Interview mit Paris Paloma über “cacophony”

(ENGLISH VERSION BELOW) Mit dem hymnischen “labour” landete Paris Paloma einen TikTok-Hype, der das (Über-)Leben im Patriarchat mit breiten Chören anklagte. Mit “cacophony” erscheint jetzt das zugehörige Debütalbum der Britin. Wir sprachen mit der 23-jährigen Musikerin über Gesangsharmonien, Fantasy – und natürlich das Patriarchat.

minutenmusik: Hi, Paris! So schön, mit dir zu sprechen. Wie geht es dir denn gerade so kurz vor dem Release?

Paris Paloma: Ich bin sehr aufgeregt. Es fühlt sich nach etwas sehr Verletzlichem an, aber ich kann es kaum erwarten, bis das Album endlich draußen ist. Da bin ich wirklich ungeduldig.

minutenmusik: Als ich die ersten Songs von dir gehört habe, war ich sehr beeindruckt von dieser reichen und großen Soundwelt, die du erschaffst. Hattest du schon vor dem Schreiben dieses Albums im Kopf, dass es so groß klingen soll?

Paris Paloma: Das ist tatsächlich das Ergebnis davon, dass ich mit so vielen tollen Produzent:innen zusammenarbeiten konnte, die mir dabei halfen, den Ton des Albums zum Leben zu erwecken. Am Anfang gab es kein festes Konzept für das Album, es ist eher ein kuratiertes Body of Work. Viele der Songs waren ja bereits geschrieben. Es wurde eher Stück für Stück zusammengesetzt.

minutenmusik: Hast du denn damit gerechnet, dass das Endergebnis dann so episch klingt oder warst du davon selbst überrascht?

Paris Paloma: Ich hatte die Hoffnung, dass es so werden würde. Am Anfang bin ich das Projekt nicht als Album, sondern Song für Song angegangen. Daher kann ich jetzt nur hoffen, dass es jetzt auch insgesamt so reich klingt.

minutenmusik: Das hat auf jeden Fall funktioniert – was auch an den vielen Harmonien liegt, die wunderschön in die Songs eingewebt sind. Wie schreibst du diese Harmonien?

Paris Paloma: Oft sind sie direkt in meinem Kopf, manchmal gibt es natürlich auch Ratschläge von den Produzenten. Justin Glasgow ist ein großer Fan davon, dass ich so viele atmosphärische, ätherische Harmonien in meinen Songs haben möchte. Aber die Harmonien entstehen immer sehr aus dem Song heraus, sie dienen immer der Atmosphäre.

minutenmusik: Aus diesem Grund fühlt sich das Album auch kaum nach einem Solo-Album, sondern eher nach einem Kollektiv-Werk an. Umso spannender, dass du ein großartiges und wunderschönes Cover von Rainbow Kitten Surprises „It’s Called: FREEFALL“ veröffentlicht hast. Die haben auch ein großes Herz für Harmonien. Gefällt dir diese Schreibweise denn auch bei anderen Bands?

Paris Paloma: Total! Ich liebe den Sound, wenn so viele Stimmebenen aufeinandertreffen. Das strahlt so eine Wärme aus und stammt aus der Folk-Tradition. Es gibt aktuell so viele tolle Künstler:innen, die mit diesem Stilmittel großartige Kunst kreieren. Beispielsweise das Duo Sarah Julia aus Amsterdam, von denen bin ich aktuell wirklich obsessed.

Lustigerweise hat das für mich aber als ein Weg angefangen, meine eigene Stimme zu vertuschen, als ich noch weniger selbstbewusst war. Es gibt natürlich auch Songs auf der Platte, die sehr reduziert sind – mittlerweile setze ich diese Harmonien also deutlich bewusster ein.

minutenmusik: Für die Auswahl der Themen und Inhalte der Platte hast du dich an verschiedenen Genres wie dem Gothic, Mythologie oder Fantasy Genre bedient. Und dennoch ist die Platte sehr persönlich. Wie hast du in diesen Genres die Stärke gefunden, deine eigene Geschichte zu erzählen?

Paris Paloma: Das Verknüpfen dieser Mythen mit meiner sehr menschlichen, sehr biographischen Schreibweise hat vor allem zwei Gründe: Dadurch werden diese Geschichten sehr erhaben und fühlen sich nach etwas Gewichtigem an, während sie sonst sehr klein wirken könnten. Und auf der anderen Seite entsteht dadurch eine gewisse Distanz zwischen mir als Privatperson, was es mir erlaubt, sehr verletzlich zu sein – aber auf einem Level, mit dem ich mich wohlfühle.

Das schaffe ich durch das World Building, durch diese Fantasy-Atmosphäre.

minutenmusik: Hatten diese Genres denn auch einen Einfluss auf den Sound?

