Interview mit Leoniden über “Again” – Teil 1!

Leoniden Interview Again 2018 von ConstantinTimm

„Leoniden? Noch nie gehört!“ – so reagierten viele musikbegeisterte Menschen Anfang des letzten Jahres, wenn die wenig eingeweihten Frühgeister voller Freude von ihrem neuen Schätzchen berichteten. Kein Wunder – zu dem Zeitpunkt hatte die Indie-Band, die mittlerweile in aller Munde ist und von Talk-Show zu Talk-Show gereicht wird, noch nicht einmal ihr Debütalbum veröffentlicht. Gegen Ende des Folgejahres 2018 kann man nun eine ganz andere Bilanz ziehen. Kaum ein deutscher Musik-Act wird momentan so gefeiert, gelobt und gepriesen wie die fünf Kieler Jungs mit den schief sitzenden Hosen und vielen Kopfbedeckungen.

Den Erfolgsweg der Indie-Band in Zahlen sichtbar zu machen, stellt sich als gar nicht so leicht heraus. Das erste selbstbetitelte Album des Quintettes stieg gar nicht erst in die deutschen Charts ein, der nun diesen Herbst veröffentlichte Nachfolger „Again“ schaffte es auf die verhältnismäßig niedrige Position 36. Der Großteil der verkauften Einheiten läuft bei der Band, die häufig nach der Do-It-Yourself-Mentalität handelt, eben über einen Shop, den man selbst betreibt und dessen Einnahmen natürlich nicht vom Marktforschungsunternehmen GfK Entertainment erfasst werden. Der Blick auf die Streaming-Zahlen gibt darüber schonmal etwas mehr preis: „Kids“, die erste Vorabsingle des zweiten Leoniden-Langspielers und inoffizielle Bandhymne, wurde mittlerweile über zwei Millionen Mal über den schwedischen Streaming-Riesen Spotify abgespielt. „Sisters“ vom ersten Album sogar mehr als drei Millionen.

Die Betrachtung einer gänzlich anderen Erfolgsdimension spricht eine noch deutlichere Sprache: Obwohl die fünf Kieler sich in der Vergangenheit nicht wirklich mit Abwesenheit rar gemacht hatten und – im Gegenteil – selbst während der Arbeiten an Folgewerk der „Leoniden“-Platte fast fortlaufend Konzerte gespielt haben, scheint die Nachfrage nach den Konzerttickets für die bislang größte Tour der jungen Bandhistorie nicht stillbar. Gleich drei Konzerte in Berlin, zwei Shows in Köln, zwei Auftritte in Hamburg – fast alle Tourstopps vermelden bereits Monate im Voraus „Ausverkauf“. Wirft man nun noch einen Blick in das aktuelle Musikvideo der Gruppe – einem Zusammenschnitt vieler Live-Fanvideos zum Track „Colorless“ – so wird man von Strobo-Gewitter geblendet, sieht riesige Moshpits, in denen alle gemeinsam miteinander tanzen, eine überglückliche Band – wenn sich Angekommen-Sein nicht so anfühlt! Aber wie nimmt die Band den ganzen Trubel, ihre pickepackevollen Club-Konzerte, ihre aktuelle Lebenssituation wahr? Wie schafft man es als relativ junge Gruppe so fix einen derart ausgecheckten Nachfolger abzuliefern?

Tatort: Köln, fünfter Dezember 2018

Es ist Anfang Dezember im kühlen, verregneten Köln. Die Leoniden sollen heute Abend im bereits seit Monaten ausverkauften Gebäude 9 auf der „falschen Rheinseite“ spielen, einem Ort, zu dem sie besondere Beziehungen haben – mehr dazu später. Zuvor sitzt Sänger und Frontmann Jakob Amr im Büro ihrer Kölner Promoagentur. Er trifft heute mehrere Journalisten, Blogger, Medienpartner für Interviews. Wir sind als vorletztes dran. Amr ist hibbelig, er erzählt er habe bereits drei Kaffee getrunken, seine Laune ist gut. Das aufgedrehte, hyperaktive Image, das die Band auf ihren Social-Media-Seiten fährt, leben die Musiker auch aus. Während des Gesprächs werden Zimtschnecken serviert (lecker!). Immer wieder betont der 28-Jährige, wie dankbar er ist, dass sich fremde Menschen so sehr für seine Musik interessieren, dass sie ihn und seine Kollegen über ihre Kunst ausfragen wollen. Wir versuchen trotzdem heute mal nicht nur Fragen zu stellen, die die Band nach und vor der Albumveröffentlichung bereits unzählige Male beantworten musste, um die Hintergründe von “Again” noch klarer darstellen zu können.

