Plattenkrach: Lady Gaga – Born This Way

In den 00er Jahren gab es wohl kaum eine Künstler*in der Popmusik, die so polarisiert hat wie Lady Gaga. Ausgefallene Kostüme, denkwürdige Auftritte und absolut schrille Marketing-Ideen wie Fleischkleider oder designte Rollstühle blieben im popkulturellen Gedächtnis hängen. In ihrer neuesten Inkarnation zum aktuellen Album „Joanne“ zeigt sich die Musikerin so nahbar und ungekünstelt wie eh und je und konnte mit Rollen in „American Horror Story“ und „A Star Is Born“, der Halbzeitshow beim Superbowl, dem Swing-Album mit Tony Bennet und nicht zuletzt ihrem eigenen Kunstkollektiv „Haus Of Gaga“ riesige Erfolge einfahren. Bei einer Zeitreise in das Jahr 2011 darf sich Julia noch einmal neu in ihre liebste Popkünstlerin der gesamten Musikgeschichte verlieben, während Melvin den Hype noch nie verstehen konnte.

Julia  kommt aus dem Schwärmen gar nicht mehr raus:

Mit dem pompös-gigantischen „Born This Way“ läutete Lady Gaga das neue Jahrzehnt ein, mit „Shallow“ und dem klassisch schlichten „Joanne“ beendet sie es. Dazwischen liegen Jahre des gelebten Hedonismus, Jahre, in denen Lady Gaga für die Allgemeinheit nur noch als durchgeknallte Karriaktur ihrer Selbst in Erinnerung geblieben war. Als „Born This Way“ 2011 erschien, war ich Lady Gaga bereits verfallen und das war damals wohl noch viel uncooler als heute. Wo ich ansonsten Metal und Rock für mich entdeckte, wollte die extravagante, modebewusste und poppige Musikerin so gar nicht in mein CD-Regal passen, wie mir auch Verwandte und Freund*innen bei jeder Gelegenheit zu spüren gaben. Bis heute ernte ich belächelnde Kommentare, bis Leute plötzlich bemerken: Moment, da steckt ja tatsächlich eine ernst zunehmende Künstlerin unter Fleischkleid und Riesenmaskerade.

„Born This Way“ also, eine Zelebration der LGBTQ-Gemeinde, wie sie im Buche steht. Doch anstatt alles mit glitzernd bunten Regenbögen anzupinseln zeigte sich Lady Gaga zu diesem Zeitpunkt ihrer Karriere noch als düstere Königin der Nacht und bot allen Queeren eine ganz neue Identifikationsfigur im klebrig-bunten Welt der sonstigen Ikonen. Lady Gaga hatte alle Grenzen, die es jemals gab, überschritten – und bietet musikalisch so ziemlich alles, was das Pop-Herz begehren könnte.

17 Songs stark ist das ursprüngliche Album gewesen, das ist auch für eine Popwelt vor dem großen Streaming-Boom viel zu lang. Dennoch ist es keine Sekunde zu lang, denn die schier unendliche Bandbreite dieser extrem wandelbaren Künstlerin deuten die bunten Arrangements dennoch nur an. Ob die hedonistische 80’s-Hymne „Marry The Night“, der wild pochende und feministische Disco-Stampfer „Scheiße“, die düstere Artpop-Laufsteg-Hymne „Black Jesus + Amen Fashion“, das schillernd bunte „Highway Unicorn (Road To Love)“ – über allem thront eine Stimme, der man die professionelle Gesangsausbildung in jeder Sekunde anmerkt. Die Songs schlagen Haken, wie man es von Pop-Songs viel zu selten gewohnt ist, die Referenzen verweisen einmal quer durch alle Jahrzehnte der Popmusik. So deutet Gaga in „Government Hooker“ noch stilecht eine Oper an, um dann vor House-Beats mit einem Call-and-Response-Reigen anrüchigen Sex mit einer düsteren Version von ABBA zusammenzubringen. Überhaupt anrüchig: Gaga wäre nicht Gaga würde das Werk nicht immer wieder die ungeschriebenen Gesetze der Popwelt brechen: Und so ist „Judas“ natürlich nicht nur ein nahezu perfekter Pop-Song, sondern auch eine Fortführung von Madonnas „Like A Prayer“ und ihrer sexuell aufgeladenen Darstellung der katholischen Kirche.

Die große Geste und bleibenden Momente schafft Gaga jedoch selbst: Das schillernde „Born This Way“ ist bis heute eine der beliebtesten Pride-Hymnen der Welt und das klassische „You And I“ eine Andeutung von dem, was mit „Shallow“ Jahre später noch passieren sollte. Zwei Hymnen, die die beiden Pole dieser einzigartigen Künstlerfigur aufzeigen, um doch so wenig über Lady Gaga aussagen zu können, wie die nächsten Jahre gezeigt haben. In einer Popwelt, die so belanglos und vorhersehbar geworden ist und in der die meisten Musiker*innen noch keinen einzigen ihrer Songs selbst geschrieben haben, war und ist Lady Gaga die absolute Ausnahmeerscheinung des 21. Jahrhunderts. Egal, wie peinlich das manche finden wollen.

