RIN – Nimmerland

RIN - Nimmerland

Von Los Angeles über New York City nach – japs, genau richtig – Bietigheim-Bissingen. Denn die Baden-Württembergische Kreisstadt mit knapp 43.000 Einwohnern scheint mittlerweile ein wahrer Hotspot für Deutschen Rap geworden zu sein. Neben Bushido-Zögling Shindy und Rekordbrecher Bausa ist auch Renato Simunovic – wie Rapper RIN mit bürgerlichem Namen heißt – zu einem waschechten, prominenten Kind der Stadt geworden.

Nachdem RIN im Sommer 2016 mit „Bianco“ featuring Yung Hurn fast schon zufällig den Hit des Jahres landete, erschien im September 2017 sein Debütalbum „EROS“, das nicht nur eine Treppchenplatzierung in den deutschen Charts erzielen konnte, sondern sogar die 1Live-Krone für das Beste Album 2017 einheimste. Seitdem ist RIN nicht mehr aus den deutschen Charts wegzudenken. Ob als Newcomer des Jahres oder als angebeteter Artist auf großen Festivals: RIN macht die Hallen voll und begeistert seine Fans. Sein Geheimrezept? Einfache Lyrics, im Ohr bleibende Hooks gepaart mit fetten Beats. Vor wenigen Tagen hat er nun sein zweites Album herausgebracht, für dessen Produktion er sich im schnelllebigen Hier und Jetzt deutlich Zeit genommen hat.

Das gute Stück nennt sich „Nimmerland“ – eine Begrifflichkeit, die wohl, zumindest für die bis 1999-geborenen Exemplare unter uns für alle Zeit mit dem einstigen „King of Pop“ und der deutschen Übersetzung seiner (zwielichtigen?) Ranch in Verbindung gebracht werden wird. Ein Werk, das vor allem an dem alten Autotune-Sound von „EROS“ anknüpft, aber um fettere Beats und gleichzeitig um einige ins Herz gehende Popballaden erweitert.

Doch warum jetzt? Zwei Jahre sind schließlich in der heutigen Rap-Branche eine halbe Ewigkeit, um ein Folgewerk der Nachwelt zu präsentieren. (Wenn man das zwischenzeitlich eingeschobene Mixtapes „Planet Megatron“ außen vor lässt.) Vertrösten musste RIN seine Fans wohl immer mit dem Slogan „Nimmerlang bis Nimmerland!“ Doch welchen Grund gab es nun, um die Veröffentlichung so lange herauszuzögern? „Ich wollte den Leuten zeigen, dass es sich lohnt, Liebe in die Musik zu stecken“, heißt es so in seiner Pressemitteilung.

Zugegeben: RINs Person war in den letzten Jahren so oft gefragt wie wenige andere Newcomer. Von Festivals über eine ausverkaufte Tour und sämtlichen weiteren Auftritten vor viel Publikum, blieb gewiss nur wenig Zeit, sich neuer Musik zu widmen, die nicht gleich in Vergessenheit gerät und sich auch langfristig in den Playlists der Spotify-Hörer etabliert.

Denn von der akuten Schnelllebigkeit, die im Deutschrap aktuell kursiert, hält RIN – wenn man seiner aktuellsten Pressemitteilung Glauben schenkt – nichts. Und genau aus diesem Grund begibt er sich auf „Nimmerland“ auf eine neue Ebene. Gleich die ersten Lines seines Eröffnungstracks „Hollywood“ machen klar, wohin seine musikalische Reise gehen soll: „Wir wolln‘ alle nach Amerika wie NASCAR“. (* NASCAR = der große Motorsportverband der USA, der sich zwar vom Fahrstil deutlich von der hiesigen Formel 1 unterscheidet, sich in den USA aber großer Beliebtheit erfreut.) Und tatsächlich: Dass sein Album deutlich von US-amerikanischen Einflüssen geprägt ist, tritt beim Hören der insgesamt 14 Stücke schnell zum Vorschein.

