Wer in Berlin lebt, kennt’s: Bock auf Kultur, aber wohin zuerst? Konzerte, Musicals, Clubs, Museen, Märkte – erschlagend. So viel Auswahl, so viele Optionen, so viele Empfehlungen, so viel Entscheidungsschwierigkeit. Es gibt einfach von allem too much. Umso wichtiger, dass zwischen dem Überangebot auch kleine Perlen auf dem großen Meeresboden zu finden sind, die vielleicht nicht jedermanns Sache sind, aber dafür einen Haufen Finesse und Kreativität mit sich bringen. Sheila Wolf hat ein richtig gutes Händchen für Entertainment, das ein bisschen abseits vom Mainstream steht, und bringt ihr Programm auch hin und wieder nach NRW. Ok, Lünen hätte man als Stadt der Wahl jetzt nicht unbedingt erwartet, aber warum eigentlich nicht? Welcome to Burlesque, lasst uns ins Vaudeville-Feeling abtauchen!
Gehen wir erstmal zwei, drei Schritte zurück: Wer ist denn nun schon wieder Sheila Wolf? Wolf Teichert, so der gebürtige Name, 1969 geboren in Berlin, war mit Mitte 30 von seinem Leben dermaßen angeödet, dass es Zeit wurde für einen neuen Anstrich. Grafik-Design goodbye, Travestiekunst hello! Dank seiner Affinität zum Rock’n’Roll gibt es neben Frauenkostümen on top einen glamourösen Hauch aus ewig vergangenen Rockabilly-Tagen – und zack, Sheila Wolf war geboren. Eher ungewöhnlich ist Wolf allerdings hetero und Familienpapa, nichtsdestotrotz fühlt er sich als Teil der queeren Szene, setzt sich für LGBTQIA*-Rechte ein und holt die Kunstform Burlesque nach Deutschland. Seit rund 20 Jahren ist Sheila Wolf auf, vor oder hinter der Bühne tätig. Sie moderiert und produziert die oft ausverkauften Shows und ist stets auf der Suche nach Talenten, bei denen sie hinsichtlich Gender, Sexualität und Körperform gar keine Grenzen setzt.
Natürlich ist das Konzept im offenen und toleranten Berlin schon ewig ein Erfolgsgarant. Köln und Frankfurt sind auch schon auf den Zug aufgesprungen – aber Lünen? Die Ruhrpott-Stadt mit nicht mal 86.000 Einwohner*innen befindet sich genau neben Dortmund. Ein wenig provinziell ist es hier schon. Genau dort mit einer erotischen, diversen Show um die Ecke zu kommen, ist mutig. Doch Mut gehört zu Sheila Wolfs Profil eben einfach dazu. Schließlich müssen Sehgewohnheiten nicht in den Millionenmetropolen angepasst werden, sondern auch in den kleineren Citys.
Im Heinz-Hilpert-Theater wird’s am letzten Freitag im Januar, nämlich dem 31., ein wenig verrucht, durchaus mal obszön, gleichzeitig musikalisch, akrobatisch, verführerisch-lasziv und witzig. Mit der Reihe “Vaudeville Variety Revue”, die 2014 ihre erste Ausgabe feierte, zieht Berlins Szene-Star Sheila Wolf nun durch die Republik. In Lünen stehen fast 800 Sitzplätze zur Verfügung, wovon rund zwei Drittel belegt sind. Mit zunächst 65, dann nach der Pause sogar 85 Minuten gibt es zum Wochenendstart eine ordentliche Ladung an Unterhaltung – und das für gerade einmal 50 Euro. Heutzutage wahrhaftig eine Seltenheit. Aber kleines Geld bedeutet nicht kleines Vergnügen, denn die zweieinhalbstündige Gala ist ein bunter Gemischtwarenladen, bei dem jede*r wohl einen anderen Favoriten im Kopf behält.
Zartbesaitet darf man nicht sein, denn Sheila Wolf ist als Host auf jeden Fall derbe. Nicht völlig zügellos, aber durchaus naughty. Viele Anmoderationen gehen um Sex und Nacktheit, sind aber immer charmant und mit einer guten Ladung Selbstironie. In vier schicken Outfits präsentiert sich die Künstlerin vor ihrem Publikum, sorgt für gute Stimmung und holt auch diejenigen ab, die man auf einer derartigen Veranstaltung nicht unbedingt erwartet. Die Crowd ist auf den ersten Blick etwas konservativer, nicht das typisch queere CSD-Publikum, wie man es aus Köln kennt – aber Spaß haben trotzdem alle. Zwar löst mancher Act zunächst etwas Stirnrunzeln aus, überzeugt dann aber doch auch die verschlafenen Vorstadt-Kritiker*innen mit den kleinen Kunststücken.
