf dem Nachfolger des Durchstart-Multiplikator-Albums „Alles Nix Konkretes“ jedoch auch vermehrt unbekannten Gefilden, wagt sich an Gesellschaftskritik, an traurige Erfahrungsberichte.

Was bleibt, ist, dass jedes Thema, jeder Song, jede Zeile die vier Bandmitglieder betreffen und mitreißen muss. Jeder muss sich mit dem Inhalt identifizieren können – ganz demokratisch. Beschäftigt sich „Weiße Wand“ also mit unangenehmen gesellschaftlichen Entwicklungen, wie dem Rechtsruck, der Globalisierung in der Post-Kolonialzeit-Ära und Sexismus, so tut er das nicht, weil Sänger Henning May Lust auf Politikdiskussionen hatte, sondern weil die Band im Plenum beschloss, es sei nun mal an der Zeit, derartige Themen anzusprechen. Auch musikalisch stellt das Stück mit seiner elektronisch anmutenden Instrumentierung wohl den größten Schritt aus der doch etwas reduzierten (Akustik-) Gitarre-Bass-Schlagzeug-Formel dar. Da bleiben andere Songs näher an der eigenen Komfortzone. Man betrachte nur die erste Singleauskoppelung „Marie“, die nicht nur das altbekannte Liebesmotiv behandelt, sondern ebenfalls musikalisch auf die typische Formel setzt. Ein guter Song ist das Stück trotzdem!

Es fällt außerdem auf, dass ein großer Teil der neuen Songs deutlich tanzbarer und rockiger ausfällt als viele der alten Nummern. Da wären das flotte „Freitagabend“, das zuckelige „Nur Wegen Dir“ oder die Rock-Ballade „In Meinem Bett“. Die düsteren, unangenehmen Aufarbeitungen der eigenen Probleme findet man dann wiederum eher gen Ende der fünfzigminütigen Platte. Hier greifen AnnenMayKantereit entweder auf klavierlastigere Instrumentierungen oder reduzierte Band-Arrangements zurück. „Hinter Klugen Sätzen“ thematisiert schonungslos die depressiv anmutenden Tendenzen Mays, „Sieben Jahre“ verarbeitet auf herzergreifende Weise den Tod einer dem Protagonisten nahestehenden Person und „Schon Krass“ beschreibt ungeschönt die ambivalente Beziehung vieler Künstlerfiguren zu realitätsverzerrenden, illegalen Substanzen.

Zwischen diese neuen Themengebiete streut das Quartett immer wieder altbekanntes. „Jenny Jenny“ treibt sich musikalisch zwischen verspieltem Bass und Akustikgitarre umher und sticht mit seinem lockeren Text über eine Flugbegleiterin mit Namen „Jenny“ zwischen den vielen ernsteren Stücken des Mittelteils hervor. Dieser Kontrast zwischen Wagnis und Tradition steht schlussendlich ziemlich repräsentativ für die gesamte Platte. AnnenMayKantereit evolvieren ihren Sound auf ihrem Zweitwerk nicht zu irgendeinem komplett neuartigen Gemisch, verbinden jedoch das, was Fans an der Musik der Kölner schätzen, mit neuen Ideen und Ansätzen und greifen dabei auf vielschichtiges und ausgereiftes Songmaterial zurück. In dieser spannenden Weiterentwicklung liegt auch begründet, warum „Schlagschatten“ vor „Alles Nix Konkretes“ klar die Nase vorn hat. Zwischenmenschliche Beziehungen sind aber natürlich noch immer nicht aus dem AnnenMayKantereit-Kosmus wegzudenken.