Wie surreal muss sich eine solch erfolgreiche Tour also anfühlen, wenn man vor zwei Jahren noch Shows gespielt hat, für die sich damals kaum jemand interessierte? Wenn Amr von den Konzerten berichtet, funkeln seine Augen. Er sagt, er habe mit dem Projekt gerade auf jeder Ebene das schöne Gefühl, er sei angekommen. Dass seine Band am Abend zuvor in der Grenzstadt Aachen vor 450 Menschen gespielt hat, viele bereits alle Texte mitsingen konnten, obwohl man als Gruppe noch nie Halt in der Gegend gemacht hatte, kann er kaum in Worte fassen. Gut, wirklich weit ist die Fahrt von Aachen in die Rheinmetropole Köln nicht, einige Fans können also auch aus dem Rheinland angereist sein. Trotzdem: Solche Shows zeigen auf, dass die Band heutzutage sehr viel mehr Menschen erreicht, als Chartplatzierungen und Youtube-Klicks vermuten lassen würden.

Bislang blieb den fünf Musikern kaum Zeit die unbeschreiblichen Erlebnisse der jüngeren Vergangenheit zu reflektieren. Neben knapp 140 Konzerten in den Jahren 2017 und 2018 hat man eben noch ein zweites Album geschrieben, aufgenommen und veröffentlicht, während die eigene Bekanntheit immer weiter stieg – ganz ohne Verschnaufpausen. Als offiziellen Tour- und Jahresabschluss spielte man nun vor einigen Tagen in seiner Heimat Kiel im MAX vor etwa 1300 Fans. Diese Größenordnungen werden für die Band bald als normal gelten. Spätestens auf der aktuellen Tour ist es jedoch auch mal Zeit sich selbst klarzumachen, was man eigentlich für krassen Scheiß erlebt, erzählt der Frontmann. Das Erlebte „durch die Ohren“ und „ans Herz zu lassen“ ist eben auch wichtig, vor allem wenn man im Hinterkopf behält, wie fleißig die Nordlichter an neuer Musik geschraubt hatten.

Gleich wenige Tage nach der ersten richtigen Tour im Frühjahr 2017 beginnen die fünf Mitglieder bereits an neuen Songs zu arbeiten – das obwohl man unterwegs in Interviews noch groß geprahlt hatte, man wolle erstmal nicht an neuen musikalischen Output denken. Die Band mietet sich im Zentrum ihrer Heimatstadt in einen alten Lagerraum ein – das „Schreiblabor“ – in dem sie im Geheimen mit neuen Stücken experimentiert. Wie kam es aber dazu, dass man nun doch bereits anderthalb Jahre später wider der eigenen Planung mit zehn neuen Stücken nachlegt?

Als Startpunkt reichen bereits wenige, sehr sachte Anstöße. Ein strikter Release-Plan, der möglichst schnell neue Musik vorsieht, spielt dabei überhaupt keine Rolle. Als erste Ideen von Person zu Person gereicht werden, bekommen die restlichen Mitglieder davon schnell Wind – vermutlich zum Teil auch, weil alle kreativ Tätigen noch immer im recht beschaulichen Kiel leben. So sitzt die Band, eben auch da alle so leidenschaftliche Musiker sind und deshalb umbedingt mitwirken wollen, schnell wieder zu fünft da. Amr spricht davon, dass die Songs nur so aus ihnen „heraussprudelten“. Dieses gelebte Musikliebhabertum merkt man dem Allround-Talent deutlich an. Immer wieder rutscht das Gespräch in Nerd-Talk ab, man schwärmt gemeinsam über die Prog-Rock-Götter Oceansize, spricht über vergangene Konzerterfahrungen. Wo es bei anderen Künstlern und Künstlerinnen Monate, gar Jahre dauert, bis man nach einem Albumzyklus wieder zusammensitzt und sich musisch austauscht, so geschieht dies bei den Leoniden bereits wenige Monate nach Albumveröffentlichung noch während der laufenden Tourneen. 

