Schon seit seinem 2015er Debütalbum „Kontraste“ gilt der Hamburger Rapper Disarstar als Geheimtipp. Irgendwo zwischen Straßenrap und Sozialwissenschaft, zwischen Klassenkampf und Kitsch taucht er seitdem immer wieder in einschlägigen Szene-Magazinen als Verkörperung des Ausspruchs „Der geht bald richtig steil“ auf. Und tatsächlich erweitert Disarstar mit einer Mischung aus Politanalyse und Zustandsbeschreibung schon seit Jahren deutschen Straßenrap um einen neuen, zuvor nicht dagewesenen Blickwinkel. Der große Wurf durch ein in sich völlig schlüssiges Album-Projekt blieb bisher jedoch aus. „Deutscher Oktober“ soll das nun ändern!
„Dein Balenciaga Pulli ist mir egal, du Dulli!“
Die ersten Zeilen der Platte lassen bereits erahnen, dass Disarstar zumindest textlich seiner bisherigen Marschroute treu bleibt. Der Opener „Intro (Balenciaga)“ schießt nicht nur ohne große Umwege auf von Geld, Konsum und Klickzahlen geleitete Rap-Kolleg*innen. Nein, er verbindet besagte Entwicklung des Deutschrap-Mainstreams in solch einer Wut und Intensität mit sozialer Ungleichheit in der gesamten Gesellschaft, dass Disarstar schon nach zwei Minuten Albumlaufzeit das Textblatt beiseitelegt. Hier geht’s nicht um Mucke oder Rap, hier geht’s um Haltung! Befreit von einengenden Reimschemata oder Taktfolgen legt er wutentbrannt los:
„Du kommst auch noch aus der Scheiße oder gibst vor aus der Scheiße zu kommen, sprichst aber nicht über die Begebenheiten und Umstände, in denen die Leute leben, sondern redest nur über Scheiße und Müll in deiner Musik!“
Kein Zweifel! Disarstar ist der einsame Wolf, der den Kontra Ks dieses Landes in die Hand beißt und dafür sorgt, dass ihnen Phrasen à la „Erfolg ist kein Glück“ im Hals stecken bleiben. Dennoch rückt die deutsche Rap-Szene im weiteren Verlauf von „Deutscher Oktober“ mehr und mehr in den Hintergrund. Denn „Scheiß mal auf Deutschrap!“ („Verloren“). Viel mehr bieten die Texte des Hamburgers Platz für Darstellungen wirklich relevanter Missstände. Eben für die Formen von Ungleichheit in unserer Gesellschaft, die bei vielen seiner Kolleg*innen hinter neuen Markenklamotten und Sportwagen zu kurz kommen.
„Dein Chef hat ‘n Lambo und zahlt dir 8,50, wer ist hier Gangstеr?“
Disarstar leuchtet in seinen Texten auf das Elend hinter den Kulissen und macht alltägliche Krisen abseits der privilegierten Mehrheitsgesellschaft sichtbar. Egal ob in die kriminellen Abgründe in seinem Block („Nachbarschaft“ und „Psycho“) oder die Alman Stammtisch-Runde in der Kneipe um die Ecke („Tsunami“), egal wie unangenehm es auch ist, Disarstar taucht in unterschiedliche Bereiche der Gesellschaft ein, um aufzuschlüsseln, was in dieser Welt falsch läuft. Dabei werden nicht nur altbekannte Gallionsfiguren rassistischer und klassistischer Motive wie BILD-Chefredakteur Julian Reichelt, FDP-Vorsitzender Christian Lindner und Bundesinnenminister Horst Seehofer ins Visier genommen. Zum Ursprung von einem Ungleichgewicht in unserer Gesellschaft wird schlichtweg jeder, der sich seines privilegierten Lebens nicht bewusst ist, sein Auslandsjahr in Australien als Selbstverständlichkeit wahrnimmt und keinen Finger rühren will, um die Schere zwischen Arm und Reich nur einen Millimeter zu schließen. Auch wenn Gesellschaftskritik seit jeher den größten Platz in Disarstars Musik einnimmt, gelingt es ihm auf „Deutscher Oktober“ pointierter denn je sie auszudrücken.
„Fühl’ mich, als hätt’ ich was verpasst. Ihr geht nach Australien, meine Jungs gehen in Knast!“
Völlig neu ist dagegen, dass es Disarstar erstmals gelingt die beinharte Kompromisslosigkeit seiner Texte auf das Soundbild seiner Musik zu übertragen. Auf „Deutscher Oktober“ finden sich keine glattgeschliffenen Pop-Balladen, keine plötzlichen Soundwechsel oder musikalischen Orientierungsversuche wie auf den Vorgängerwerken „Bohemien“ und „Klassenkampf & Kitsch“. Keine der unschönen Wahrheiten, die Disarstar auf dem Album offenlegt, versteckt sich hinter seichten und eingängigen Klängen. Auf „Deutscher Oktober“ hämmert der Hamburger seine Textsalven viel mehr per 808 durch die Schädeldecken seiner Zuhörer*innen. Ein durchlaufender, moderner Hip-Hop Sound, der seine Wurzeln nicht verleugnet, präsentiert dabei Tristesse und Melancholie in unterschiedlichen Graustufen.
Gesungen wird auf „Deutscher Oktober“ trotz der musikalischen Umstellung weiterhin reichlich. Hier sind es aber nicht die hohen und klaren Töne eines Philipp Dittberners oder die sanfte Liedermacher-Stimme eines Sebastian Madsens, mit denen Disarstar in der Vergangenheit versuchte seine harte und verkopfte Vortragsweise zu kontern. Viel mehr fordert die wütende Grundstimmung der Platte die schiefen, gar brüchigen Töne einer Nura oder die vielversprechenden Newcomer Dazzit und ESO.ES, die einen mit dem ersten Schwingen ihrer Stimmbänder förmlich in einem Mantel aus Verzweiflung und Melancholie einhüllen.
Besonders gut gelingt die dabei entstandene melancholische Auto Tune-Ästhetik auf dem vorab samt Musikvideo veröffentlichten „Großstadtfieber“. Auf leidenschaftliche Rap-Parts, die sich zwischen erbittertem Hass und aufrichtiger Liebe gegenüber der eigenen Heimatstadt Hamburg nicht entscheiden wollen, folgt eine Gesangshook, die solch eine Perspektivlosigkeit versprüht, dass man nicht mehr weiß, was man überhaupt fühlen soll. Song an, Kapuze auf!
„Wer von hier kommt wird nicht sagen ‚Es ist gut so, wie es ist‘“
„Deutscher Oktober“ ist nicht nur das erfolgreiche Ende einer musikalischen Identitätssuche, sondern auch Disarstars bisher bestes Solo-Album. Möchte man “Le Fin”, dem letzten Song der Platte, Glauben schenken, ist das gesamte Projekt recht schnell und ohne große Planerei entstanden. Ironischer Weise kam genau das dem roten Faden zugute, den seine vorherigen Alben vermissen ließen. Man kann also abschließend nur hoffen, dass Disarstar auch beim nächsten Mal wieder derartig frei an eine Platte herangehen kann, ohne dabei den BLick für die wirklich wichtigen Dinge zu verlieren.
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