Die 90er Live, Freigelände Rudolf Weber-ARENA Oberhausen, 08.06.2024

90er live 2024 vengaboys finale

1999, kurz vor dem Jahrtausendwechsel, veröffentlicht Gigi D’Agostino seine Single „Bla Bla Bla“. Es ist nicht seine erste, aber die erste, die international durchstartet, hat er zuvor nur Hits in Italien. 2001 folgt sein Song „L’amour Toujours“, der seit einigen Wochen aufgrund extrem hässlicher Ereignisse einerseits wieder sehr erfolgreich in den Charts ist, gleichzeitig aber überlegt wird, ihn auf Großveranstaltungen nicht mehr zu spielen. Am Samstag, dem 8.6., läuft er laut über die Boxen auf dem Freigelände der Rudolf Weber-Arena in Oberhausen. Viva-Legende Mola Adebisi, der nigerianischer Abstammung ist, sagt, dass man sich den Song nicht von ein paar Vollidiot*innen kaputt machen lasse. Es wird gejubelt, die rassistischen Fangesänge bleiben glücklicherweise aus, stattdessen wird nur getanzt und anschließend laut zu „Schrei nach Liebe“ von Die Ärzte „Arschloch“ mitgeschrien. Willkommen bei der nächsten Ausgabe von Die 90er Live.

20.000 Besucher*innen finden sich bei hervorragendem Wetter und Temperaturen leicht über der 20-Grad-Marke zusammen, um das schräge und kuriose wie aber auch emotionale und mit viel Liebe verbundene 90s-Jahrzehnt zu zelebrieren. Letztes Jahr waren es 5000 mehr, was für die Veranstalter*innen nicht so schön ist, für das Publikum aber somit etwas mehr Freiraum vor den Bühnen und kürzere Wartezeiten an den Gastroständen bedeutet. Einige kommen zum Nostalgie-Anlass mit Shirts von Kult-Musiksendern, andere tragen gleich ganze Outfits wie man sie von der Love Parade kennt oder haben sich etwas selbst bedrucken lassen. Die Band Masterboy startet gen Abend die witzige Umfrage, wie viele hier eigentlich über 20, über 30, 40, 50 oder gar 60 schon sind. Ein paar melden sich immer, der Großteil ist aber zwischen 30 und 50. Gefühlt ist der Anteil jedoch unter 30 im Vergleich zum Vorjahr gestiegen – womöglich ein TikTok-Trend? Schließlich finden aktuell immer häufiger Songs aus den 90s und 00s den Weg zum jungen Zielpublikum.

Auch 2024 punktet, wenn auch diesmal im Juni statt wie 2023 im August, die wirklich gute und flüssige Organisation. Trotz vollem Timetable – 11 Acts auf der Mainstage (Pop/Eurodance), 12 auf der Wonderful-Days-Stage (Techno) – verzögert sich vieles nur um wenige bis maximal 20 Minuten. So werden einfach die Pausen zwischen den Artists mal verlängert, mal gekürzt und mit unzähligen Partyclassics befüllt, von denen Clubbies mindestens 98 Prozent auch nachts um 3 nach zwei Stunden Schlaf aus dem Effeff mitsingen können müssen. Die kommen erneut von DJ Christian Schall, der sich leider schon wieder nicht an die Jahrzehntgrenzen hält. Ja, „Yeah“ von Usher ist ein guter Song, der immer geht, but god damn, es ist einfach nicht 90s. Man könnte easy ohne Anstrengung jeden Titel, der nicht aus jenem Jahrzehnt ist und gespielt wird, durch einen anderen ersetzen, der thematisch passt.