Erst denken die Musiker darüber nach, nur einen einzigen Song zu schreiben und diesen als Stand-Alone-Single zu veröffentlichen. Die Idee ist jedoch schnell wieder verworfen als „River“ mit seiner ikonischen „Lalala“-Melodie entsteht. Genau diese Melodie reicht ursprünglich auf eine im Van auf einem Midi-Keyboard zusammengeschraubte Ausarbeitung von Amr und Jonathan Lutz, dem Lichttechniker und langjährigen Wegbereiter der Band, zurück und ist zu dem Zeitpunkt als spaßige Skizze eines Autotune-Rap-Songs, der unter dem Synonym „Habibi Karibik“ veröffentlicht werden soll, gedacht. Dass genau diese Idee später einmal eines der Highlights eines jeden Leoniden-Konzertes evolvieren wird, ist den beiden zu dem Zeitpunkt wohl nicht im geringsten klar. Trotzdem: Spätestens mit der Geburt dieses Schlüsselsongs, ist der Band klar, dass man jetzt in die Vollen gehen muss. „Nur“ eine EP zu machen, stand dabei niemals im Raum – dafür sei die Indie-Szene noch nicht weit genug.

„Wenn Bands nach einem Album eine EP machen, hat das immer einen negativen Beigeschmack, weil entweder das Gefühl vermittelt wird, der Künstler will etwas neues ausprobieren und verändert sich, oder man wundert sich, warum nicht einfach ein Album gemacht wurde.“

„Sleep is the cousin of death!“

Die Band beschließt sich einen relativ engen Zeitplan zu setzen – eine Tour im Folgejahr wird gebucht und angekündigt, vor der„Again“ noch erscheinen soll. Obwohl es kaum einen Monat gibt, in dem die Leoniden keine Konzerte spielen, haut das enge Vorhaben schlussendlich doch hin und das Album ist rechtzeitig fertig. Wirklich viel Schlaf scheinen die fünf Musiker dabei nicht abbekommen zu haben. Hier hat wohl auch der sehr deutlich ausgeprägte Perfektionismus eines jeden Leoniden-Mitglieds seine Finger im Spiel. Fast jeder Song durchläuft unzählige Versionen, evolviert im Laufe der Zeit immer weiter. Um davon eine Vorstellung zu vermitteln, wie krass die Unterschiede zwischen den vielen verschiedenen Versionen ausfallen, spielt uns Amr eine frühe Skizze ebenjenes „Colorless“ vor.

Das Grundgerüst des Stücks, dessen Endprodukt sich zwischen zappeligen Bass-Lines und hymnischen Gesangsparts umhertreibt, sind grundsätzlich auch schon in Version dreißig gegeben – das ist die Version, die uns der Sänger vorspielt. Im Gegensatz dazu, verfügt das Stück hier im Refrain jedoch noch über eine komplett andere Gesangsmelodie, sowie einen Tempowechsel nach dem Chorus, der in eine kurze Kuhglocken-Bridge überleitet, die dann wiederum die nächste Strophe einläutet. Dieser Übergang von Refrain zu Strophe existiert in der Studioversion, die es letzten Endes auf „Again“ geschafft hat, nicht, auch wenn der aufmerksame Hörer Teile der Kuhglocken-Figur im B-Part der zweiten Strophe entdecken könnte.

Solche Beispiele geben Aufschluss darüber, mit wie vielen verschiedenen Ideen die Band im Zuge der Entstehung von „Again“ zu kämpfen hat und wie viel davon letzten Endes in drastisch komprimierter Fassung oder gar nicht auf dem Werk gelandet ist. Gerade deshalb gefällt der Band ihr zweites Album ganz selbstbewusst auch besser als ihr Debüt – eben „weil noch mehr sterben musste.“ Hat eins der fünf Leoniden-Mitglieder das Gefühl, einen Song gäbe es in einer ähnlichen Form und in besser bereits auf dem ersten Langspieler, verwirft man die Ausführungen komplett. Ab und an kehren die Fünf jedoch während der Arbeiten an neuem Output wieder zu diesen ungeliebten Band-Kinder zurück und durchforsten den „Dropbox-Friedhof“, wie die Kieler ihr Labyrinth aus alten Ideen nennen, nach wiederverwertbaren Ansätzen und Melodien. So entsteht „People“, der „komplett aus Baustellen besteht“, die die Band bei dem ersten Werk schon hatte. Kreative Inhalte landen also niemals einfach so im Papierkorb.

Frischer Wind weht durch die „Maschinerie Leoniden“

Obwohl „Again“ eben gar nicht so viel anders machen wollte als sein Vorgänger, verändert die Band einen sehr entscheidende Aspekt: Vertraute man bei „Leoniden“ noch gänzlich auf den eigenen Scharfsinn und gründete mit Two Peace Signs Records sein eigenes Musiklabel, landet man nun mit dem Signing bei Irsinn Tonträger über Ecken indirekt beim Major Universal Music. Dass man sich der im letzten Jahr noch misstrauisch beäugten Industrie damit nun etwas annähert, ist der Band bewusst. Entscheidend für diesen neuen Schritt waren jedoch zwei Bedingungen, die mit dem Riesen-Konzern nicht im geringsten etwas zu tun haben.

