„Die Hoffnung lebt in uns“. Mit diesen Worten begrüßt Julia Neigel ihre Zuhörer im Refrain des Openers zu ihrem neusten Longplayer Ehrensache. Hoffnung ist wohl eh das Wichtigste im Jahr 2020.
Seit mittlerweile fünf Monaten läuft das Kulturleben und damit auch seine Musik auf Sparflamme. Konzerte finden zwar statt, aber sind in keiner Weise mit der Art vergleichbar, wie es vor dem Corona-Lockdown üblich war. Mussten viele Existenzen vor, hinter und auf der Bühne darum bangen, ob sie über die Runden kommen werden, ist einige Zeit später mehr als eindeutig: das Bangen ist völlig zurecht und noch nicht vorbei. Einige sind nicht über die Runden gekommen, andere werden es nicht mehr lange durchhalten. Auch Julia Neigel ist eine eben jener Künstlerinnen, die gerne Mal die Hälfte des Jahres Gigs spielt. Von ihrem Leben, das plötzlich durch unfreiwillig viel Platz im Terminkalender gezeichnet ist und gleichzeitig durch Angst, Verzweiflung und Wut gegen unklare Regelungen getauscht wurde, berichtet sie regelmäßig auf ihren Social Media-Kanälen.
Umso erstaunlicher, dass genau 2020 der Stichtag ist, um neue Musik zu veröffentlichen. Doch das sieht Neigel selbst als Ehrensache an. Quasi jetzt erst recht. Seit ihrem letzten Longplayer „Neigelneu“ sind über neun Jahre ins Land gezogen. 2011 stellt eine kleine Zäsur dar in der über drei Dekaden bereits andauernden Karriere, der in der Sowjetunion geborenen Sängerin mit dem ganz besonderen Wiedererkennungswert. Gefühlte Ewigkeiten dauerte es, um sich von der ehemaligen Band zu trennen, mit der es wegen Streitigkeiten um Kompositionsrechte bis vor Gericht ging. Doch irgendwann war’s vollbracht und aus einer Jule wurde eine Julia mit Blick nach vorn und dem ersten Album unter bürgerlichem Namen.
Seitdem sieht man der 54-jährigen permanent an, dass sie auf dem sicheren Weg ist, final dort zu landen, wo sie auch wirklich hinmöchte. Julia macht seit ihrem Debüt und Achtungserfolg „Schatten an der Wand“ Songs auf Deutsch und pfeift auf Konventionen. Genau diese „Was du von mir erwartest, ist mir egal – ich bleibe bei mir“-Haltung zieht sich auch durch das achte Studioalbum. Ehrensache setzt sich aus 14 Titeln zusammen, die in neun Jahren mühevollster Kleinarbeit geschrieben, eingespielt, produziert, hier und da doch nochmal verändert wurden und so genug Zeit hatten zum Reifen.
55 Minuten Spielzeit ist heutzutage für eine Platte ungewöhnlich lang, was absolut positiv hervorzuheben ist. Julia geht nicht nach aktuellen Trends, schielt nicht Richtung Chartssound, lässt die typische Vorgehensweise, schön viel elektronischen Schnickschnack zu verwenden, gar nicht erst zu und macht das, was sie will. Ehrensache ist klassisch, retro und deswegen authentisch.
Die stärkste Waffe ist unverkennbar die Stimme. Ob man mit der Musik generell was anfangen kann, ist Geschmacksache – dass Julia Neigel jedoch auch nach so langer Zeit weiterhin zu der absoluten Topriege der deutschsprachigen Sängerinnen gehört, ist nicht Geschmacksache, sondern ein Fakt. Ob ganz tief unten, ganz hoch oben, zart und berührend, kratzig-aggressiv und aufwühlend. Julia bedient Alles. Da muss man schon etwas länger überlegen, wer hierzulande diese Wandelbarkeit und solch einen Anspruch im Gesang liefert. Vorschläge? Siehst du.
Textlich spaziert das extrovertierte Energiemündel mit dem nötigen Edge zwischen Motivationshymnen („Geh deinen Weg“), Sinnlichkeit zwischen zwei Menschen („Küss mich“), böser und mutiger Kritik gegen die Politik („Im Namen der Nation“), Freundschaftsbeweisen („Königinnen wie wir“), den passenden Worten um den Expartner abzuservieren („No.1“) und leicht kryptischen Fantasiegeschichten („Der kleine Prinz“). Das ist manchmal etwas vorhersehbar und einen Tick Klischee („Der Himmel lacht“), oftmals aber überraschend emotional („Es ist besser“).
Der Sound klingt ganz genau so, wie man es nun wohl erwartet. Ehrensache ist einerseits viel Classic Rock mit ordentlich Gitarren („Blauer Ritter“, „Geh deinen Weg“, „Tief in meiner Seele“), einer Prise Walzer („Schlafe wohl“) und vielen Streichereinsätzen („Küss mich“, „No.1“). Das mag im ersten Moment auf die junge Hörerschaft altbacken wirken, beim detaillierteren Betrachten hat es aber exakt aus dem Grund seine Daseinsberechtigung, da man so viel typischen Pop-Rockbandsound eben nirgendwo mehr findet. Ein bisschen Damals im Hier und Nun.
Absolute Höhepunkte und Anspieltipps sind das treibende und mitreißende „Geh deinen Weg“, das mit seiner Wortwahl perfekt den Aufsteh-Nerv trifft, den es treffen mag („Hab‘ Spaß und gönn‘ dir Endorphin, denn niemand fühlt wie du!“). Wie aus einer Halbballade eine schonungslose Abrechnung emporsteigt, beweist das lyrische Überraschungsei „No.1“ („Ich bin die Nummer 1 in meinem Leben und du bist einfach ein Idiot, das mit dir kann ich mir lockerleicht vergeben, denn du warst vor mir innerlich schon tot.“), das auch in seiner außergewöhnlichen Melodieführung voll auffährt. „Es ist besser“ kreiert mit seinen Bläsern eine verträumte Atmosphäre und zeigt Neigels Talent für Soulnummern. Lediglich eine ganz, ganz leise Klavierballade im Stil der Meisterwerke „Du bist nicht allein“ oder „Weil ich dich liebe“ fehlt, wird aber mit absoluter Sicherheit auf den nächsten Konzerten zu hören sein. Wenn auf eins bei Neigel-Shows Verlass ist, dann auf Magic Moments. Nicht zuletzt ist der mittig platzierte „Im Namen der Nation“ ein Anspieltipp, um gestauter Aggression den nötigen Freiraum zu bieten.
Mehrmals wurde Ehrensache verschoben. Nun ist es da. Genau in der Zeit, in der ansonsten alles andere wie verschwunden und kaum noch erdenklich wirkt. Ein passender Gegenentwurf. Julia Neigel bleibt auch nach drei Jahrzehnten laut, unangepasst, musikalisch hochwertig, leicht rebellisch und echt. Die Hoffnung lebt.
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