Und das sagt Melvin:

Ich sage es gleich: Ich bin kein Fan von Lady Gaga. Wirklich so gar nicht. Ich habe nichts gegen Popmusik und höre sogar einige Pop-Alben sehr sehr gerne, aber Lady Gaga ist für mich die absolute Endstufe. Der Inbegriff von Musik, die so lange im Radio gespielt wurde, bis es wirklich niemand mehr hören konnte. Tausend Mal berührt, tausend Mal ist nichts passiert – zumindest bei mir nicht, denn auch das hier vorliegende Album „Born This Way“ gibt mir absolut gar nichts. Der Sound nervt mich massiv, die Stimme von Lady Gaga fand ich schon immer gewöhnungsbedürftig.

Aber fangen wir einfach mal von vorne an: Das Album „Born This Way“ erschien 2011 und musste sich gegenüber den vermutlich riesigen Erwartungen aller Fans behaupten, da es sich erst um Gagas zweites Album handelte, nachdem sie 2009 mit „The Fame“ den großen Durchbruch schaffte. Diesen Erwartungen konnte das neue Werk gerecht werden, erreichte es doch in zahlreichen Ländern Platin oder sogar – in den USA – Doppelplatin. Das Album beginnt mit „Marry The Night“ und startet zunächst mit Keyboard-Klängen und Lady Gagas Gesang bis hin zum Refrain, in dem das Lied zu einer Disconummer mit knalligen elektronischen Sounds wird. Der eine Song reicht schon aus, um zwei klare Kritikpunkte aufzuzeigen: 1. Lady Gagas Gesang und 2. die knalligen elektronischen Sounds.

Kommen wir direkt zu Punkt Nummer 1, da ich hier bereits den Aufschrei unserer Leser erahne: Ja, Lady Gaga kann herausragend gut singen, das müsste eigentlich jeder normale Mensch mit Ohren unterschreiben können. Das bringt mir aber reichlich wenig, wenn mir der Klang ihrer Stimme überhaupt nicht zusagt. Es gibt so viele verschiedene Klangfarben und jede wird anders wahrgenommen. Wer sich für uns sympathisch und nett oder nervig und anstrengend anhört, das entscheidet jeder Mensch individuell. Da kann die Technik noch so toll sein, mir gefällt der Gesang von Lady Gaga einfach überhaupt nicht. Noch zudem erinnert er mich stark an Madonna – einfach nur fürchterlich. Kommen wir zu den elektronischen Sounds. Da bin ich der letzte, der sich darüber beschwert. Elektronische Musik und elektronische Spielereien finde ich toll, egal in welchem Genre. Aber die elektronischen Elemente, die im Titelsong „Marry The Night“ zu entdecken sind, sind mir viel zu trashig. Wenn ich Elektrotrash hören möchte, dann kann ich auch direkt wieder Die Atzen oder The Disco Boys hören. Leider musste ich mit Erschrecken feststellen, dass sich diese schrecklichen Elemente nicht nur im Opener und dem fürchterlichen Titelsong wiederfinden, sondern permanent auf dem Album auftauchen. Lady Gaga arbeitet zwar mit unterschiedlichen Stilen, aber kein einziger Song kommt ohne diese grauenvoll trashigen Refrains aus. Nachdem ich mich da zu Beginn zumindest noch drüber ärgern konnte, verliert mich das Album spätestens nach „Bloody Mary“ komplett und ich finde es nur noch langweilig. Positivster Lichtblick der gesamten CD ist noch „Judas“, aber auch das würde ich nicht unbedingt noch ein zweites Mal anhören wollen.

Die Kunstfigur Lady Gaga hat mit ihren schrillen Auftritten und Outfits so einigen Wirbel in die Popindustrie gebracht und ist zudem eine wichtige Ikone der LGBTQ Bewegung. Das ist toll und dafür gebührt ihr Respekt. Auch ihren Erfolg gönne ich ihr gerne, solange ich die Freiheit habe den Radiosender zu wechseln, wenn mal wieder „Paparazzi“ oder „Born This Way“ läuft. Lady Gaga und ich – das wird nichts mehr in diesem Leben.

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Mehr Plattenkrach: Hate it or love it – was für den einen ein lebensveränderndes Monumentalwerk ist, ist für die andere nur einen Stirnrunzler wert! Ein Album, zwei Autor*innen, ein Artikel, zwei Meinungen! Mehr Auseinandersetzungen findest du hier.

Und so hört sich das an:

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Rechte am Albumcover liegen bei Interscope.

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