Doch selbstverständlich ist das nur ein Aspekt. Im Lineup von Die 90er Live hat man auf der Mainstage lediglich zwei Acts übernommen, bei den Techno-DJs sind es vier. Alle anderen waren im Vorjahr nicht dabei – super. Das verspricht Abwechslung. Schon mit dem Opener Whigfield gibt es direkt pures Retro-Feeling, gehört „Saturday Night“ zweifelsfrei zu den absoluten Signature-Hits der Zeit. Dazu bringt die Dänin noch weitere „Ach jo, stimmt“-Momente in Form von „Sexy Eyes“ oder „Think Of You“ mit. Sie trägt einen stylischen Overall in Spaceoptik und wirkt sympathisch. Eigentlich hätte sie einen Slot zur späteren Zeit verdient, da für einen Kick-off um 13 Uhr die Stimmung schnell eine steile Kurve nach oben macht. Im Laufe des Zehn-Stunden-Mega-Marathons darf man sich noch auf Rednex, Oli.P, Dr. Alban, Captain Jack, Fun Factory, Lutricia McNeal, 2 Unlimited, Masterboy & Beatrix Delgado, Jenny Berggren von Ace of Base sowie die Vengaboys als Closing Act freuen. Bei den DJs bringen Melanie di Tria, Woody van Eyden, Kosmonova, Brooklyn Bounce, DJ Raw (Dune), DJ Sash!, Pulsedriver, Aquagen, Klubbheads, Mauro Picotto, DJ Quicksilver und zum Absch(l)uss Charly Lownoise die Menschen zum Raven, was für einen Eintrittspreis von gerade einmal 30 Euro wirklich ein sensationelles Preis-Leistungs-Verhältnis ist.

Trotzdem ist die Qualität der Acts – man kennt es schon – äußerst flexibel. Ebenso wie deren Besetzungen. Das beste Gesamtpaket des Tages bieten Masterboy an. Seit 2001 sind sie wieder in der Besetzung, mit der sie die ganz großen Erfolge feiern konnten. Waren sie letztes Jahr aufgrund von Zugproblemen zu spät und konnten nur noch die letzten fünf Minuten des Festivals die Bühne bespielen, gibt es nun die volle Ladung – ausschließlich eigene Hits, bis auf ein paar Mikrofon-Effekte nur Livegesang und -rap, sogar einige Synthie-Sounds werden in exakt dem Moment produziert und nicht einfach durch ein Playback abgefeuert. Für die wirklichen Hardcore-Fans, die ganz tief drin stecken, gibt es sogar Albumtracks, die keine Singles waren. Bei „Land of Dreaming“, „Love Message“ und „Feel The Heat Of The Night“ gehen die Hände nach oben. Es wird gewinkt und Herzchen geformt. Richtig schön.

Ähnlich stark ist die Show von 2 Unlimited. Zwar ist Sängerin Michèle erst seit 2022 dabei, Rapper Ray aber Gründungsmitglied. Michèle gelingt ohne Diskussion die beste Gesangsperformance des Tages, die sich wirklich hören lassen kann und mit vollem Klang in beeindruckende Höhen rast. Auch in diesem Set gibt es nur Originaltracks wie den Megastomper „No Limit“, aber auch „Tribal Dance“, „Let The Beat Control Your Body“ oder die Cheerleading-Hymne „Get Ready For This“. Dazu dank Backgroundtänzer*innen ein paar hübsche Choreos, und fertig ist der gelungene Die 90er Live-Gig.

Besonders groß aufgezogen ist das Finale mit den Vengaboys, die dank mehrerer aufwändiger Visuals besonders professionell wirken. Auch hier kommt ein großer Teil des Gesangs live aus den Boxen. „Boom Boom Boom Boom“, „Up and Down“, „Shalala Lala“, „We’re Going To Ibiza“, „We Like To Party“ – eine wahre Ohrwürmerbatterie. Doch warum macht man das nicht genau so weiter und ergänzt das Set um „Uncle John From Jamaica“ und „Kiss (When The Sun Don’t Shine)“ statt ein ganzes Medley an Coversongs abzuschießen, wovon auch wieder ein großer Teil nicht aus den 90s stammt? Unnötig und ärgerlich. Gut ist die Show der Niederländer*innen trotzdem.

Ähnlich fällt das Urteil bei Oli.P aus, der so wie im letzten Jahr zwar zweimal „Flugzeuge im Bauch“ und einmal „So bist du“ spielt, dann aber zusätzlich „Angels“ von Robbie, „Major Tom“ von Peter Schilling und „Narcotic“ von Liquido. Hauptsache, alle kennen es, bloß nicht mit „I Wish“ oder „Niemals mehr“ was riskieren. Es gäbe genug Möglichkeiten. Die Stimmung stimmt aber.

