Anastasia – Das Musical, Stadttheater Bielefeld, 20.09.2025

anastasia bielefeld

Nur wenige Monate, bevor die Corona-Pandemie die Welt beherrschte, feierte Anastasia im Stage Palladium Theater in Stuttgart seine Derniere. Gerade einmal elf Monate lief das Stück. Da hatte sich Stage Entertainment wohl eindeutig mehr von versprochen. In der Musical-City Deutschlands, nämlich Hamburg, lief es kurioserweise bis heute nicht und sowieso sind die Spielorte hierzulande an einer Hand abzählbar. Das Stadttheater Bielefeld hat sich somit für die Spielzeit 25/26 nicht nur eine kleine Orchidee – frei nach dem Motto: Schön, aber selten – ausgesucht, sondern ganz nebenbei noch die NRW-Premiere inne.

Auch wenn es an vielen vorbeigehuscht zu sein scheint, so ist die Thematik mehr Leuten ein Begriff, als man glaubt: 1997 probiert sich 20th Century Fox an einem Zeichentrickfilm – ja, damals hat man das wirklich noch gezeichnet – der den großen Disney-Classics der 90s zumindest ansatzweise das Wasser reichen soll. Meilensteine wie „Aladdin“, „König der Löwen“ und „Die Schöne und das Biest“ sind gerade erst ein paar wenige Jahre alt, somit schnappt man sich besonders den Ton von letztgenanntem und kreiert damit einen oft vergessenen, aber von vielen sehr gefeierten und auch recht erfolgreichen Kinder-Hit. Für die stark komponierte Musik von Stephen Flaherty gab es sogar zwei Oscar-Nominierungen – sowohl für den Score, als auch für den Song „Journey to the Past“. Tipp an dieser Stelle: Wer vor oder nach dem Besuch in Bielefeld den Film schauen mag, kann das kostenlos auf Disney+ tun, schließlich hat Disney 20th Century Fox vor Jahren aufgekauft.

Die Weltpremiere der Musicaladaption von Anastasia gab es 2016 in den USA. Nur wenige Monate nach einigen Try-Out-Shows geht’s an den Broadway, wo es zwei Jahre läuft. Die West-End-Premiere lässt bis heute auf sich warten. Dabei bietet das Stück durch die untypische Geschichte mit politischem Ansatz und vielen berührenden Songs perfektes Material, um der nächste Geheimtipp in London zu werden. Besonders erfreulich also, dass das Stadttheater Bielefeld sich ans Stück wagt. Ein Wagnis ist es in vielerlei Hinsicht: Allzu viele Aufführungen gab es noch nicht, gleichzeitig aber eine sehr aufwändig produzierte Stage-Produktion, die viele begeisterte. So zieht es ganz automatisch in der gerade gestarteten Saison viele in die Stadt im Nordosten NRWs. Andererseits geht es um Russland und um die Eroberung durch die Bolschewiken, was bei der aktuellen Lage auch vielleicht etwas Unangenehmes auslösen kann. Doch das ist wohl eine sehr individuelle Wahrnehmung.

Gleich vorweg also ein Kompliment für die Auswahl – so etwas lässt Musicalfans unmittelbar aufhorchen. Am 20.9., einem Samstag, geht es erstmalig für die titelgebende Figur auf Reise zu sich selbst und ihren noch womöglich verbleibenden Angehörigen. Vorerst sind insgesamt elf Vorstellungen geplant, die nächsten anstehenden sind jedoch bereits ausverkauft, was uns wirklich gar nicht wundert. Mit 725 Plätzen gibt es nicht wenige, aber insgesamt dann doch gar nicht so viele bei einer dermaßen großen Musical-Fanbubble. Pünktlich um 19:30 Uhr startet die Erstaufführung, die aus einem 75-minütigen ersten und einem 65-minütigen zweiten Akt besteht und bei der man nach vereinzelt freien Plätzen im Saal schon sehr genau schauen muss.

Das Fazit zur Inszenierung von Janina Niehus, die erstmalig ein Musical selbst inszeniert, fällt ziemlich gemischt aus. Am Ende ist es auch etwas Geschmacksache, wie gut einem die eigenwillige Interpretation gefällt. Denn eines kann an dieser Stelle vorweggenommen werden: Mit der prunkvollen, märchenhaften Stage-Produktion hat Anastasia in Bielefeld sehr, sehr wenig gemeinsam. Besonders Theaterbesucher*innen, die optisch etwas geboten bekommen wollen, könnten enttäuscht sein.

Doch zu den wirklich positiven Aspekten: Schon in den ersten Sekunden ist man von dem wunderbar abgemischten, sehr runden und vollen Klang gepackt. Die Bielefelder Philharmoniker spielen unter der Leitung von William Ward Murta wirklich hervorragend. Die meist klassisch-dramatischen Arrangements werden ohne auch nur einmal abzusacken durchweg wunderbar gespielt und fliegen durch den Saal. Ebenso die Stimmen, die von der Bühne kommen, mischen sich fast ausnahmslos perfekt neben den Instrumenten in den Sound ein und ergeben ein tolles Erlebnis für die Ohren. Das liegt nicht zuletzt daran, dass das Ensemble durch den Bielefelder Opernchor ergänzt wird. Fast 40 Personen stehen hier zwischenzeitlich gemeinsam auf der Bühne, darunter auch Mitglieder der Theaterballettschuhe – wenn Bühnen bis in die letzte Ecke vollbepackt werden, ist das meist für die Zuschauer*innen noch packender. So auch hier.

