Plattenkrach: Haftbefehl – Russisch Roulette

haftbefehl russisch roulette

Nachdem der Offenbacher Rapper Haftbefehl 2013 mit „Blockplatin“ die erste größere mediale Aufmerksamkeit mit Hits wie „Chabos wissen wer der Babo ist“ auf sich ziehen konnte, veröffentlichte er ein Jahr später gleich den nächsten Longplayer namens „Russisch Roulette“. Dieser konnte sich ebenso auf Platz 4 der Charts einreihen und sich dort für einen längeren Zeitpunkt als das Vorgängeralbum festsetzen. Doch nicht nur in den Charts war „Russisch Roulette“ ein Erfolg, auch im Feuilleton großer Zeitungen und Onlinemedien erhielt das Werk Beachtung und Lob. In den letzten Jahren folgten ein Mixtape und ein Collabo-Album – auf den echten Nachfolger von „Russisch Roulette“ warten Fans im Jahre 2019 noch. Um die Wartezeit etwas zu verkürzen, beschäftigen sich Melvin und Christopher im heutigen Plattenkrach mit „Russisch Roulette“ – für den einen ein meisterliches Rapalbum, für den anderen irgendwie so gar nichts Besonderes. Los gehts!

Melvin sagt dazu:

Hach, denkt man nicht gerne zurück an die Zeit, als Deutschrap noch so richtig gut war? Natürlich definiert das jeder zeitlich anders für sich. Die Fantastischen Vier und Blumentopf gehören für mich persönlich jedoch ebenso wenig dazu, wie Capital Bra, Mero, Nimo und alle anderen, die gerade durch die Decke gehypt werden. Aber so ist das halt, die Geschmäcker sind von Jahr zu Jahr verschieden und die Zeit, in der ich fast ausschließlich Deutschrap gehört habe, scheint auch erst einmal vorbei zu sein – natürlich darf nicht unerwähnt bleiben, dass auch aktuell gute Rapmusik produziert wird, diese aber eher seltener die Charts und Playlisten dominiert.

„Russisch Roulette“ von Haftbefehl fiel vom Releasedatum aber genau in eine Phase, in der ich unfassbar viel Zeit mit deutscher Rapmusik verbrachte. Mit Kollegah, SSIO, der Antilopen Gang und natürlich Haftbefehl, um den es hier gehen soll, fallen mir gleich vier Künstler ein, die innerhalb von 2 Jahren Alben veröffentlicht haben, die für mich zu absoluten Highlights gehören. „Russisch Roulette“ von Haftbefehl sticht dabei jedoch am meisten heraus. Das Album öffnete mir zum ersten Mal den Zugang zu Haftbefehls Musik und generell Allem, was im Hause Azzlack produziert wird. Denn zuvor konnte ich mit den harten Beats und den dreckigen Lyrics nichts anfangen und gehörte zu denjenigen, die sich darüber lustig machten. „Man versteht ja kein Wort“, „Das sind ja nur Beleidigungen“ – bis ich dann merkte, dass man ganz schön viel verstehen und aufsaugen kann, wenn man erst einmal richtig hinhört.

Haftbefehl ist meiner Meinung nach einer der besten Storyteller, die es im Deutschrap gibt. Besonders auf „Russisch Roulette“ kommt dies in unzähligen Songs zur Geltung, in denen Hafti düstere Bilder malt und von grausamen Zeiten erzählt, der Großstadt-Tristesse in Offenbach und Frankfurt am Main. Besonders die „1999“ Trilogie, „Engel im Herz, Teufel im Kopf“ sowie „Schmeiß den Gasherd an“ sind hier zu nennen. Neben diesen düsteren Songs gibt es mindestens genauso viele Songs, die eine ganze Zeit lang auf keiner Party fehlen durften, zum Beispiel „Lass die Affen aus‘m Zoo“, „Ich rolle mit meim Besten“ und „Anna Kournikova“. Alles Songs, die von wütenden Texten und nach vorne stampfenden Beats geprägt sind und sehr, sehr schnell ins Ohr gehen.

Sowieso sind die Beats von Bazzazian und Haftbefehls Rap-Style nicht nur in Fachmagazinen, sondern auch im Feuilleton großer deutscher Zeitungen lobend erwähnt und oft mit französischer Rapmusik verglichen worden. Mit „Russisch Roulette“ hat Haftbefehl diesen Stil nicht nur nach Deutschland gebracht, sondern sich selbst auch ein Denkmal gebaut, dass meiner Meinung nach so schnell kein anderer Rapper einreißen wird. Entscheidend für die Bewertung eines Albums ist im Endeffekt auch, wie viele Songs man auf einem Longplayer nur „ganz okay“ findet und gerade im Spotify Zeitalter mal schnell wegskippt. Bei „Russisch Roulette“ ist es kein einziger und das sagt eigentlich schon alles über dieses Album aus.

Und das denkt Christopher:

Hafti im Plattenkrach! Finally! Wer hat drauf gewartet? Keiner? Verrückt. Ich droppe mein Fazit gleich mal am Anfang: Ich finde das Album ok. Nicht gut, nicht schlecht. Ich bin einfach nicht der größte Motherfucker on Earth und komme mit Songs, die „Ihr Hurensöhne“ heißen, nicht so klar, möchte es aber probieren, sie gut zu finden. Da ich nämlich ein großer Fan von meinem Kollegen Melvin bin, habe ich die Platte sogar drei Mal ganz gehört – und fand es eben ok und irgendwie auch komplett irrelevant.