Schön ist, dass man die Revue immer wieder besuchen kann, da die Zusammensetzung der Artists nie dieselbe ist. Worauf man sich verlassen kann, ist, dass es Anteile an Burlesque gibt, also einen stilvollen erotischen Strip-Tanz, aber auch musikalische Nummern mit Livegesang, ein bisschen Akrobatik, ein bisschen Zauberei, natürlich Drag und nicht zuletzt auch Comedy. Alles, was auch ohne riesige Aufbauten klappen kann. Mal ist der eine Anteil höher, mal der andere. Die Künstler*innen – in Lünen sind es neben Sheila als Host acht an der Zahl – sind national wie international. An jenem Freitag sieht man Menschen aus Estland, Kanada, UK und mehr.
Viele Acts zeigen sowohl im ersten als auch im zweiten Akt eine Nummer. Direkt der Einstieg gelingt mit Chrissy Kiss ganz hervorragend, da sie eben die Art von Burlesque präsentiert, die man sonst doch oft nur aus dem Fernsehen kennt. Zwar ist das etwas in die Jahre gekommene Theater nicht unbedingt die Location, die ihrem Glamour würdig wird, aber ihre Bewegungen und ihre super schönen Outfits sind ein absolutes Highlight der Show. Auch hier zeigt sich, dass man nicht Größe Zero tragen muss, um sexy auszusehen. Chrissy ist curvy und genau damit ein toller Gegenentwurf zu merkwürdig übermittelten Körperbildern in einschlägigen Castingshow-Formaten auf ProSieben. Tronicat la Miez ist die einzige Ruhrgebietskünstlerin an dem Abend. Sie ist stark tätowiert, fällt auf Anhieb mit ihren buntgefärbten Haaren und ihrem knalligen Makeup auf und sorgt mit ihrem leichten Gothic-Fetish-Look für einen weiteren, ganz anderen Optikaspekt. Chocolate Showboy, ursprünglich aus den USA, tanzt ansonsten im Moulin Rouge – nein, nicht in dem Musical, das Echte in Paris – und legt in Lünen zu Prince ein tänzerisch anspruchsvolles Solo hin. Auch das wird mit viel Applaus zurückgemeldet.
Dazwischen geschehen aber auch ganz andere Momente, bei denen sich weder ausgezogen wird, noch jemand tanzt. Dafür steht Gabriel Drouin ein rotes Kleid trotzdem sehr gut, währenddessen er schwindelerregende, sehr schnelle Runden im Cyr Wheel – einem überdimensional großen Hula-Hoop – dreht und dabei glücklicherweise nicht brechen muss, so wie es wohl ansonsten alle im Raum nach 30 Sekunden tun würden. Liz Best war bereits erfolgreich bei “Britain’s Got Talent” und zeigt einen bekannten, aber auch immer wieder angsteinflößenden Trick: Vier Papiertüten, unter einer befindet sich ein kaputter Glasflaschenhals, das Publikum entscheidet, welche Tüte wohl sicher ist und von der Magierin mit Wucht zerschlagen werden kann. Eine verletzte, blutende Hand bleibt auch hier zum Ende allen erspart. Genau die Mitte zwischen Strip, Comedy und Akrobatik wählt Robert Choinka, der Autoreifen für heftige Handstände und Verbiegungen nutzt oder um sich damit Abdrücke auf den Oberkörper zu malen. Beides gern gesehen. Abgerundet wird das Lineup durch die Dragqueen Gisela Kloppke und Performer Max Evans, beide häufiger im Hamburger Pulverfass zu sehen, die ein paar Songs singen und das Publikum zum Mitmachen animieren. Ist Gisela besonders mit “From Now On” aus “The Greatest Showman” mit starken Tönen am Start, so fällt Max dagegen durch nicht ganz so viel Sauberkeit und Sicherheit im Gesang bei dem “Glee”-Mashup “Rumour Has It/Someone Like You” von Adele ab. Tatsächlich der einzige eher nicht so gelungene Programmpunkt an dem Abend.
Wirklich sehr kurzweilig fliegen die drei Stunden inklusive Pause an einem vorbei. Durch die abwechslungsreiche Konstellation – bei der zwischendrin auch zwei Männer aus dem Publikum bei einem kleinen Spiel oberkörperfrei schillernde Nippel-Abdeckungen probieren dürfen – entstehen gar keine Längen. Nach der Aufführung stehen alle sogar noch für Fotos im Foyer zur Verfügung. Welchen Act man am liebsten mag, ist Geschmackssache. An dieser Stelle sei aber vor allen Dingen auf anstehende Revues in Köln später im Jahr hingewiesen, bei denen die Anzahl an Artists durchaus doppelt so groß ist. Sheila Wolf hat ihre Nische, ist als Aktivistin für die Szene wahnsinnig wichtig, sorgt aber mit ihren Shows für eine Art von Entertainment, die es nicht in jedem Theater in x-facher Ausführung gibt. Für mehr Kreativität, für mehr Diversität, für mehr Toleranz und für mehr Sexyness im Leben! Express yourself!
Und so sieht das aus (Trailer zur Berlin-Show):
Website / Facebook / Instagram / TikTok / X
Foto von Christopher Filipecki
* Affiliate-Link: Du unterstützt minutenmusik über deinen Einkauf. Der Artikel wird für dich dadurch nicht teurer.