Christopher sagt dazu:

Wenn man Liveauftritte ausverkauft, ohne ein richtiges Album veröffentlicht zu haben, muss man schon was draufhaben. Für die Jungs von AnnenMayKantereit war das, was irgendwie absurd klingt, einerseits ein riesiges Kompliment an ihre hervorragenden Livequalitäten, andererseits ein enormes Druckgefühl beim Release des ersten Longplayers. „Alles Nix Konkretes“ schaffte im März ’16 dennoch den Sprung an die Pole der Albumcharts und sackte Dreifach-Gold ein. Dabei gab es nach unzähligen Lobeshymnen auch die ersten kritischen Stimmen. So wie das halt immer ist, wenn eine Indie-Rock-Band, die dazu noch auf Deutsch singt, die Charts anführt und in aller Munde ist und aus kleinen Clubs plötzlich Hallen mit mehreren Tausenden von Zuschauern werden. Kann man lieben, kann man lassen. Fakt ist aber, dass die Jungs sich die Finger wund gespielt haben, jedes Festival mitnahmen, das sich so anbot und eben auch einfach ein richtig gutes Debüt abgeliefert haben. Ende der Diskussion.

Wie fühlt sich nun wohl der Druck an, nachdem der Erfolg nochmal wuchs, das Album sich blendend verkaufte, einige Songzeilen zu geflügelten Worten der letzten Jahre wurden und man ein wenig als die Hoffnung auf dem nationalen Musikmarkt gilt neben dem ganzen ätzenden Einheitsbrei, der sonst so im Deutsch-Pop rumdudelt? Christopher, Henning, Severin & Malte haben sich 2 ½ Jahre Zeit genommen, um sich und neuen Ideen raumzugeben und was ist dabei rumgekommen? Ein grandioses Nachfolgewerk.

„Schlagschatten“ macht tatsächlich fast alles richtig – und das, obwohl die Erwartungen utopisch hoch lagen. Wo ist der nächste Radiohit im Stil von „Pocahontas“, wo die nächste Schmachtballade a la „Barfuss am Klavier“, wo der nächste Partytrack wie „21, 22, 23“? Die Band entscheidet sich für die perfekte Lösung und liefert in Teilen bekannte Elemente, kombiniert mit ausgeklügelten, pfiffigen, aber dennoch stimmigen Neuerungen. Besonders auf der reinen instrumentalen Ebene ist „Schlagschatten“ dem Vorgänger um mehrere Schritte voraus. Es ist außerdem ein Album, das über Kopfhörer besonders gut funktioniert, da es eben viel zu entdecken gibt. Ein äußerst gelungenes Beispiel ist „Ich geh heut nicht mehr tanzen“, das ständig bricht, sowohl im Tempo als auch im Rhythmus. Gleiches gilt für das groovige „Weiße Wand“. Kommt richtig gut. Außerdem gibt es kleine Ausritte Richtung Country, klassischem Rock, Call and response, Jazz und sphärischem Folk.

Aus unerklärlichen Gründen eröffnen die zwei schlechtesten Songs die Platte. Das nervtötende „Marie“ mit einem an Plattitüden schwer zu überbietenden Text dient als erste Single und als Opener – warum? Next. Gleiches gilt für das redundante „Nur wegen dir“, dem definitiv die gute Melodie fehlt.

Aber dann ist auch gut mit Leerlauf. Ab Track 3 spielen sich die Kölner ein und liefern konsequent bis zum Ende. Textlich geht die Platte über die typische Studentenproblematik hinaus, wagt den Blick Richtung Politik, Drogenkonsum, Depression und innere Zerrissenheit und lässt nur wohl dosiert die Liebespoesie durchschauen. Gute Wahl. Gänsehautmomente versprechen die perfekten Stücke „Hinter klugen Sätzen“ und „Schon krass“, die emotional voll auf die Zwölf hauen und eine angenehme Schwermut transportieren. Wer humorvolle Songs wie „Das Krokodil“ mochte, wird sich bei „Freitagabend“ und „Jenny Jenny“ besonders wohlfühlen und darf sich tanzend durch die Bude bewegen. „Alle Fragen“ erinnert kurz an „Bitte bleib“ vom ersten Album, fühlt sich also bekannt an und ist letztendlich dann doch wieder anders als erwartet.

Natürlich ist Hennings Stimme weiterhin das markanteste Merkmal, sticht aber zum Glück gar nicht mehr so stark hervor – dafür sind die Beats einfach zu catchy. Bei „In meinem Bett“ geht der Gesang in ungewohnte Kopfstimmhöhen über, die aufhorchen lassen. In „Alle Fragen“ hingegen klingt er mehr wie eine Bahnhofsdurchsage. Spielereien also auch in den Vocals.