Doch leider gibt es auch drei richtige Negativbeispiele am Tag, denn schließlich machen alle ein bisschen das, was sie wollen. Dr. Alban ist zwar mit 65 Jahren der älteste Artist des Tages, und es ist auch wirklich beeindruckend, dass er bei solchen Festivals noch mitwirkt. Allerdings wirkt der Auftritt größtenteils sehr statisch, improvisiert, nicht richtig vorbereitet und vor allen Dingen unangenehm im Ohr. Zwar kommen die weiblichen Parts vom Band, seine sind aber – in dem Fall muss man es sagen – leider live. Den gesanglichen Fail bietet jedoch Jenny von der schwedischen Pop-Kultband Ace of Base, die sich zwar auch fast ausnahmslos an eigenen Tracks bedient, wovon man auch fast alles kennt, jedoch tonal so dermaßen schief ist, dass es einen peinlich berührt. Dazu eine schräge Performance, die jegliche vorher aufgebaute Energie killt. Zwar sind „All That She Wants“, „Beautiful Life“ und „The Sign“ All-Time-Favorites, „Happy Nation“, „Wheel Of Fortune“ und „Don’t Turn Around“ aber fast schon Depri-Pop, der völlig fehl am Platz ist und mit wenig Beifall bewertet wird.

Am Ende geht der WTF-Award jedoch an Lutricia McNeal. Eine Gästin, die man wirklich selten auf solchen Lineups liest, also auf jeden Fall eine tolle Wahl. Zusätzlich geben ihre R’n’B-Pop-Hits nochmal eine ganz andere Farbe. Jedoch wird sie sehr ausschweifend mit „einer der besten Stimmen des Jahrzehnts“ angekündigt, wovon dann wenig zu hören ist. Sie selbst singt nur ein wenig drüber, währenddessen die Studio Versionen laufen, dazu wirkt ihr Outfit eher wie ein Couch-Day-Look. Besonders irritiert ist man jedoch von ihrer Backgroundsänger*in, der*die etwas abseits am Mikro steht, nie mit ihr interagiert, zwischenzeitlich in einer Handtasche kramt, schlecht gelaunt guckt und nicht zu hören ist. Ähm. OK!?

Mola und Christian holen die Crowd aber immer wieder ab, ganz egal, ob nun der Act davor richtig abgeräumt hat – so wie übrigens auch Captain Jack – oder durch Coverversionen von „Texas Hold Em“ von Beyoncé (!!!) – wie bei Rednex – völlig am Ziel vorbeischießt. Es wird zu Nirvana geheadbangt, zu „Can’t Stop Raving“ von Dune Happy Hardcore gehuldigt, mit Blümchens „Nur geträumt“ an letztes Jahr erinnert und mit zig Backstreet Boys-Bangern drei-, vier-, fünfmal zu oft Werbung fürs „Glücksgefühle“-Festival im September gemacht, auf dem die Boyband ihr in diesem Jahr einziges Europakonzert geben. Das routinierte Zusammenspiel der Hosts ist toll, auch die zwischendrin möglichen Selfie-Augenblicke mit manchen Stars, die nach ihrern Auftritten noch am Backstage-Eingang einige Fans abklatschen. Dass der Eintrittspreis für die zehn Stunden voller Programm im Vergleich zum Vorjahr nicht gestiegen ist, ist auch äußerst erwähnenswert – lediglich das Abschlussfeuerwerk ist gestrichen, und das ist ja sowieso mehr ein „Nice to have“-Gimmick.

Die 90er Live ist auch 2024 ein echt spaßiges und gut organisiertes Ein-Tages-Festival, das für kleines Geld sauviel bietet. Neben vielen bekannten Acts gibt es genug Toiletten, genug Gastro-Angebot, sogar zwei Kirmesfahrgeschäfte, Biergärten mit Sonnenschirmen, unzählige Konfettibomben, Flammeneffekte und sehr viele feierwütige und meist entspannte Menschen im Publikum. Doch wenn wir uns was wünschen dürfen, dann bitte, dass es seitens des DJs wirklich mal konsequent ausschließlich 90s-Songs gibt – zur Not bereiten wir sogar eine Playlist vor, wenn’s ernsthaft an Ideen mangelt – und etwas mehr Einheitlichkeit bei den Artists, sodass die Schere zwischen „Richtig gut“ und „leider so gar nicht gut“ etwas kleiner ausfällt.

Und so sah das 2023 aus:

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Foto von Christopher

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