Seit Mitte März liegt der Broadway lahm. Corona macht’s möglich. Die Stadt, die niemals schläft, schläft. Im letzten Jahr verkauften sich fast 15 Millionen Tickets für diverse Shows am New Yorker Times Square. Bereits im Juni wurde bestimmt, dass vor Januar 2021 nichts mehr geht. Guckt man auf die aktuellen Zahlen, wird auch der Jahresanfang dort dem Wetter entsprechend grau leuchten statt in bunten Farben auf Leuchtreklamen. Kein Ende in Sicht.
In Deutschland sieht das Ganze wenig anders aus. Zwar laufen hin und wieder einige Shows mit wenig Zuschauer*innen – dass man aber mal ein klassisches Musical sieht, was auf den dafür bekannten, großen Bühnen läuft, ist eine gefühlte Ewigkeit her. Seit Anfang September dürfen immerhin wieder viele städtische Theater spielen, was aber fürs Genre eher ein nichtiger Trost ist.
Um dem tristen Herbstwetter und den wieder ansteigenden Coronazahlen zu trotzen und im gleichen Moment den nicht vergessenen Shows zu huldigen, zeigen die Veranstalter von ShowSlot die Gala Broadway Nights – Die größten Musical-Hits aller Zeiten. Da die Gigs nicht als Großveranstaltungen zählen, ist es möglich, regulär zu spielen. Am 12.10.2020 ist die vorletzte Aufführung.
Die rustikale Stadthalle Wattenscheid in Bochum ist definitiv keine schicke Location, aber für einen derzeitigen Anlass besser als nichts. Bis auf wenige Plätze ist die Halle besetzt – mit Masken. Ein wirklich seltsamer Anblick. Probieren aktuell viele Theater bzw. Konzerthallen nur vereinzelte Plätze zu verkaufen, sitzen locker 40 Leute nebeneinander dicht an dicht mehrere Reihen hintereinander. Nur eben mit Mund-Nasen-Schutz. Ein wenig unwohl fühlt man sich schon. Wann war man zuletzt mit so vielen Fremden so eng beisammen?
Aber ok. Stattdessen besser den Fokus aufs Geschehen richten. Mit wenigen Minuten Verspätung beginnt die exakt zwei Stunden lange Show um 19:35 Uhr, wird zwischenzeitlich durch 25 Minuten Pause unterbrochen und endet fast pünktlich um 22 Uhr. Müssen mehrere Künstler*innen immer häufiger ihre Auftritte kürzen, zieht Broadway Nights durch. Das im Alter gemischte Publikum nimmt dies dankend ein, klatscht und jubelt ausgelassen bis zum letzten gefallenen Vorhang.
Eine Musical-Gala kann äußerst unterschiedlich ausfallen. Welche Musicals werden ins Programm genommen? Welche Songs werden gewählt? Wie ist alles aufeinander abgestimmt? Welche Darsteller*innen treten auf? Was tragen sie für Kleidung? Broadway Nights macht in den zwei wichtigsten Punkten nahezu alles richtig: Die Darsteller*innen – insgesamt vier an der Zahl – sind alle durchweg super. Die Musicalauswahl ist bis auf kleine Ausnahmen gelungen, ebenso die Auswahl der Songs aus den Stücken. Dafür hapert es aber an diversen Dingen in der B-Wertung.
Doch von vorne: Mit Christian Funk, Kevin Thiel, Veronika Riedl und Helena Lenn stehen vier junge Darsteller*innen auf den Brettern, die die Welt bedeuten, die alle noch unter 30 und teilweise gerade erst mit der Musicalausbildung fertig sind. Dies fällt jedoch wenig ins Gewicht, da sich alle vier wirklich von Sekunde eins bis zum Ende der Show bemühen und sich in einigen Momenten die Seele aus dem Leib schreien. Womit wir auch schon bei einem Kritikpunkt wären: wer steht da denn am Mischpult? Niemand? Gerade bei den lauteren Songs sind oftmals die Mikrofone zu leise und viele Parts nicht richtig hörbar. Von ein paar netten Halleffekten, die den Darsteller*innen positiv zukommen würden, wurde leider auch noch nicht viel gehört. Auch in einer Stadthalle und mit dem angebotenen Equipment könnte so etwas besser klingen. Schade.