Im Dezember ein Album zu veröffentlichen ist selten. Aber AnnenMayKantereit sind eine seltene Band, nämlich eine wirklich selten gute. Geschickt wird die Waage gehalten, sodass ganz klar AnnenMayKantereit vorzufinden ist, aber der Sound um einige Facetten erweitert wurde – so, wie es sich für ein neues Album gehört. Wer dachte, „Alles Nix Konkretes“ ist nicht zu übertreffen, muss definitiv „Schlagschatten“ hören und am Ende selbst entscheiden, welches besser ist. Die Entscheidung fällt nämlich gar nicht so leicht.

Das Album „Schlagschatten“ kannst du dir hier kaufen.*

Tickets für die Tour gibt es hier.*

Ein ausführliches Interview mit der Band zu dem Album gibt es hier.

Und so hört sich das an:

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Annenmaykantereit live 2019:

31.01. – Mannheim, Alte Feuerwache (ausverkauft!)
01.02. – Ludwigsburg, Scala (ausverkauft!)
02.02. – Bern, Dachstock (ausverkauft!) (Ch)
04.02.- Wien, Porgy & Bess (ausverkauft!) (Au)
05.02. – München, Freiheiz (ausverkauft!)
06.02. – Erlangen, Ewerk Club (ausverkauft!)
08.02. – Dresden, Beatpol (ausverkauft!)
09.02. – Cottbus, Glad House (ausverkauft!)
11.02. – Berlin, Heimathafen (ausverkauft!)
12.02. – Hamburg, Mojo (ausverkauft!)
13.02. – Bremen, Schlachthof (ausverkauft!)
15.02. – Bielefeld, Forum (ausverkauft!)
16.02. – Göttingen, Musa (ausverkauft!)
17.02. – Essen, Zeche Carl (ausverkauft!)
18.02. – Köln, Gloria (ausverkauft!)

14.03. – Hamburg, Sporthalle (ausverkauft!)
15.03. – Hamburg, Sporthalle (ausverkauft!)
16.03. – Hannover, TUI Arena (ausverkauft!)
17.03. – Leipzig, Arena (ausverkauft!)
19.03. – Düsseldorf, Mitsubishi Electric Halle (ausverkauft!)
20.03. – Münster Halle, Münsterland (ausverkauft!)
22.03. – Zürich, Samsung Hall (Ch)
23.03. – Bamberg, Brose Arena
25.03. – Köln, Palladium (ausverkauft!)
26.03. – Köln, Palladium (ausverkauft!)
27.03. – Köln, Palladium (ausverkauft!)
29.03. – Stuttgart, Porsche Arena (ausverkauft!)
30.03. – München, Zenith (ausverkauft!)
31.03. – München, Zenith (ausverkauft!)

04.04. – Graz Helmut List Halle (ausverkauft!) (Au)
05.04. – Graz Helmut List Halle (ausverkauft!) (Au)
06.04. – Innsbruck, Dogana (ausverkauft!) (Au)
07.04. – Stuttgart, Porsche Arena (Zusatzshow)
09.04. – Trier, Arena
10.04. – Frankfurt, Festhalle
12.04. – Berlin, Max-Schmeling-Halle (ausverkauft!)
13.04. – Erfurt, Messe (ausverkauft!)

23.05. – Wien, Arena Open-Air (ausverkauft!) (Au)
24.05. – Wien, Arena Open-Air (ausverkauft!) (Au)
25.05. – Wien, Arena Open-Air (ausverkauft!) (Au)
21.06.-23.06. – Hurricane / Southside Festival
24.08. – Dresden, Filmnächte am Elbufer
30.08. – Berlin, Parkbühne Wuhlheide (Zusatzshow)
31.08. – Berlin, Parkbühne Wuhlheide (ausverkauft!)

Die Rechte für das Cover liegen bei Irsinn Records.

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