Paris Paloma: Ich denke ja. Manche Leute nennen mein Genre „Witch-Pop“, weil es recht nah am ‚Gothic‘ ist. Einige Songs stehen auch für diese übernatürliche Fantasy-Welt, die ich auch sehr schätze.

minutenmusik: Haben diese Genres denn auch dabei geholfen, gewisse Dinge besser zu verarbeiten?

Paris Paloma: Auf jeden Fall – das war auch der Zweck diese ganzen Platte. Den Chaos des eigenen Geistes mit Kunst zu bändigen, war schon immer die einzige Strategie für mich, um wirklich etwas aus meinen Schmerzen und Gefühlen zu machen.

minutenmusik: Dabei stehen auch häufig negative und teils sogar aggressivere Gefühle im Fokus, die sich dann auf Albumlänge immer wieder in die Höhe schrauben. Bestes Beispiel: Die Bridge von „Dry Wall“. Fiel es dir schwer, auch solche Gefühle zuzulassen?

Paris Paloma: Genau diese Elemente, in denen es besonders laut, traurig oder auch glücklich wird, sind die Momente, in denen ich mich besonders zerbrechlich zeige. Ich zeige durch meine Gefühle im Aufnahmeraum, worum es überhaupt geht. Dann gibt es aber auch die leiseren Stellen, in denen Platz für Storytelling ist, wo ich die Hörer:innen direkt angesprochen werden.

minutenmusik: Wenn wir über dieses Album sprechen, müssen wir natürlich über „labour“ sprechen – hattest du denn schon beim Songwriting das Gefühl, dass dieser Song so vielen FLINTA und queeren Leuten aus der Seele sprechen wird?

Paris Paloma: Für mich war das wirklich eine Überraschung! Natürlich wusste ich, dass viele Frauen durch so etwas gehen – aber niemand konnte mich darauf vorbereiten, was mit diesem Song passiert ist. Es war damals wirklich überwältigend. Diese positiven Antworten von so vielen Frauen und queeren Personen, denen es auch geholfen hat, ihre Beziehungen zu anderen Frauen in ihrem Leben neu zu bewerten. Dafür bin ich sehr dankbar – und natürlich dafür, dass „labour“ auch ein Türöffner für meine weitere Musik ist.

minutenmusik: Es war auch wirklich sehr bewegend, so viele Leute bei Social Media zu sehen, wie sie zu diesem Song ihre Story geteilt haben. Aber es gibt auch andere Songs wie „Boys, Bugs and Men“, die mit „Labour“ verbunden sind und dabei so starke Zeilen haben wie „It fills you with light to take away mine“. Als du dieses Album gebaut hast wie eine Charakterentwicklung – welche Bedeutung spielt dieser Moment denn für den Charakter?

Paris Paloma: Die Protagonistin durchläuft wirklich das literarische Stilmittel der Heldenreise, die mit einem Trauma beginnt. Im Laufe der Geschichte muss sich die Figur auch einem Antagonisten stellen.

In „Drywall“, „boys, bugs and men“ und „labour“ betritt dieser Antagonist die Bühne: Es ist das Patriarchat und es geht darum, wie es mein eigenes Leben beeinflusst, aber auch zu meiner persönlichen Entwicklung geführt hat. Aber es bespricht auch, wie sich meine eigenen Beziehungen zu Männern verändert haben. „Boys, Bugs and men“ ist dabei sehr explizit darin, meine persönlichen Erlebnisse mit Männern abzubilden – und über den Sadismus, den ich in ihrer Misogynie entdeckt habe. Wie dieses sadistische Kleinmachen von mir als Frau sich angefühlt hat wie eine Fortsetzung des Mobbings im Sandkasten, den viele Jungs gegenüber mir als Mädchen gezeigt haben.

In dem Sinne führt es zurück zu meiner Kindheit – denn viele meiner Entwicklungen der letzten Jahre sind durch die Aufarbeitung meiner Kindheit und meiner Glaubensgrundsätze entstanden. „Boys, bugs and men“ ist ein wichtiger Teil davon.

minutenmusik: Passend dazu – im Track „As good a Reason“ geht es um die Forderungen, die das Patriarchat an die Körper von Frauen und queeren Menschen stellt. Sind diese Strukturen auch etwas, das du in der Musikindustrie beobachtest?

Paris Paloma: Total! Sowohl in Form der Menschen, die in der Industrie tätig sind, als auch in der Form von internalisierter Misogynie. Das Imposter-Syndrom geht auch nicht einfach so weg – stattdessen denkt man als Musikerin ständig, man sei nicht gut genug, eben weil man kein Mann ist. Dir wird auch suggeriert, dass ein Mann mit dir arbeiten müsste, damit deine Musik gut genug wird. Das gibt es glaube ich leider immer noch in jeder Industrie.

minutenmusik: Bemerkst du denn trotzdem einen Wandel?