Während der Arbeiten an „Again“ bemerken die Musiker, dass sie den Zeitaufwand, den es bedarf ein Musikalbum mit Erfolg zu vertreiben, alleine nur schwer stemmen können. Entweder man beendet schleunigst die Schreibphase und widmet sich alsbald Promostrategien, nimmt Kontakt mit Presswerken auf und kümmert sich um die vielen anderen Dinge, mit denen die meisten Bands relativ wenig am Hut haben, oder man sucht sich eine zweite Partei, die all diese Aufgaben professionell in die eigene Hand nimmt. Man beschließt die Labelarbeit ähnlich wie das Booking, das seit einigen Jahren bereits Landstreicher Booking übernimmt, auszulagern.

Wichtig ist den Leoniden dabei, dass die Chemie zu den Menschen, mit denen man kooperiert, stimmt, und sehr klar ist, wer für einen zuständig ist und wer nicht. Mit Carlo Schenk, Frederik Boutahar und Johannes Scholz von Irsinn Records – die drei betreiben unter anderem auch das Management von Faber, AnnenMayKantereit und Von Wegen Lisbeth – finden sich hier die passenden Leute. Die Band lernt Schenk und Boutahar im Jahr 2016 bei den Cardinal Sessions in ebenjener Kölner Industriehalle, dem Gebäude 9, kennen, in der man auch jetzt, im Dezember 2018, spielen wird. Dass die beiden irgendwann auch mal gemeinsam Musik herausbringen wollen, steht zu dem Zeitpunkt noch in den Sternen. Trotzdem: Bereits damals ist mit der Knüpfung erster Kontakte die Grundlage für die gemeinsame Zusammenarbeit geschaffen.

Als es später dann schlussendlich ans Eingemachte geht, kämpft die Band bis aufs Letzte für ihre Rechte – ganz ohne Rücksicht auf Freundschaften und Verluste. Alles Kreative soll in der Band bleiben. So kommt es, dass die Leoniden formal zwar irgendwie über Universal Music veröffentlichen, letzten Endes aber kaum mit dem Veröffentlichungs-Monster in Kontakt treten müssen und in jeglichen Kreativfragen über komplette Verfügungsmacht verfügen. 

Verschnaufen

Der sich über anderthalb Monate erstreckende erste Teil der großen Konzertreisen zu „Again“ ist mittlerweile mit dem großen Finale in der Heimat und einem Gastspiel auf Caspers „Zurück Zuhause Festival“ zum Ende gekommen. Anfang des Jahres gönnt sich die Band, wie sie in mehreren Interviews bestätigte, erstmals seit einigen Jahren eine kurze Auszeit, bevor es im Februar wieder auf die maroden deutschen Autobahnen geht, um mit der immer wachsenden Fanbase noch größere Partys zu feiern. Vielleicht können sich die fünf Individuen hinter dem Projekt ja die kommenden Wochen etwas Zeit nehmen, um die vergangenen Monate Revue passieren zu lassen. Bei der Ereignisdichte ist das wohl dringend nötig.

Zum zweiten Teil des Interviews geht es hier. Weiter unten gibt es die die Transkription der ersten Gesprächshälfte.

Das Album “Again” kannst du dir hier kaufen.*

Tickets für die Tour gibt es hier.*

Und so hört sich das an:

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Leoniden live 2019:

05.02.2019 – Köln, Gloria (ausverkauft!)
06.02.2019 – Koblenz, Circus Maximus (ausverkauft!)
07.02.2019 – Saarbrücken, Garage (Hochverlegt)
08.02.2019 – Tübingen, Sudhaus
09.02.2019 – Offenbach, Hafen 2 (ausverkauft!)
11.02.2019 – Würzburg, Cairo (ausverkauft!)
12.02.2019 – Würzburg, Cairo (ausverkauft!)
13.02.2019 – Berlin, SO36 (Zusatzshow)
14.02.2019 – Berlin, SO36 (ausverkauft!)
15.02.2019 – Leipzig, Conne Island
16.02.2019 – Dresden, Beatpol
20.02.2019 – Regensburg, Alte Mälzerei (ausverkauft!)
21.02.2019 – Ulm, Cabaret Eden
22.02.2019 – Innsbruck (AT), PMK
26.02.2019 – Konstanz, Kulturladen
27.02.2019 – Baden (CH), Werk
28.02.2019 – Basel (CH), Sommercasino
01.03.2019 – Karlsruhe, Substage
02.03.2019 – Jena, Kassablanca (ausverkauft!)
05.03.2019 – Dortmund, FZW Halle (Hochverlegt!)
06.03.2019 – Oldenburg, Amadeus (Ausverkauft)
07.03.2019 – Bielefeld, Forum
08.03.2019 – Hamburg, Große Freiheit 36 (ausverkauft!)
27.03.2019 – Brno (CZ), Eleven Club
28.03.2019 – Prag (CZ), Cafe v Lese
14.12.2019 – Kiel, Halle400 (Jahresabschlusskonzert)

Foto von Constantin Timm.

