Wie viele Veranstaltungen von euch wurden wegen Corona verschoben? Jap, das werden so einige sein. Es gab schlichtweg so lange Show- und Konzertverbote, dass man in dem “Neuer Termin oder doch Absage?”-Dschungel kaum noch durchschaut. Allerdings gibt es auf der anderen Seite nicht nur das Tohuwabohu, wenn wegen zu hoher Fallzahlen die Shows gar nicht erst stattfinden dürfen – sondern ebenso, wenn die Darsteller*innen selbst an Corona erkranken. So auch in dem Fall bei der Kinky Boots – Ziemlich scharfe Stiefel-Vorstellung in Hamm.
Ja, Musicals und Theaterbühnen sind seit Längerem schon wieder bespielbar, was wirklich schön ist. So galten sie zwischenzeitlich als letzte Instanz, die auch während des vergangenen Winters Live-Kultur zeigen konnten. Heißt aber auch: Viele Menschen im engen Kontakt ohne Maske, und das recht regelmäßig. Kein Wunder also, dass in der besonders anfälligen Phase im Februar und März auch das Ensemble des Theater für Niedersachen nicht verschont blieb. Demnach war der umsetzbare Termin eben der 20.04., ein Mittwoch, statt dem 16.02. und dem 17.03. – denn Tatsache, die Show musste gleich zweimal krankheitsbedingt neu geplant werden.
Doch besser spät als nie. So schreiten mit großer Motivation rund 300 Persönchen in den Raum des Kurhaus Bad Hamm, womit das Theater gut zur Hälfte belegt scheint. Tatsächlich zieht nämlich die Produktion des eigentlich in Hildesheim ansässigen Theater für Niedersachsen einmal quer durch die Nation und hält auch am äußersten Ruhrpott-Rand. Das ist lobenswert und auch eine logische Konsequenz, denn für die Inszenierung des queeren Stücks hat man keine geringere als Lilo Wanders gewinnen können – und die hat ja nahezu Queerness made in Germany erfunden.
Mutig ist es trotzdem, wenn man sich ein Musical vornimmt, das zuvor auf der Reeperbahn in einer hochkarätigen Inszenierung von den Bombast-Größen Stage Entertainment zu sehen war. Allerdings lief das Stück selbst an dem dafür wie gemacht erschienenen Ort nicht mal ein Jahr – zu Special Interest? Zu dirty, sexuell und aufmüpfig? Aber Mut soll bekanntlich belohnt werden. Und so verfehlt Kinky Boots auch in einer kleineren, heruntergefahrenen, aber dennoch launigen Aufführung in Hamm nicht seine Wirkung.
Die zündet zwar nicht sofort und braucht ihre Zeit, aber es klappt. Am Ende des Zweiakters, der zunächst 75 Minuten und dann noch einmal 55 Minuten dauert, springt die Menschenschar nach wenigen Sekunden auf. Das liegt ganz besonders an dem wirklich hervorragenden Stück, das durch eine emotionale, witzige und sogar recht vielschichtig erzählte Geschichte brilliert, letztendlich aber – und so muss es bei einem Musical auch sein – durch seine verdammt guten Songs einfach mitreißt. Die sind von einer der größten Gay-Ikonen komponiert worden, nämlich von Cyndi Lauper. Auch wenn der 80s-Star vielleicht nicht endlos viele Hits geliefert hat, gibt es aber zumindest eine Hand voll, die auch heute noch laufen. Harvey Fierstein als Buchautor hat ebenso ziemlich gut abgeliefert.
In Kinky Boots geht es um Charlie, der von seinem verstorbenen Vater eine Schuhfabrik auf dem Land erbt, die allerdings kurz vor dem Bankrott steht. Wie durch einen Zufall gerät er in seiner Wahlheimat London in einen Konflikt mitten auf der Straße und lernt so die Dragqueen Lola kennen, die dringend für ein paar Auftritte vernünftige Schuhe bräuchte…
Erzählt wird die recht temporeiche Story rundum die Rolle in der Gesellschaft und den Toleranz-Diversitätsaspekt auch in der Hamm-Inszenierung recht stimmig. Das elfköpfige Ensemble macht besonders auf schauspielerischer Seite stets eine tolle Figur, meistert problemlos die Herausforderung auf hohen Hacken zu stolzieren und ist nie over the top. Musikalisch gibt’s allerdings in der ersten halben Stunde einige Aussetzer – das ist jedoch in erster Linie der nicht ganz so runden Technik zuzuschreiben. Die aus acht Personen bestehende Liveband klingt anfangs unglaublich schlecht abgemischt und wie in einem Garagenprobenraum. Das bessert sich zum Glück im Laufe des Stücks enorm. So gehen aber zum Opening einige Songs unter. Zusätzlich ist tonal bei denjenigen, die für kleinere Rollen besetzt sind, nicht alles sauber.
Hat man also während der ersten Hälfte des ersten Aktes seine Erwartungen ein wenig heruntergeschraubt, geht es fortan nur noch bergauf. Sämtliche Titel von den Hauptfiguren Charlie – ganz fantastisch besetzt mit dem nicht mal 30-jährigen Johannes Osenberg – und dem aus Philadelphia stammenden William Baugh als Drag Lola – hier ein großes Kompliment für die sehr klare Aussprache trotz Fremdsprache – sind toll vorgetragen. Ebenfalls ein Highlight: Katharina Wollmann als Lauren, die mit ihrem Solo kurz vor der Pause für einen richtigen Beifallsturm sorgt.
Das Bühnenbild ist ein wenig statisch und grau. Hier wäre etwas mehr Farbe für ein so buntes Stück nicht verkehrt. Zwar gibt es eine ganze Ladung an Requisite, die immer wieder hinzugebracht wird, aber bei solchen eyepopping Stücken ist mehr eben auch doch mehr. Trotzdem funktioniert Kinky Boots glücklicherweise auch mit kleinerem Ensemble, kleineren Mitteln und geht nicht unter. Im zweiten Akt gibt es mit dem Hinterfragen der eigenen, festgefahrenen Gedankenstrukturen sogar den “Das nehme ich mit nach Hause”-Moment und mit dem druckvollen Gute-Laune-Finale die richtige Energie, um mit einem Lächeln hinauszugehen.
Wer also Lust auf sehr gute Musik, eine schöne Story, deren Message man nicht oft genug wiederholen kann, und spielfreudige Darsteller*innen hat, kann gern schauen, ob die Kinky Boots-Inszenierung des Theater für Niedersachen auch in seine*ihre Nähe kommt. Wir drücken die Daumen, dass die Technik dort auch von Minute Eins aufpasst, dann bekommt nämlich das gute Package noch einen Pluspunkt obendrauf.
Und so sieht das aus:
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Die Rechte fürs Foto liegen beim THEATER FÜR NIEDERSACHSEN / BUEHNENFOTOGRAF.DE.
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