Paris Paloma: Ja, Gott sei Dank. All die Männer, mit denen ich jetzt zusammenarbeite, sind ganz wundervoll – ich würde auch nicht mit ihnen zusammenarbeiten, wären sie es nicht. Für mich ist es sehr wichtig, eine Wohlfühl-Community um mich herum zu haben. Ich vertraue allen, mit denen ich zusammenarbeite – egal ob in meiner Band, meiner kreativen Bubble oder in meinem Team – dass sie mich dabei unterstützen, meine Vision auf die Bühne zu bringen. Die Vision einer Künstlerin, die auch formuliert, was das heute überhaupt bedeutet. Meine Kontakte unterstützen diese Vision nicht nur, sie verfechten diese auch.

minutenmusik: Das ist auf jeden Fall viel wert, da die richtigen Leute an seiner Seite zu haben. Schön, dass das bei dir geklappt hat! Als ich das Album gehört habe, fielen mir die vielen Storytelling-Songs auf – die Lyrics und Inhalte spielen eine große Rolle für die Platte. Hast du die Geschichten schon vor dem Song im Kopf?

Paris Paloma: Meistens entsteht alles aus der ersten Zeile. Ich fange eigentlich nie mit dem Titel eines Songs an, eher möchte ich über etwas Bestimmtes sprechen. Diese eine Zeile diktiert also das Thema des ganzen Songs. Also gleichzeitig ja und nein.

minutenmusik: Jetzt steht ja nicht nur der Release bevor, sondern auch die zugehörige Tour. Hast du versucht, die Songs im Live-Setting nahe am Album-Sound zu platzieren?

Paris Paloma: Ja, ich arbeite mit einem wunderbaren Musikdirektor zusammen – Jim Molyneux, der auch mein Schlagzeuger ist und Klavier spielt.  Er bringt diese Platte so wunderschön auf die Bühne. Ich freue mich schon so darauf, die Songs live zu spielen, wenn das Publikum sie schon kennt.

minutenmusik: Wir freuen uns auch schon darauf! Vielen Dank, dass du dir die Zeit genommen hast.

Und so hört sich das an:

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ENGLISH VERSION

With her anthemic song “Labour,” Paris Paloma became a TikTok sensation, critiquing life under patriarchy with powerful choruses. Now, her debut album “Cacophony” has been released. We spoke with the 23-year-old British musician about vocal harmonies, fantasy, and of course, the patriarchy.

minutenmusik: Hi, Paris! It’s great to talk to you. How are you feeling so close to the release?

Paris Paloma: I’m really excited. It feels very vulnerable, but I can’t wait for the album to finally be out. I’m honestly getting impatient.

minutenmusik: When I first heard your songs, I was really impressed by the rich and expansive soundscape you create. Did you plan for the album to sound this grand before you started writing?

Paris Paloma: That actually came from working with so many incredible producers who helped bring the album’s tone to life. At the start, there wasn’t a fixed concept for the album—it’s more of a curated body of work. Many of the songs were already written. It came together piece by piece.

minutenmusik: Did you expect the final result to sound so epic, or were you surprised by it yourself?

Paris Paloma: I hoped it would turn out this way. At first, I approached the project not as an album but song by song. So now, I can only hope that it sounds as rich as I intended.

minutenmusik: It definitely worked—partly thanks to the beautiful harmonies woven into the songs. How do you write these harmonies?

Paris Paloma: Often, they’re already in my head, though sometimes I get input from the producers. Justin Glasgow is a big fan of me wanting to include so many atmospheric, ethereal harmonies in my songs. But the harmonies always arise naturally from the song itself, serving the atmosphere.

minutenmusik: That’s why the album feels less like a solo project and more like a collective work. It’s also fascinating that you released a fantastic and beautiful cover of Rainbow Kitten Surprise’s “It’s Called: FREEFALL.” They also have a strong love for harmonies. Do you appreciate this style in other bands as well?

Paris Paloma: Absolutely! I love the sound of so many vocal layers coming together. It exudes warmth and has roots in folk tradition. Right now, there are so many amazing artists creating great art with this technique. For example, the Amsterdam-based duo Sarah Julia—I’m currently obsessed with them.

Funnily enough, this started as a way for me to hide my own voice when I was less confident. There are also tracks on the album that are very stripped back—so now I use these harmonies much more consciously.

minutenmusik: For the themes and content of the album, you’ve drawn from various genres like Gothic, mythology, and fantasy. And yet, the album feels very personal. How did you find strength in these genres to tell your own story?