Transkription:

minutenmusik: Momentan spielt ihr eure größte bisherige Tour durch Deutschland. Fast alle Konzerte sind ausverkauft. Wie fühlt sich das alles für euch an? Wenn ich mir Videos von den bisherigen Shows anschaue, sieht das sehr krass aus. Fast so als wärt ihr jetzt da angekommen, wo ihr hingehört.

Jakob: Wir geben uns immer krass Mühe, sehr reflektiert und rational zu sein. Diese Tour ist für uns das erste Mal, dass wir uns wirklich zwingen müssen, uns hinzusetzen und den Kopf rattern zu lassen, wie krass das eigentlich alles ist. Ich merke auch bei mir – ich bin glaube ich einer der sensibelsten der Band – wie wunderschön ich das finde. Das ist unbeschreiblich. Wir waren gestern in Aachen, da waren dann 450 Leute, die unsere Musik scheinbar so gut hören, dass die alle Songs mitsingen können, obwohl wir noch nie in der Stadt gespielt haben. Das durch die Ohren ans Herz zu lassen bedarf Arbeit für uns, ist aber richtig wichtig. Die Zeit das zu reflektieren nehmen wir uns gerade richtig gerne.

Den Punkt, den du eben gemacht hast, dem würde ich komplett zustimmen. Wir haben letztens eine Freundin getroffen, die schon öfters auf Leoniden-Konzerten war. Die konnten wir ganz ehrlich fragen, was sich bei den Shows verändert hat. Sie meinte, dass wir so wie schon immer spielen würden, sich die Leute aber verändert hätten. Das stimmt. Ich glaube, dass man uns einmal live gesehen haben muss, um uns richtig genießen zu können. Vielleicht muss man das einmal auf sich niederprasseln lassen, was da passiert – da passiert bei uns ja viel. Wenn man dann als Teil des Publikums begreift, dass man das genauso mitarrangieren kann, weil diese Trennung zwischen Band und Publikum ja auch nur ganz sachte gemacht wird, dann ist das das Beste. Also dieses „Angekommen“-Gefühl habe ich gerade mit Leoniden auf jeder Dimension – nicht nur mit der Band, sondern auch mit meinem Leben, meiner Musikkarriere. Da war ich noch nie so angekommen wie jetzt.

minutenmusik: Das ist voll schön.

Jakob: Ich bin dann aber natürlich trotzdem ein Mensch, der auch Tage hat, an denen er mit Zweifeln lebt. Das kommt natürlich auch öfters bei den Texten durch. Aber vom durchschnittlichen Befinden ging es mir noch nie so gut.

minutenmusik: Das freut mich. Im letzten Monat ist „Again“, euer zweites Album, erschienen. Lass uns mal ein bisschen über die Entstehung der Platte sprechen. Ich wollte dabei jetzt gar nicht so tief auf euer „Schreiblabor“ eingehen. Ich denke das ist schon oft genug thematisiert worden. Wir beide haben im letzten Jahr ja schonmal ein Interview geführt. Da war noch Lennart (Eicke -Gitarre) dabei. Der meinte da über euer damals noch in den Sternen stehendes zweites Album: „Wir kommen frühestens im Winter dazu, da drüber nachzudenken.“

Jakob: So ein Lügner. (lacht)

minutenmusik: Gut, wir haben jetzt anderthalb Jahre später und die Platte ist schon draußen. Ihr habt sogar bereits direkt nach der Tour, während der wir das Gespräch geführt hatten, angefangen am Nachfolgealbum zu schreiben. Wie sah dieser Moment aus, in dem ihr realisiert habt, dass Album Nummer zwei vielleicht doch nicht so lange dauert? Wie hat sich das angefühlt?

Jakob: Sehr gut. Wir haben nach der ersten Tour quasi direkt angefangen, Skizzen hin- und herzuwerfen. Weil die Musik, die wir schreiben, von fünf leidenschaftlichen Musikern kommt, saßen wir ganz schnell wieder zu fünft da. Da reicht es schon, wenn ich Lennart eine Idee zeigen möchte. Davon bekommt Djamin (Izadi – Keyboards, Kuhglocke, whatever) Wind, der dann auch dabei sein möchte und auf einmal sitzen alle da und schreiben Songs.

minutenmusik: Spielt ihr jeweils alle Instrumente?