Generell ist die Besetzung sehr gelungen. Die noch nicht einmal 30-jährige Lara Hofmann spielte bereits Sally in „Cabaret“ am Haus und liefert mit ihrem sanften Sopran eine richtig starke Performance ab. Sie ist stets nachdenklich und von ihrer Vergangenheit überrumpelt, bleibt aber dennoch optimistisch und immer bei sich. Ganz besonders in dem herausfordernden großen Solo „Reise durch die Zeit“ kämpft sie sich durch viel Wind über die sich langsam anhebende Bühne und zeigt im großen Umfang, was sie draufhat. Berührend, eher seicht als zu übertrieben druckvoll, tonal aber immer sicher. Doch auch ihre zwei männlichen Mitspieler überzeugen in jedem Lied. Nikolaj Alexander Bruckner als böser Gegenpart Gleb Vaganow erinnert optisch ein wenig an Billy Idol und nutzt jedes Machtspiel, das ihm gelegen kommt. Sein Solo „Doch“ ist ebenso eine der stärksten Szenen, wenn er zwischenzeitlich auf einer schwebenden Brücke über den Köpfen stolziert. Trotzdem sticht der Gast Andreas Bongard als Dimitri am meisten hervor. Viele Musicalfans kennen ihn wahrscheinlich aus „Das Wunder von Bern“, „Ghost – Nachricht von Sam“, „Schikaneder“ oder zuletzt aus „& Julia“ . Die ganz großen Gefühle gehen auf sein Konto. Genau der Richtige hierfür. Betty Vermeulen als Zarenmutter rundet das Feld der Hauptfiguren mit einer Mische aus Diva, Glamour und weichem Kern ab.

Dem Gegenüber steht jedoch die arg sperrige und schwer greifbare Inszenierung. Wie man mit den schillernden Bildern von Stage konkurriert? Einfach gar nicht, indem man alles Aufwändige beiseite legt. Stattdessen erinnert Anastasia viel mehr an typische Operninszenierungen – absolute Konzentration auf Gesang, so wenig Requisite wie möglich, so einfach gehaltene Kostüme wie möglich und so wenig Bühnenbildwechsel wie möglich. Sämtliche Figuren tragen ausnahmslos Weiß oder Creme, manche haben schwarze Schuhe an. Einige Kleider haben im Schnitt gar Abendgarderoben-Charakter, ihnen ist nur sämtliche Farbe entzogen. Auf der Drehbühne gibt es ein paar Bänke, wenige Gerüste zum Emporsteigen, von der Decke hängen weiße Laken herunter, dazu gibt es einige abstrakte Leuchtelemente, die Silhouetten einer Stadt zeigen plus eine höhenverstellbare Brücke. Und das war’s dann auch schon. Ach ja, und viel fallenden Schnee, Nebel und eine sehr große Windmaschine. Szenenwechsel werden oft nur durch das Bewegen der Drehbühne angedeutet, ansonsten sind sie optisch nicht erkennbar. Tatsächlich gibt es sogar im Stück einen Dialog, der genau darauf anspielt: Die Figuren kehren in Frankreich ein, Dimitri sagt daraufhin „Hier sieht es ja aus wie in Russland“. Stimmt.

Das kann man natürlich genauso machen. Völlig in Ordnung. Allerdings hat das Ganze zwei ziemliche Knackpunkte: Einerseits ist die Handlung gar nicht so griffig, sodass man ohne Vorkenntnisse oft der Story nicht gut hinterherkommt, geschweige denn immer weiß, wo gerade eigentlich die Szene stattfindet. Andererseits hat Anastasia in Bielefeld wenig bis gar keine Familientauglichkeit. Auf der Website wird der Besuch ab 12 Jahren empfohlen, was eine nachvollziehbare Einschätzung ist. Jedoch werden wohl viele durch den bekannten Film oder auch den bekannten vorangegangenen Inszenierungen mit sehr anderen Erwartungen das Stück besuchen. Besonders der erste Akt ist spärlich und sperrig, erst im zweiten gibt es mal auch fürs Auge auflockernde Choreografien oder mehr Bewegung. Durch die sehr reduzierte Umsetzung bekommt die eigentlich gar nicht langweilige und auch gar nicht kühle Storyline einen etwas drögen und vor allen Dingen ziemlich darken Anstrich, inklusive einiger Schusswaffeneinsätze. Etwas schwierig.

Qualitativ liefert das Stadttheater aber in den Kernaspekten Schauspiel und Gesang wirklich gut ab. Auch die echt gelungenen Kompositionen von Flaherty funktionieren super. Am Ende bleibt es Ansichtssache, ob Liebhaber*innen des Stücks die individuelle Umsetzung mögen oder sich eher vor den Kopf gestoßen fühlen. Genauso verhält es sich mit denjenigen, die Anastasia erstmalig besuchen. Eben dieser nihilistische Stil hat immer seine Fans und gleichzeitig auch nicht. Und das ist ja auch ok.

Weitere Vorstellungen:
26.09., 28.09., 03.10., 05.10., 01.11., 23.11., 03.12., 08.01., 07.02., 18.02.

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Foto von Christopher Filipecki

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