Lord Huron – Long Lost

Eine Single mit dreifach Platin, obwohl sie nie über Platz 84 in den Charts hinauskam. Wie ist das denn möglich? Dieses fast schon surreale Kunststück ist Lord Huron in den USA gelungen, die mit „The Night We Met“ einen der bahnbrechendsten Seriensongs des vergangenen Jahrzehnts lieferten. Der eindringliche Einsatz in dem kontroversen 13 Reasons Why (Tote Mädchen lügen nicht) hat einfach so gesessen, dass es allein bei Spotify 736 Millionen Mal (!) Zuhörer*innen das Herz schwer machte.

Ein dermaßen erfolgreicher Titel beeinflusst selbstverständlich auch weitere Projekte der Band. Siehe da: das Album nach dem Überhit, „Vide Noir“ (2018), ging erstmalig in die Top 10 und erreichte Gold. Auch wir zeigten uns von dem mystisch-lasziven Indie-Pop-Rock mehr als angetan. Eine Platte, die zum Durchhören animiert und eine sehr spezielle und verruchte Stimmung erzeugt.

Fast auf den Tag genau drei Jahre später liefert die Gruppe um Frontmann Ben Schneider neues Material. Long Lost klingt bereits beim bloßen Namen nach schwerer Kost. Was haben sie denn verloren? Zum Glück keine Familienmitglieder an Corona – stattdessen weht ein gespenstischer Hauch umher. Dieser wurde nämlich von der Band bei den Studioaufnahmen in den Whispering Pines-Studios in Michigan aufgesaugt. Die Seelen von denen, die hier ebenfalls ihre Musik produzierten und nicht mehr unter den Lebenden verweilen, steckt in dem 58 Minuten starken Longplayer. In diesem Sinne: Licht dimmen, Kerze an, Schauer zulassen und… buh!

Nein. Lord Huron haben nicht den Soundtrack zur neuesten King-Verfilmung rausgehauen, eher klingt Long Lost wieder nach Western-Stuff a la Tarantino. Das wurde auf „Vide Noir“ schon angedeutet, wird nun aber volle Suppe durchgezogen. Der Colt ist geladen, der Hut sitzt tief im Gesicht. Lord Huron machen nämlich 16 Tracks lang Americana mit einem Hauch Indie-Rock und ein bisschen artsy Atmo-Klangbett. Hört sich zunächst spannend an, trappt dann aber doch ein wenig zu leger durch die Prärie.

Ein Blick auf die Längen der Albumtracks verwirrt schon völlig: gleich fünfmal zocken die Hurons unter 1:35, auf der anderen Seite werfen sie einen mit einem fast 15 minütigen instrumentalen Outro („Time’s Blur“) sehr entspannt raus. Strange. Unkonventionell können sie wohl. Bleiben aber immerhin noch zehn „normale“ Songs übrig, die auch an einigen Stellen genau den Vibe erzeugen, der selbst für europäische Öhrchen zündet. So gleitet „Mine Forever“ als eine der Vorabsingles super groovy im 60s-Style in die kreisenden Hüften der Zuhörer*innen. Das klingt nach Cabrio und Fahrtwind. Gerade die Gitarren harmonieren neben der einschmiegenden Stimme eines Ben Schneiders hervorragend, die selbstredend den typisch Lord Huron-mäßigen Halleffekt von Sekunde 1 inne trägt.

„Love Me Like You Used To“ hat eine ganze Portion „These Boots Are Made For Walkin'“ geatmet, macht aber im Refrain auch wieder vieles richtig. Dafür möchte „Meet Me in the City“ ein wenig zu viel und wird mit großen Streichereinsätzen, verlangsamtem Tempo und „The Night We Met“-Hommage überladen. Bei dem Titeltrack kommen Winnetou-Déjà-Vus hoch – ein bisschen weniger Kitsch hätte es auch getan. Andererseits hat „Not Dead Yet“ Rockabilly-Wellen im Haar und setzt da an, wo „Mine Forever“ so vielversprechend begann. In „I Lied“ lockert sich das Feld durch die Duettpartnerin Allison Ponthier, die dem doch etwas zu festgefahrenen Sound im letzten Drittel eine weitere Facette verleiht, aber den Song ansonsten wenig zu retten weiß.

War auf der Vorgänger-LP das Konzept ähnlich gut erkennbar wie jetzt, ist es in der 2021-Ausgabe nur leider einfach halb so aufregend. Lord Huron sind zweifelsohne immer transparent, übernehmen Einzelteile des starken „Vide Noir“, haben nur den Sex und die schwer durchdringbare Laune im Raum gegen Cowboys auf einem endlosen Ritt getauscht. Das ist konsequent und in sich schlüssig, aber ein wenig öde und staubig-trocken im Mund. Wasser… Wasser… wo ist das Wasser?

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