Jakob: Jaein. Was ich wirklich erst jetzt gecheckt habe – ich habe ja vor Leoniden Gitarre gespielt und gesungen und da auch sehr technische Musik gemacht – dass man Instrumente gar nicht richtig spielen können muss, um was für diese Instrumente zu schreiben. Das habe ich immer nicht geglaubt. Ich dachte immer, man müsse zuerst ein Virtuose an einem Instrument sein und dann archivartig alles abrufen, was mit dem Instrument geht, um gute Songs zu schreiben. Djamin kann aber auch einfach ein Gitarrenriff singen oder vorsummen. So entstand beispielsweise das Gitarrenriff von „Not Enough“. (Summt die Melodie) Das ist ziemlich geil.

Dieses unausweichliche wieder zu fünft dasitzen und schreiben, kam dann echt schnell. Am Anfang hatten wir noch überlegt, ob wir vielleicht nur eine Single machen. Dann kam „River“ als Song dazu – geboren aus einer Idee, die ich mit Joni (Jonathan Lutz – Lichttechniker) auf dem Rücksitz im Tourbus auf einem kleinen Midi-Keyboard gespielt habe. Wir wollten aus Spaß einen Autotune-Rapper-Song machen. „Habibi Karibik“ sollte ich heißen. Das ist leider nichts geworden. Die große Karriere ist leider ausgeblieben.

Da kam aber diese „Lalala“-Melodie von „River“ her. (Summt wieder die Melodie) Als der Song dann da war, war uns klar, dass wir an einem neuen Album arbeiten.

minutenmusik: Und ihr habt dann direkt beschlossen, dass das ein Langspieler wird? Häufig steht dann ja auch schnell eine EP im Raum.

Jakob: Ja, das sollte dann ein Album werden. Leider sind die Musik, die wir machen, und die Szene, in der wir stattfinden – die Indie-Szene – , noch nicht so weit wie der Hip-Hop, wo es auch reicht einfach eine Single oder eine EP zu machen. Wenn Bands nach einem Album eine EP machen, hat das immer einen leicht negativen Beigeschmack, weil das entweder das Gefühl vermittelt, der Künstler will etwas neues ausprobieren und verändert sich, oder man wundert sich, warum man nicht einfach ein Album gemacht hat.

minutenmusik: Oft ist ja auch das Geld das Thema. Dann hat man nur fünf Tage im Studio und schafft es eben nicht mehr als fünf Songs aufzunehmen.

Jakob: Genau. Das suggeriert jedoch immer ein bisschen, ein Album nicht toppen zu können. Deshalb war uns das schon wichtig, da in die Vollen zu gehen. Eine EP zu machen, war glaube ich außer Frage.

minutenmusik: Es gibt eine britische Band, die heißt Arcane Roots. Kennst du die?

Jakob: Ja, natürlich!

minutenmusik: Die gibt es mittlerweile leider nicht mehr.

Jakob: (Guckt ungläubig) Ich hab die im Juni noch in Prag live gesehen! Was hatte ich denn für ein Glück?!

minutenmusik: Mega schade auf jeden Fall. Worauf ich aber hinauswollte: Deren EPs sind allesamt mit vielen Interludes so als kleine Mini-Alben konzipiert. Das funktioniert auch ziemlich gut in der kurzen Spielzeit, wie ich finde. Da merkt man dann natürlich sehr krass, dass da Geld einfach eine große Rolle spielt. Wenn sich Acts dann aber so Gedanken machen, aus diesen begrenzten Möglichkeiten noch was rundes herauszuholen, finde ich das schon beeindruckend.

Jakob: Total! Ein Limit, egal in welcher Form, ist künstlerisch ja auch total pushend. Sei das, dass man sagt, dass das, was man in vier Songs macht, in einen umgesetzt werden soll oder man versucht einen Song nur auf dem Bass zu schreiben. Da entstehen dann Sachen, die sonst nicht entstehen würden.

Arcane Roots sind aber auch eine Band, die aufgrund des Genres, in dem sie stattfinden, ein bisschen akzeptierter künstlerisch und freier sein können. Die können eben sagen, dass sie kein Album rausbringen, sondern vier EPs, die dann für die vier Jahreszeiten stehen. Wenn wir das machen würden, würden die Leute fragen, warum wir nicht einfach ein Album machen. Da ist dann natürlich auch was dran. Ich würde trotzdem nicht sagen, dass das, was wir machen, unkunstvoll ist.

minutenmusik: Die haben sich dann wohl wegen Geld aufgelöst, weil da eben immer ganz viel Arbeit reingesteckt wurde und der große Durchbruch trotzdem ausblieb.