Auch der Beat von „Bietigheimication“ – mit einer ausdrücklichen Hommage an seine Heimatstadt Bietigheim-Bissingen – lässt den musikalischen Einfluss aus den USA klar durchschimmern. Neben der Wortanspielung, die stark an „Californication“ von den Red Hot Chili Peppers, erinnert, scheint auch der Stil sehr nah an Travis Scotts („Houstonfornication“) angelehnt zu sein. Der Song, der nach eigenen Angaben in einem Studio in L. A. entstand, nimmt den Zuhörer dabei mit auf eine musikalische Reise an die US-amerikanischen Hotspots und führt gleichwohl immer wieder zurück in die Kreisstadt und Heimat des jungen Baden-Württembergers. Während er auf „Bietigheimication“ noch davon rappt, dass er mehr Wert auf Immobilien als auf Markenkleidung legt („Ich will Immobilien und kein Tom Ford“), scheinen Markenlabels auf sämtlichen anderen Songs einen großen Stellenwert bei dem Rapper mit kroatisch-bosnischen Wurzeln einzunehmen. Kaum verständlich, hat RIN doch erst kürzlich (als erster deutscher Rapper) mit Gründung seiner Marke „Ljubav“ sowohl Kooperationen mit Nike sowie Carhartt mit der weltweiten Capsule-Collection klarmachen können. Marken und Brands scheinen dem Rapper mit den feuerroten Pumuckl-Haaren somit nicht ganz unwichtig zu sein, sagen sie dennoch nichts über den Charakter eines Menschen aus. Allerdings tritt hier ein nicht ganz zu Ende gedachter Widerspruch zum Vorschein, der im Laufe des Albums nicht aufgedeckt werden soll.

Doch zurück zum musikalischen Teil: Bereits vor Albumsrelease hatte RIN fünf Singleauskopplungen aus „Nimmerland“ veröffentlicht, die die Vorfreude seiner Fans auf das neue Album ankurbeln sollten. Mit „Vintage“, das den Beat von Jay-Zs „Dirt Off Your Shoulder“ samplet, brachte er dabei ein regelrechtes Brett, das die – fast schon verloren gegangene – Hoffnung auf guten deutschen Rap im Jahr 2019 wieder auflodern ließ. (Und auch hier schlängelt sich der Amerika-Bezug wie ein roter Faden durch das Album.) Zum Album Release wurde sogar eine zweite Version, ein Remix des Tracks mit Sido und Luciano, veröffentlicht, auf welchem die beiden Erfolgsrapper ebenfalls einen Part beisteuern. Obwohl Sidos Part zugegeben keinen Spielraum für wahrhafte Tiefe oder Einfallsreichtum lässt und bestenfalls kurz zusammengeschrieben worden scheint, überrascht der Sound in der Kombination der drei Rapper (vor allem aber von Luciano und RIN) sehr.

Ein weiterer Feature-Song findet sich auf „Nimmerland“ im vierten Track, auf welchem RIN seinen langjährigen Freund und 74321-Kumpel Bausa einlädt, sich gemeinsam an einen waschechten Song von Die Prinzen zu wagen. Der Song „Keine Liebe“ thematisiert dabei gebrochene Herzen, Liebeskummer und übt gleichwohl Kritik an dem von Kylie Jenner und Kim Kardashian betriebenen Instagram-Wahn, an dem sich heutzutage nicht nur Jugendliche, sondern auch Erwachsene orientieren. Eine produzierte Scheinwelt, die unglücklich macht, und die RIN dazu bewegt, die besungene Frau in seinem Song als „Bitch“ abzutun. Sexismus, der aus Verzweiflung und Kummer entsteht. Obwohl der Song (und insbesondere das zugehörige Musikvideo) an vielen Stellen mit Bildern und Filmszenen aus den 2000er-Jahren versehen wurde, erinnert er aus musikalischer Sicht aber auch (vielleicht ein wenig unbewusst) an Sidos 2008er Hit „Carmen“. Leichte Frauen, teure Autos und Geld: Ein Sujet, das man hier zumindest schon mal ähnlich vernommen hat.

Während der Song „Nirvana“, mit der Anspielung an die gleichnamige Band und ihren Song „Rape me“ (der übrigens ebenfalls am 6. Dezember, allerdings im Jahr 1993, erschien) deutlich melancholischer in Erscheinung tritt und den Selbsthass des lyrischen Ichs zu überwinden versucht, wird auf „Brunai“ ein weiterer nachdenklicher Track über eine Prinzessin aus gleichnamigem Kleinstaat besungen. RIN selbst sieht sich auf diesem Track als der deutsche Frank Ocean – die Verbindung, die beim Hören des Tracks schnell einleuchtet.

„RSVP“ ist ein weiteres Beat-Brett des Albums, auf welchem RIN seine „Champion Vibes“ klar präsentiert. Der Folgetrack „UP IN SMOKE“ scheint dem Rapper anschließend in vielerlei Hinsicht wie auf den Leib geschneidert worden zu sein und ein Stück weit sein Wesen bis auf das Innere zu offenbaren: Die offensichtliche Hommage an das Videoalbum der „The Up And Smoke Tour“ der Rapper Dr. Dre, Eminem, Ice Cube und Snoop Dogg aus dem Jahr 2000, die Anspielung auf den gleichnamigen Stoner-Film von 1978 und außerdem die stetig eingebrachten Bezüge zum “One Piece“- Anime beziehungsweise besonders zum Marineoffizier Smoker schlängeln sich durch das Stück wie eine Kobra. Der Track wimmelt – wenn auch erst auf den zweiten Blick – nur so von Metaphern, sodass Lines wie “Was zeigt mir meine Roli, wenn ich keine Zeit hab?” eine gewisse Tiefgründigkeit zulassen, die RIN auf seinen Vorgängerwerken noch nicht hatte durchblicken lassen.