Der mittlerweile 33-jährige Offenbacher Aykut Anhan, besser bekannt als Haftbefehl, hat auf seinem vierten Album „Russisch Roulette“ anscheinend echt abgeliefert. Gleich mehrere einschlägige Magazine geben der Platte die volle Punktzahl in ihrer Wertung. Zusätzlich lesen sich die Features auf der Deluxe Edition des Albums (Samy Deluxe, K.I.Z., Sido, Bausa, Marteria, Eko Fresh, XATAR) als ein beeindruckendes Who-is-Who der Szene. Trotzdem blieb ich aus Gründen bei der 14-Tracks umfassenden Standard Version. Ich scheine also dieser Musik gegenüber nicht offen genug zu sein oder sie einfach nicht zu verstehen.

Was mir wirklich positiv zusagt, sind die stark produzierten derben Trap-Beats. Die brettern extrem, hauen einem Bässe und fancy Soundeffekte um die Ohren. Ich erwische mich mehrmals dabei, wie ich beim Autofahren auf meinem Sitz auf- und abschwinge und Bock bekomme im Hoodie mit dem Arsch zu wackeln. Irgendwie empfinde ich den stets aggressiv wirkenden Rap von Hafti auch als authentisch. Das hat zumindest genug Wiedererkennungswert, dass man somit den Gangsta-Style weniger aufgesetzt findet als bei mittlerweile völlig peinlichen Konkurrenten a la Bushido. Aufgrund der interessanten Aussprache, die sich als so flexibel herausstellt, dass der Reim immer irgendwo passt, verstehe ich hingegen gehäuft wenig von den Lyrics, die immerhin in meiner Muttersprache vorgetragen werden. Mein Wortschatz reicht wohl nicht aus, um die deepen Texte zu checken. Oder es liegt an meinem spießigen Kleinbürgertum.

Highlights sind für mich das prollige „Saudi Arabi Money Rich“ mit der wundervollen Zeile „Wasch die Hände mit Evian und pisse Dom Perignon“, die ich gerne mal in einen Instagram-Post verwenden möchte, und die Mitsing- und Mitnickhook in „Lass‘ die Affen aus’m Zoo“. Beides Songs, die ich niemals freiwillig anmachen würde, aber mich auf einer Party mit dem passenden Pegel durchaus zum Mittanzen auffordern könnten. Das könnte aber auch Helene Fischer in dem Moment. Und trotzdem finde ich hochemotionale Werke wie „Schmeiß‘ den Gasherd an“ und das überzeichnete „Anna Kournikova“ schlichtweg asi. Soll es ja auch sein – oder? Eine Frage, die mir parallel beim Hören in den Kopf kommt. Ob Haftbefehl gerne asi ist bzw. sich selbst so bezeichnen würde? Egal. Ich bin eben nicht die Zielgruppe. Lasse ich jedoch mal meinen subjektiven Geschmack etwas außen vor, fehlt es in meinen Augen vielen Songs einfach an Kreativität, Einzigartigkeit oder musikalischem Mehrwert. Mein Gefühl sagt mir, dass ich jeden Track in abgewandelter Form bereits x-Mal in meinem Leben gehört habe. Der Ironieanteil zündet ebenso kaum. Vieles kann ich stattdessen äußerst wenig bis gar nicht ernst nehmen, muss aber auch nicht schmunzeln und lasse es dann einfach so auf mich einprasseln.

Wenn man sich die deutschen Singlecharts seit gut zwei Jahren anschaut, scheint der Bedarf an solcher Musik aber gedeckt zu sein. Egal ob GZUZ, Capital Bra, Bonez MC & Raf Camora, Olexesh, … für mich klingt das alles gleich und dazu oft peinlich und protzig. Eher nach Jugendsünden, die man in 10 Jahren bereut und sich an die coolen Kids am Autoscooter richten, wozu ich nie gehörte. Ähnlichen Nullwert mag man aber auch meinen Favoriten aus den 90ern zuordnen. Aber von mir aus. „Russisch Roulette“ von Haftbefehl mag ein sehr gutes Deutsch-Rap-Album sein. Ich glaube das gern. Aber ich fühle es nicht. Ich mach jetzt Sarah Connor an, um erstmal wieder etwas klarzukommen.

Tracklist

  1. Ihr Hurensöhne
  2. 1999 Pt. I
  3. Lass die Affen aus’m Zoo
  4. Saudi Arabi Money Rich
  5. Ich rolle mit meim Besten
  6. Engel im Herz, Teufel im Kopf
  7. Russisch Roulette
  8. 1999 Pt. II
  9. Schmeiß den Gasherd an
  10. Azzlackz sterben jung 2
  11. Anna Kournikova feat. Miss Platnum
  12. Haram Para feat. Kaaris
  13. Seele
  14. 1999 Pt. III

Das Album „Russisch Roulette“ kannst du dir hier kaufen.*

Unsere Review zu der aktuellen Haftbefehl-Platte „Das Weisse Album“ gibt es hier.

Mehr Plattenkrach: Hate it or love it – was für den einen ein lebensveränderndes Monumentalwerk ist, ist für die andere nur einen Stirnrunzler wert! Ein Album, zwei Autor*innen, ein Artikel, zwei Meinungen! Mehr Auseinandersetzungen findest du hier.

Und so hört sich das an:

Website / Facebook / Twitter / Instagram

Die Rechte für das Beitragsbild liegen bei Urban (Universal Music).

* Affiliate-Link: Du unterstützt minutenmusik über deinen Einkauf. Der Artikel wird für dich dadurch nicht teurer.