Jakob: Das ist so schade. Kennst du die Band Oceansize noch?

minutenmusik: Na klar!

Jakob: Was für eine unfassbar gute Band! Was für unfassbar gute Alben! Ich habe die auch zum letzten Album „Self-Preserved While the Bodies Float Up“ im Logo in Hamburg live gesehen und wenig später die traurige Nachricht bekommen, dass die sich eben auflösen. Damals habe ich nur so Musik gehört. Da fand ich Pop-Musik noch gar nicht gut. Ich hab damals echt geheult, weil ich mir dachte es könne nicht sein, dass etwas so Gutes nicht funktioniert.

minutenmusik: Bei denen haben da glaube ich auch persönliche Gründe mit reingespielt. Die waren mit sich selber gegenseitig nicht im Reinen.

Jakob: Ok, ich dachte das wären echt nur Geldstruggles gewesen. Dann ist das ok. (lacht)

minutenmusik: Ich hab vor einigen Wochen noch den ehemaligen Frontmann Vennart in Köln gesehen. Der hat ja mittlerweile auch zwei Soloplatten veröffentlicht. In seiner Band spielen dann 3/5 von Oceansize.

Jakob: Ach, die sind wieder dabei? Ach, geil!

minutenmusik: Yes, die spielen auch drei Oceansize-Songs live. Das war ziemlich geil.

Jakob: Wow!

minutenmusik: So, weiter im Fragenkatalog! In dem gleichen Interview mit euch im letzten Jahr hat Lennart außerdem gesagt: „Ich habe auch einfach gar keine Lust gerade auf’s Schreiben. Das haben wir jetzt so lange gemacht, ich will auch gar nicht, dass wir uns in diesen Release-Wahnsinn einreihen, den Bands heutzutage haben – da jedes Jahr ein Album raushauen zu müssen. Entweder man ist genial, schläft nie oder es ist einfach nicht perfekt gut!“

Jakob: Ja, „sleep is the cousin of death“!

minutenmusik: Meine Frage jetzt: Genial? Schlaft ihr nie? Ist „Again“ einfach nicht perfekt gut?

Jakob: (lacht) „Again“ ist super! „Again“ ist unserer Meinung nach besser als das „Leoniden“-Album. Kein Schlaf? Ja. Und genial? Ja, hoffentlich.

Wir haben aber tatsächlich nicht angefangen das Album aufgrund eines Release-Drucks zu schreiben. Also nicht, weil wir schnell nachliefern wollten. Nein, das sprudelte aus uns heraus. Durch die gewisse Arroganz und Egozentrik von jedem von uns – dem Drang zum Perfektionismus – waren alle ganz schnell wieder am Start. Jedes Mal, wenn wir dachten, dass es einen Song in besser auf dem ersten Album gibt, ist der in der Tonne gelandet. Moment, du bist doch jemand, der am Start ist. Dir kann ich was zeigen! Tippst du das ab?

minutenmusik: Ja!

Jakob: Einfach nur mal zu zeigen, was Songs von euch so durchmachen. (Spielt Version Nummer dreißig von „Coulourless“ vor) Also… (versucht die richtigen Worte zu finden)… es ist einfach besser als „Leoniden“, weil noch mehr sterben musste.

minutenmusik: Ich würde die These aufstellen, das läge ein bisschen daran, dass ihr alle Musiknerds seid und eben auch so Sachen wie Oceansize, die sehr verkopfte Musik machen, feiert, das dann alles aber in eine drei-Minuten-Form presst. Was Bands, wie Oceansize, in acht Minuten machen, passiert bei euch in drei in bisschen poppiger.

Jakob: Total!

minutenmusik: Ich würde sogar auch so weit gehen zu sagen, dass daher auch ein Teil eures Perfektionismus’ kommt: Ihr versucht eben die Genialität eines acht-Minuten-Epos in viel kürzere Zeit quetscht.