Mit “M.I.A.” – offenbar eine Anspielung an die (britische!) “Paper Planes” Sängerin M. I. A. – und “Aliens” zaubert RIN schließlich wahre Popballaden. Dabei produzierte RIN den Track “Alien” sogar komplett selbst und ließ Produzent Minhtendo nur für den Feinschliff ans Werk. Obwohl der Song einen wahren Ohrwurmcharakter hat und erneut mit Bravour eine melancholische Grundstimmung transportiert, stört hier allerdings der übermäßige Gebrauch von Adlibs (“Oh Junge”, “Alien”, “110”) sehr und raubt die Tiefe, die der Song eigentlich transportieren möchte. Seltsam, hatte RIN doch erst kürzlich in einem Interview mit einem großen Energy-Drink-Hersteller betont, dass er von Adlibs gelangweilt sei, die einfach nur das vorher gerappte wiederholen …

Seis drum. Auf “Fabergé” präsentiert RIN auf einem gescratchten Oldschool-Beat den mitunter positiv-behaftetsten Song des Albums. So vergleicht er das Leben und seine Vorzüge mit den sündhaft teuren Osterei-Schmuckstücken des russischen Goldschmieds Peter Carl Fabergé und sorgt damit sogar ein Stück weit dafür, seinem jungen Publikum kulturelle Allgemeinbildung zu vermitteln. Der zwölfte Track des Albums mit dem Titel “Voyage” nimmt den Zuhörer schließlich, wie der Titel bereits verät, mit auf eine Reise – wenn auch mit vielen Luftlöchern und Ungereimtheiten begleitet. Denn der Song “Voyage”, der ziemlich schwach startet, verknüpft innerhalb einer Länge von 3’13” insgesamt vier Beats – so wie es einst schon RINs Vorbild Travis Scott in “SICKO MODE” getan hatte. Obwohl die Produzenten reezy, Minhtendo und Rapper RIN sich hier gewiss mal ausleben konnten und ihr Können verknüpfen wollten, führt der Song eher zu Missverständnissen und gelingt inhaltlich nicht sehr gut.

Der 13. Song des Albums, Titelsong des Albums “Nimmerland“, ist als Outro des Albums zu verstehen. RIN konnte sich auf diesem Track sogar einen sehnlichen Wunsch erfüllen und Bilderbuch, seine absolute Lieblingsband, als Feature-Gäste mit ins Boot holen. Fast schon wie ein typischer Rausschmeißer-Song wirkend, führen RIN und die vier Österreicher durch eine psychedelische, instrumentale Reise vom Rap und P.Funk ins Nimmerland. So wirkt der Track wie ein endloser Loop, der niemals zu enden scheint, und der gleichwohl an das Album einen Haken setzt: “Bestanden”. Unerwartet und doch spannend, hätte wohl kaum jemand von RINs Zuhörerschaft ein musikalisches Duett zwischen dem Rapper und Bilderbuch erwartet.

Alles in allem überrascht RINs zweites Album “Nimmerland” sehr. Der Rapper aus Bietigheim-Bissingen ist sich und seinem Sound treu geblieben und hat ihn dennoch auf ein höheres Level weiterentwickelt. Die Tiefe, die seine Songs transportieren, werden zwar nicht auf den ersten Blick (bzw. das erste Hören) ersichtlich und brauchen einige Zeit, bis sie an der Oberfläche erscheinen. Dennoch können auf “Nimmerland” vor allem die gewählten Beats überzeugen, die sich zum Teil am US-amerikanischen Hip-Hop-Sound der 2000er-Jahre orientieren, aber auch Raum für innovative Ideen und Einfälle lassen. RIN liefert mit “Nimmerland” also ein solides Album, das zurecht auf Platz 3 der deutschen Albumcharts eingestiegen ist. Als “Meisterwerk” kann man es zwar dennoch nicht bezeichnen, aber wer weiß: Ein drittes Studioalbum wird es mit Sicherheit eines Tages noch geben, also sollte RIN seine Messlatte nicht zu hoch legen. Außerdem wird RIN sich mit seinem neuen Album auch erst einmal live beweisen müssen. Denn wie wir wissen: Lupenreine Live-Performances waren bislang noch nicht seine Stärke. Wir dürfen gespannt sein, ob sich das mit den Tracks des aktuellsten Werks ändert!

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