„You can’t be afraid of people willing to hurt you, because if you fear life you cannot live“. Eines der bekanntesten Zitate von Chester Bennington. Letztendlich machte ihm das Leben anscheinend selbst zu viel Angst.
Seit über drei Jahren ist die weltweit erfolgreiche Band Linkin Park ohne Frontmann. Ob es jemals richtig weitergehen wird, weiß niemand so genau. Im Juli 2017 nahm sich Sänger Chester das Leben und hinterließ damit eine Lücke, die wohl kaum geschlossen werden kann. Hätten Linkin Park ihren üblichen Turnus eingehalten, wäre in diesem Jahr ein neues Album fällig gewesen. Nur eineinhalb Monate bevor Chester sich von dieser Welt verabschiedete, kam mit „One More Light“ die vorerst letzte LP auf den Markt. Kurz vor Weihnachten 2017 sollte dem Mann mit der unverkennbaren Optik und Stimme die letzte Ehre erwiesen werden – eine Liveausgabe der aktuellen Platte mit Aufnahmen, die zum Teil zwei Wochen vor Chesters Tod entstanden sind, wurde nachgereicht. Seitdem herrscht Betroffenheit, Ruhe und Fassungslosigkeit.
Doch tatsächlich bleiben sich Linkin Park ihrem „alle drei Jahre kommt was Neues“-Rhythmus treu, wobei der Output eigentlich alles andere als neu ist. Stattdessen wird nostalgisch zurückgeschaut in die Anfänge. Im Oktober 2000 ging mit Hybrid Theory eine musikalische Bombe hoch. Was war das denn? Der Nu Metal erlangte seinen kommerziellen Höhepunkt. Was mit Korn Mitte der 90er erfolgreich losging und daraufhin mit System of a Down musikalisch nochmal verfeinert wurde, gipfelte mit Linkin Park und ihrem Debütwerk. Unglaubliche 30 Millionen Mal ging das knapp 38-minütige Brett über den Ladentisch und machte das Genre endgültig salon- und chartfähig. Was zuvor nur von Rockanhängern und ein paar offenen Musikhörern wahrgenommen wurde, war nun in aller Munde und auf allen Kanälen.
Die Kombination aus wirklich ballernden Rockbeats, elektronischen Turntable-Effekten, Rap-Einlagen und Shouting-Momenten kam wie gerufen. Ähnlich wie knapp zehn Jahre zuvor Nirvana mit ihrem legendären „Nevermind“ machten auch die in Kalifornien gegründeten Linkin Park, die bis heute die erfolgreichste Band des laufenden Jahrhunderts sind, eine Platte, die Fans jeder Musikrichtung zu begeistern wusste. Warum soll so ein Meilenstein nicht zu seinem 20-jährigen Jubiläum gefeiert werden? An Neuaufnahmen wagte man sich noch nicht – stattdessen bedient man das Fanherz mit einer Delikatesse. Hybrid Theory 20th Anniversary Edition ist ein Produkt der Extraklasse… oder?
Gleich mehrere Ausgaben sind im Angebot – angefangen bei einer 2-CD-Ausgabe, weitergehend über eine dicke Vinyl-Box und endend bei einer limitierten Super Deluxe Edition, die einfach gar keine Wünsche offenlässt. Das Cover der Standard-CD ist ganz klassisch gleichgeblieben. Der Inhalt des Originalalbums ebenso, leider nämlich nicht mal im Sound remastert. Macht aber nichts, klingt auch nach zwei Dekaden immer noch geil. Man kann einfach sagen, was man will, aber Hybrid Theory ist elektrisierend, energetisch, aggressiv, laut, mitreißend und weiterhin gespickt mit Ohrwürmern. „Papercut“, „Crawling“, „Points of Authority“, „One Step Closer“ – Hits am laufenden Band, die nichts an Qualität einbüßen mussten und heute unverändert so auf den Markt kommen könnten. Mit „In The End“ liegt der wahrscheinlich bekannteste Song der Gruppe vor, der aber ironischerweise trotz 5,5 Millionen Verkäufen nach „What I’ve Done“ und „New Divide“ nur die dritterfolgreichste Single in der Diskographie darstellt. Dennoch bleibt es auf ewig dieser eine Titel, der in den Köpfen und auf den Playlists sämtlicher Partys haften wird.
Da aber eben im Klang und beim Anblick der Scheibe keine Veränderung geboten wird, muss also an anderen Ecken geschaut werden. Wird die bereits erwähnte Standard-Ausgabe nur durch eine weitere Bonus-CD ergänzt, erschlägt einen die Super Deluxe Edition umso mehr an Material. Fünf CDs, drei DVDs, vier LPs, eine Kassette, ein 80-seitiges Buch, ein Poster und drei Lithografien. Heißt de facto 80 unterschiedliche Songs in 265 Minuten Musik verpackt und knapp 316 Minuten Bildmaterial. Ok, das ist eine Ansage. Kurz einmal Luft holen bitte!