Die größten Musical-Hits aller Zeiten ist selbstverständlich ein reißerischer Titel, aber auch ein waghalsiger. Was genau sind denn „die Größten“? Die beliebtesten und bekanntesten? Die Titelsongs aus den Musicals mit den meisten Zuschauern? Broadway Nights wählt hier eine gute Mischung, die jedem gefallen sollte. Von den gerade in Deutschland bekannten Klassikern gibt es Das Phantom der Oper („Die Musik der Nacht“), Grease („Grease Megamix“), Der König der Löwen („Der ewige Kreis“), Tarzan („Dir gehört mein Herz“), The Rocky Horror Show („The Time Warp“), Tanz der Vampire („Totale Finsternis“), Elisabeth („Ich gehör‘ nur mir“), Mamma Mia („Mamma Mia“) oder auch Dirty Dancing („I’ve Had The Time Of My Life“). Eben Showstopper am laufenden Band, was auch genau richtig so ist. Obendrauf wagt Broadway Nights den Blick in etwas unbekanntere Richtungen und zeigt Titel aus Hinterm Horizont („Hinterm Horizont geht’s weiter“) oder Der Glöckner von Notre Dame („Draußen“), guckt auf die Anfänge des Musicals mit Cabaret („Cabaret“) und sogar auf Stücke, die hier noch gar nicht liefen, wie Beetlejuice („Dead Mom“) oder Hamilton („You’ll Be Back“). A Star Is Born („Shallow“) und Greatest Showman („From Now On“, „This Is Me“) gibt es zwar bisher noch nicht als Bühnenstücke, haben aber durch ihre jüngst vergangenen Blockbusterperfomances im Kino auch ihre Daseinsberechtigung. Außer Das Phantom der Oper wird jedoch auf Andrew Lloyd Webber-Stücke gänzlich verzichtet, womit Starlight Express oder Cats komplett wegfallen, welche immer noch zu den wichtigsten in Deutschland gehören, aber das ist wohl zu verschmerzen.
Alle vier Mitwirkenden haben absolut keine leichte Aufgabe. Gerade einmal zwei Männer- und zwei Frauenstimmen müssen durch 120 Minuten extrem anspruchsvolle Gesangsnummern durchkommen, wovon auch einige außerhalb der eigentlichen Gesangslage liegen. Dafür gelingt das jedoch gut und hat ein paar wirklich hervorstechende Momente. „Die Musik der Nacht“ wird von Thiel ungewöhnlich poppig, aber dennoch hervorragend präsentiert. Dass Funk schauspielerisches Talent hat, beweist seine One-Man-Show im Hamilton-Ausschnitt. Lenn muss sich mit DEM Disney-Hit der letzten Dekade, „Let It Go“ aus Die Eiskönigin, und „Ich gehör‘ nur mir“ aus Elisabeth durch die zwei schwersten Nummern des Abends kämpfen und macht auch das souverän. Riedls bester Moment ist „On My Own“ aus Les Misérables. Da die Darsteller*innen neben Singen auch noch sympathisch-witzig durch das Programm moderieren, das Publikum animieren und an einigen Stellen kleine Choreografien präsentieren müssen, bleibt ein wenig Energieverlust zum Ende hin nicht aus. Einige Male brechen die Stimmen leicht weg bzw. sind minimal unterm Ton, was aber bei den Beanspruchungen auf einer derartigen Länge kaum anders möglich ist.
Was wiederum absolut möglich wäre, wären ein paar Änderungen am Konzept der Show: mit fast 70€ für die besten Plätze ist die Veranstaltung keinesfalls ein Schnäppchen. Dass dafür aber ausschließlich vier Darsteller*innen geboten werden, die zu Instrumentalversionen singen, ist etwas grenzwertig. Tatsächlich wirkt es ein wenig so, als ob Karaokesongs gekauft wurden, zu denen nun gute Sänger*innen performen. Eine kleine Band hätte gerade dem musikalischen Faktor mehr Mehrwert verpasst. So klingt zwar alles recht originalgetreu, ist aber auch liebloser dargeboten. Fürs Auge bietet Broadway Nights ebenfalls überraschend wenig. Zwar gibt es einige hübsche Lichteffekte und angenehme Farben, das war’s dann aber auch. Zu einigen Songs werden kleine Requisiten wie ein Umhang oder ein Hut gezeigt, aber gerade im Kostüm könnte man einiges drauflegen. Stattdessen hat jeder das an, was er/sie auch auf einer privaten Party tragen könnte. Der eine trägt einen Anzug, die andere ein rotes Kleid mit Stiefeln, die nächste ein Jackett über einem Top. Etwas mehr Abstimmung würde auch hier für mehr Professionalität und Ernsthaftigkeit stehen. Letzter, aber dennoch tragender Kritikpunkt: wenn auf der Homepage zur Show Die Schöne und das Biest, Mozart! und sogar auf den aushängenden Plakaten Wicked angekündigt wird, wäre es obligatorisch daraus auch Songs zu zeigen. Die lassen jedoch selbst nach der Aufführung auf sich warten.
In Coronazeiten schraubt man gern seine Erwartungen etwas herunter. Das Publikum klatscht laut Beifall und ist sichtlich angetan. Broadway Nights ist keine schlechte Show, da die Basis sitzt. Gerade die Darsteller*innen machen einen tollen Job, legen sich ins Zeug, um die in der Gesellschaft weiterhin anherrschende triste Stimmung wegzuzaubern, was auch gut gelingt. Dennoch sollte man am Sound arbeiten, Livemusiker wären wünschenswert und Versprechungen in der Werbung, die nicht eingehalten werden, sind auch kritisch. Schon jetzt sind weitere Vorstellungen für den nächsten Herbst angekündigt. Somit lässt sich aus einer mittelprächtigen Aufführung bestimmt noch eine wirklich gute machen.
Und so sieht das aus:
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Bild von Christopher.
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