Jakob: Noch mehr dieses Perfektionismus und vielleicht dieser „Genialität“ resultiert daraus, dass ich, wenn ich Djamin, der Oceansize noch nicht gehört hat, erklären muss, was an diesem acht Minuten Oceansize-Lied geil ist und was wir davon benutzen können, viel mehr weiß, was ich will. Durch diesen Diskurs, weil wir alle für uns schon so paradoxe Kreaturen sind – ich finde eben At The Drive-In und Michael Jackson gut und habe bei Zinnschauer gefrickelt und gejammert und bei Trouble Orchestra auf deutsch gerappt – kommt auch viel positives, auch wenn das manchmal viel Arbeit ist. Wenn das Produkt aus dem Ganzen dann nicht gut wäre, dann wäre alles für den Arsch. Das ist aber unsere harte Methode, Songs zu schreiben.

minutenmusik: Lass uns mal bei dem Perfektionismus bleiben! Ihr seid für ausufernde Live-Performances bekannt. Wie lässt sich das mit dem Perfektionismus, den ihr doch an den Tag legt, unter einen Hut bringen? In der Live-Situation hat man ja dann doch weniger Kontrolle.

Jakob: Bei der Live-Show lagern wir einen gewissen Perfektionismus in Form von Sterilität total aus. Wenn Lennart sich auf der Bühne so bewegt, wie er das möchte, dann klingt die Gitarre eben teilweise anders. (macht komische Laute) Genauso macht das eben ein Geräusch, wenn ich mir mein Mikrofon an den Kopf haue. Diese Nebengeräusche sind kompositorisch ja gar nicht vorgesehen. Ich hab mir da letztens eine kleine Analogie ausgedacht, mit der man das gut beschreiben kann, weil es so paradox klingt, dass man von sich selbst behauptet man sei eine perfektionistische Band, dann auf der Bühne aber mehr tanzt, als perfekt zu spielen.

Wir sind nämlich gleichzeitig der Kampfhundzüchter selber und der Kampfhund. Vor dem Konzert planen wir auf der einen Seite alles perfekt, gucken ob ein Loch im Zaun ist, ob genug Futter da ist, ob alles sauber ist, ob der Hund gut gebürstet ist und es dem Hund gut geht. Wenn es dann auf die Bühne geht, sind wir nur noch der Hund, der rumläuft und im besten Fall alles richtig macht. Es kann aber halt auch sein, dass der über den Zaun springt und irgendwas schief geht. Gestern hat im Publikum beispielsweise jemand mitten im Song Oasis angestimmt – dann war ein Song einfach von „Wonderwall“ unterbrochen. Das haben wir dann genossen, mitgemacht und dann einfach weitergespielt. Konzerte müssen sowas liefern.

Wenn Konzerte nur noch eine lautere, schlechter abgemischte Version der Albumerfahrung sind, dann sind Konzerte wertlos. Bei Konzerte muss das Spontane, das Impulsive und die Verbindung von den Leuten vor und auf der Bühne da sein. Das ist eben nicht perfekt, was aber auch das Gute daran ist.

minutenmusik: Also könnt ihr euren Perfektionismus da ein bisschen ablegen?

Jakob: Das ist für uns perfekt, was noch paradoxer ist! Das Unperfekte ist quasi unser perfekt.

minutenmusik: Es gibt ja auch das schöne im Unperfekten. Das stimmt schon. Wo wir noch bei dem Perfektionismus sind: Du hast jetzt ja eben schon gesagt, dass ihr „Leoniden“ nicht so gut wie „Again“ findet. Würdest du rückblickend irgendwas an eurem ersten Album ändern wollen? Sei das an den Aufnahmen, am Songwriting oder der Art der Veröffentlichung.

Jakob: Die Veröffentlichungsart auf keinen Fall. Das war alles super. Ich erinnere mich natürlich noch an die Mühe, die wir in das Album gesteckt haben und erinnere mich noch an den Songwritingprozess, in dem wir uns musikalisch auch erstmal beschnuppert haben. Wir sind bei „Again“ ja total als Einheit da rangegangen, weil wir uns da schon gut kannten. Deshalb würde ich auf jeden Fall nichts anders machen. Ein Album hat auch immer einen Stempel der Zeit und der Bandgeschichte. Deswegen würde ich das in Ruhe lassen.

Wenn wir Sachen jetzt aber nicht anders machen würden, dann wäre das erste Album entweder das perfekteste der Welt, was es nicht ist, oder wir hätten nichts dazugelernt. Gerade deswegen ist es auch schön. Das Gefühl, das wir uns für uns getoppt haben, und es trotzdem noch lieben „1990“ und „Nevermind“ zu spielen, ist super. Dass wir „Eleven Hands“ eben nicht mehr spielen, weil wir für uns neue frickelige Songs geschrieben haben oder sagen, dass wir „Iron Tusk“ als frickeligen Song lieber spielen, ist dann halt so.

minutenmusik: Ach, den spielt ihr nicht mehr?

Jakob: Ja, „North“ spielen wir auch nicht mehr, „City“ auch nicht, „Constant“ ebenfalls.

minutenmusik: Spoiler!

Jakob: Spoiler-Alert.

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