In Deutschland erreichen Musicals um Längen nicht die Popularität wie am New Yorker Broadway oder Londoner West End. Das führt dazu, dass die meisten Deutschen nur die wirklich großen Produktionen von Stage Entertainment kennen, die mit riesiger Werbung auch kaum zu übersehen sind. Es laufen aber auch ständig in normalen Stadttheatern Stücke, die entweder von den Theatern selbst inszeniert oder aber von kleineren Produktionsfirmen verwirklicht werden. OffMusical ist eins dieser Start-Ups und hat sich Musicals vorgenommen, die in Deutschland wenig Bekanntheit besitzen und es wohl auch nie auf große Bühnen schaffen. Letzten Sommer gab es mit „Hedwig and the Angry Inch“ die erste Inszenierung, die direkt komplett überzeugen konnte. Ein mutiges, rotziges Stück, das auf einer kleinen Bühne mit wenig Requisiten perfekt funktioniert, einen tiefen Klos im Hals verursacht und einen unglaublichen Hauptdarsteller bot.
Aber all das gibt es in dem am erfolgreichen Green Day-Album American Idiot orientierten gleichnamigen Stück nicht. Tatsächlich folgt nach dem eben erwähnten Überraschungserfolg nun eine volle Bauchlandung. Zwar wurden die Anzahl der Spielstädte und Aufführungstermine um einiges erhöht, aber ob das so eine gute Idee war? Am 19.1. läuft American Idiot jedenfalls für zwei Termine im äußerst bekannten Colosseum Theater in Essen, wo man schon so einige sehr gute Sachen sehen durfte – und mit Preisen von bis zu knapp 90€ möchte sich die Show also auch mit eben jenen großen Sachen vergleichen. Na gut. minutenmusik war in der Abendvorstellung.
Kommen wir erstmal zum Stück allgemein. American Idiot erzählt in 90 Minuten ohne Pause die Geschichte von den Postteenagern Johnny, Will und Tunny, die alle mit ihrem Leben im amerikanischen Vorort unzufrieden sind und ausbrechen wollen. Das gelingt ihnen wenig bis gar nicht. Stattdessen kreuzen Drogeneskapaden, zu viel Alkohol, eine schwangere Freundin und die Army ihre Wege. Diese Story wird zu 95% durch Songs erzählt und zu 5% durch Monologe in Tagebuchform. Daran ist zunächst nichts zu bemängeln. Wenn jedoch der Sound so dermaßen miserabel abgemischt ist, dass Großteile der Songtexte nicht zu verstehen sind, wird’s schwierig. Fast die gesamte erste Hälfte erlebt das nahezu ausverkaufte Colosseum einen Soundbrei, der zu mehreren Problemen führt: die sechsköpfige Rockband ist anfangs so leise wie Hintergrundmusik, die Darsteller akustisch nicht zu verstehen. Häufig trifft man in Musicals ausländische Darsteller an und versteht aufgrund der Sprachbarriere zu wenig – hier handelt es sich aber durchweg um deutsche Muttersprachler. Somit besonders schade!
Musikalisch ist das Stück Punk-/Poprock und kopiert die Arrangements der Studio Versionen. Zusammengesetzt aus dem Album von 2004, dem Folgealbum „21st Century Breakdown“, einigen B-Seiten und einem nur für das Musical geschriebenen Song. Gut, dass die Songs so gelassen wurden, wie sie sind und keine musicalesque Verarbeitung durchleben brauchten. Ab der Hälfte der Aufführung knallt es dann auch endlich Mal und Rock klingt wie Rock. Als Musicaldarsteller gerät man da schnell außerhalb seiner Comfort Zone, was leider auch hier passiert. Die zehn Performer, die alle geschätzt nicht das Alter über Mitte 20 erreicht haben, sind noch in der Ausbildung oder gerade fertig – das merkt man. Tonal ist hier vieles nicht mittig, wirkt oft angestrengt. Das ist zwar nicht wirklich schlecht, aber eben auch nicht gut. Schauspielerisch das Gleiche. Einige erfahrenere Darsteller hätten dem Ganzen gutgetan.
Obwohl das Arrangement zwar gleich blieb, entschied man sich dafür, die Texte der Songs zu übersetzen. Wahrscheinlich um die Story besser transportieren zu können (was ja wegen des Sounds kaum funktionierte). Die Übersetzungen sind soweit in Ordnung, sorgen aber teilweise auch für Schmunzler, wenn bereits im Opening Schlagwörter wie „Alien nation“ oder „American Idiot“ einfach mal nicht übersetzt werden. Ein wenig inkonsequent.
Auf der Bühne passiert zwar stets viel, aber alles ein wenig unkoordiniert, was bei einem Theater dieser Größenordnung eher fatal ist. Das Stück beginnt auf den Sitzen im Publikum, benutzt den Gang zwischen den Reihen öfter als Steg und will ganz, ganz edgy sein. So gibt es einen Hitlergruß in einer Choreo, es wird einem Mann in Unterhose in den Schritt gepackt und mehrmals mit der Spritze das Heroin angesetzt. Leider leidet aber auch hier die Provokation unter der fast nicht vorhandenen Requisite und dem spärlichen Bühnenbild. In zwei Ecken stehen die Bandmember, davor jeweils ein Sofa, dazwischen einige Seminarstühle und hinten in der Mitte gibt es einen Spiegel, der aufleuchtet – das war’s. Ab und zu ein paar Rucksäcke, Bierflaschen oder anderer alltäglicher Kram. Das ist ok und kann man so machen, wenn man denn mit Schauspiel und Inhalt so viel erzählt, dass die Kulisse im Kopf des Zuschauers selbstausgemalt wird. Im kleinen Rahmen mit 100 Zuschauern hat es wahrscheinlich eine andere Wirkung. Aber so bleiben bis jetzt Fragen, wo genau das Stück nun eigentlich spielt – in einem Jugendtreff? Auf der Straße? Sind überhaupt alle Rollen immer gemeinsam am gleichen Ort oder sind das mehrere Räume, die gleichzeitig gezeigt werden? Echt schwierig. Gleiches gilt für das Kostüm und Make-Up, das wahrscheinlich möglichst authentisch und alltäglich wirken soll, aber auch wenig Augenmerk auf sich wirft.
Green Day selbst haben am Skript des Musicals mitgeschrieben und ihr Konzeptalbum American Idiot verbildlicht. Das ist löblich und eine schöne Idee. Aber als Zuschauer sollte man dazu imstande sein, verstehen zu können, was dort geschieht ohne einen einzigen Song zu kennen. Wir von minutenmusik kannten zwar die Songs, aber auch das half nur geringfügig. Fazit: Wer sich in fast der gleichen Preisklasse befindet wie die größten Shows des Landes, muss sich auch in dieser Kategorie beweisen. Es gibt genügend Beispiele für günstigere Eintrittskarten, die bessere Shows bieten – möglich ist es also. OffMusical hat mit „Hedwig and the Angry Inch“ wirklich großes Musiktheater gezeigt und mit American Idiot eher auf Sparflamme gestellt. Zwar gab es am Ende Standing Ovations, aber auch einige Zuschauer, die vorzeitig gingen. Gespannt sind wir trotzdem, was das Frankfurter-Start-Up als nächstes bringt.
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