Paris Paloma: Connecting these myths with my very human, very autobiographical writing has two main purposes: it elevates the stories, making them feel weighty where they might otherwise seem small. On the other hand, it creates a certain distance between me as a private person, allowing me to be vulnerable—but on a level where I’m comfortable.

I achieve this through world-building and the fantasy atmosphere.

minutenmusik: Did these genres also influence the sound?

Paris Paloma: I think so. Some people call my genre “Witch-Pop” because it’s quite close to Gothic. Some songs represent this supernatural fantasy world, which I also really appreciate.

minutenmusik: Did these genres help you process certain things better?

Paris Paloma: Definitely—that was the whole purpose of this album. Taming the chaos of my mind through art has always been the only strategy for me to truly make something out of my pain and emotions.

minutenmusik: Negative and sometimes even more aggressive emotions often take center stage, escalating throughout the album. A prime example is the bridge of “Dry Wall.” Was it difficult for you to allow these emotions?

Paris Paloma: Those elements, where it gets particularly loud, sad, or even joyful, are the moments where I feel especially fragile. I express what it’s all about through my emotions in the recording room. But then there are also quieter moments, where there’s room for storytelling, where I speak directly to the listeners.

minutenmusik: When discussing this album, we have to talk about “Labour”—did you feel during the songwriting that this track would resonate so deeply with FLINTA and queer people?

Paris Paloma: That really took me by surprise! Of course, I knew that many women go through these experiences—but nothing could have prepared me for what happened with this song. It was truly overwhelming at the time. The positive responses from so many women and queer people, who found it helped them re-evaluate their relationships with other women in their lives—I’m so grateful for that. And of course, I’m also thankful that “Labour” opened doors for my other music.

minutenmusik: It was really moving to see so many people sharing their stories to this song on social media. But there are also other tracks like “Boys, Bugs and Men” that connect with “Labour” and have such powerful lines like “It fills you with light to take away mine.” When you were crafting this album like a character’s development—what significance does this moment hold for the character?

Paris Paloma: The protagonist really undergoes the classic hero’s journey, starting with trauma. Throughout the story, the character has to face an antagonist.

In “Drywall,” “Boys, Bugs and Men,” and “Labour,” this antagonist takes the stage: it’s the patriarchy and how it has affected my life, but also led to my personal growth. It also explores how my relationships with men have changed. “Boys, Bugs and Men” is very explicit in depicting my personal experiences with men—highlighting the sadism I’ve found in their misogyny. The way this sadistic belittling as a woman felt like an extension of the bullying I experienced from boys in the sandbox as a child.

In that sense, it ties back to my childhood—many of my developments in recent years stem from processing my childhood and my core beliefs. “Boys, Bugs and Men” is an important part of that.

minutenmusik: On that note—in the track “As Good a Reason,” you address the demands that patriarchy places on the bodies of women and queer people. Is this something you’ve also observed in the music industry?

Paris Paloma: Absolutely! Both in the people who work in the industry and in the form of internalized misogyny. Imposter syndrome doesn’t just disappear—you constantly feel as a female musician that you’re not good enough, simply because you’re not a man. You’re also made to feel that you need a man to work with you for your music to be good enough. Sadly, I think this still exists in every industry.

minutenmusik: Have you noticed any change nonetheless?

Paris Paloma: Yes, thank God. All the men I work with now are wonderful—I wouldn’t work with them if they weren’t. It’s very important for me to have a supportive community around me. I trust everyone I work with—whether in my band, my creative bubble, or my team—to help me bring my vision to life. The vision of an artist who also articulates what it means to be one today. My contacts don’t just support this vision; they champion it.

minutenmusik: It’s definitely valuable to have the right people by your side. Glad it worked out for you! When I listened to the album, I noticed the many storytelling songs—the lyrics and content play a big role. Do you already have the stories in mind before writing the song?

Paris Paloma: Most of the time, everything starts with the first line. I rarely begin with the title of a song—I usually start with something specific I want to talk about. That one line dictates the theme of the entire song. So, both yes and no.

minutenmusik: Not only is the release coming up, but also the corresponding tour. Did you try to keep the live performances close to the album’s sound?

Paris Paloma: Yes, I’m working with a wonderful musical director—Jim Molyneux, who’s also my drummer and plays piano. He brings this album to the stage so beautifully. I’m so excited to play the songs live when the audience is already familiar with them.

minutenmusik: We’re looking forward to it too! Thank you so much for taking the time to talk with us.

 

Paris Paloma live 2024

  • 11. 09.: Kantine, Köln
  • 12. 09.: Mojo Club, Hamburg
  • 14.09. : HeimathafenNeukölln, Berlin

Beitragsbild von Jennifer McCord.

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