Neben dem zwanzig Jahre alten Schinken bietet die Super Deluxe eine zwölf Tracks umfassende CD mit B-Seiten und Raritäten diverser Singleauskopplungen. Hat man also damals neben der LP auch bei den Maxi-CDs zugeschlagen, findet man keine Neuigkeit, aber einige bekannte Leckerbissen (z.B. „My December“ oder „High Voltage“). Dies ist der einzige Bonus, den die Standard-CD-Ausgabe bietet. Disc 3 in der Super Deluxe stellt das ebenfalls erfolgreiche Remix-Album „Reanimation“ dar, das trotz mittelprächtiger Kritiken damals seitens der Presse bis heute Platz 4 der erfolgreichsten Remixalben aller Zeiten belegen darf. War man Teil des Fanclubs LP Underground hatte man Zugriff auf Demos und weitere Alternativversionen, die sich auf Audio-CD 4 befinden und 18 Songs umfassen. Wer also „In The End“ in der Rohfassung hören mag oder auch Linkin Parks Spiel- und Experimentierfreude entdecken möchte, ist auch damit zufriedenzustellen. Das Hardcore-Fanhighlight sollte jedoch CD5, die „Forgotten Demos“, sein. Zwölf an der Zahl, zum Großteil bestehend aus Titeln der Xero-Zeit, wie die Band ein paar Jahre zuvor hieß und in denen Chester noch gar nicht mitwirkte, entstanden zwischen 1996 und 1999. Auch hier existierte schon beispielsweise „Crawling“, jedoch hört man stattdessen Mark Wakefield neben Mike Shinoda an den Mics. Die Schallplatten sind gleich den CDs 1, 2 und 3 und werden durch die Hybrid Theory-EP abgerundet. Eine EP mit sechs Tracks zwischen 1999 und 2000, kurz bevor Linkin Park ihren eigentlichen Namen annahmen und selbst so hießen wie ihr Erstlingswerk, nämlich Hybrid Theory.
Wer jetzt schon nicht weiß, wohin mit seiner Freude, darf sich auch an dem Fotobuch austoben, das unzählige Bilder, teils sogar unveröffentlichte, bereithält. Chester gibt’s im XXL-Format, um ihn sich in Posterform an die Wand zu hängen. Die beigelegte Kassette ist eher ein Gimmick und spielt lediglich „One Step Closer“ und „With You“. Wirklich sehens- und erwähnenswert sind dennoch die DVDs, die aus Liveauftritten wie Rock am Ring 2001 und Linkin Parks selbst zusammengestelltes Festival Projekt Revolution aus 2002 bestehen, durch ausführliche Backstageausschnitte verfeinert und mit einer ebenso ordentlich langen Doku namens „Frat Party at the Pankake Festival“ vollendet werden, die es allerdings bereits früher mal einzeln zu kaufen gab. Insbesondere die Livegigs beweisen, dass das Sextett am Anfang auch auf der Bühne richtige Qualitäten hatte und Musikalität bot, kommt der Sound nämlich oft an die Studioversionen heran.
Hat man damals als großer Fan ein bisschen geschlafen und nur das ursprüngliche Hybrid Theory gekauft, kann man nun auf einem Schlag gefühlt alles kaufen. Alles, was irgendwie zwischen 1996 und 2002 geschah und sich auch ein Stück nach Musikgeschichte anfühlt. Leider entschieden sich die Jungs ja nach ein paar Jährchen nur noch auf Charthits abzuzielen und ihren Sound weich zu spülen – davon ist glücklicherweise hier noch nichts zu bemerken. Die Frage ist nur, was man nun kaufen sollte. Hat man das Album noch gar nicht, weil man die Band eben lediglich „ganz cool“ fand, reicht die Standard-CD-Ausgabe bzw. das Vinyl-Set allemal. Ein Großteil des Bonusmaterials ist wirklich für die Hardcore-Leute gedacht. Die haben mit Sicherheit schon zur Jahrtausendwende alles gesammelt – wollen sie nun aber noch den Rest haben, der bisher unveröffentlicht war, brauchen sie sowohl CD-, als auch DVD- und Vinyl-Spieler und dazu fast 200€ auf der Kante, um die limitierte Deluxe zu ergattern. Nochmal Luft holen bitte. Ansonsten findet ihr aber alle Tracks auch auf den gängigen Streamingportalen. Your choice.
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