Totgesagte asphaltieren sich einfach ihre Wege, wie sie sie brauchen. So oder so ähnlich lautet ein altbekannter Spruch, den auch Singer/Songwriter-Wunderkind Birdy tief inhaliert haben muss, denn wer sie schon längst ad acta gelegt hat, sollte nun nochmal beide Augen, aber noch mehr beide Ohren auf Empfang stellen.
Das war schon großes Kino, was man aus der gerade einmal 14-jährigen Engländerin mit niederländischen wie belgischen Wurzeln herausholte. “Skinny Love” und womöglich noch mehr die Folgesingle “People Help The People” klangen nach so großem Dream-Pop, als ob dahinter jemand mit ganz viel Lebenserfahrung steckt. War natürlich nicht so und bestimmt ist das für eine Teenagerin auch etwas sehr stark aufgetragen, aber irgendwo ist Musik ja auch mehr als nur die Lyrics.
Die stammten nämlich anfangs nicht von ihr, sondern von den Lieblingsbands ihres älteren Bruders. Sie zeigte jedoch, dass sie sowohl am Piano als auch mit ihren Stimmbändern weiß, wie sie damit umzugehen hat, und das zählt schließlich mindestens genauso viel. Mit ihren ersten selbstgeschriebenen Tracks blieb dann zwar der ganz große Wurf aus und Birdy tauchte in der Welt der überfluteten Herzschmerz-Musiker*innen etwas unter, aber das kann man sich schließlich gekonnt zunutze machen: Den Namen haben die meisten nun schon mal gehört, die Hits kennen auch genügend, machen wir also jetzt einfach unser Ding.
Elfeinhalb Jahre nach dem Erscheinen des Megasellers “Birdy” stehen vier Studioalben sowie einige Soundtrack-Beiträge in der Diskographie, obendrauf sind mehrere Tourneen abgehandelt und der fünfte Longplayer “Portraits” wartet auf den Startschuss. Doch bevor man auch die Zeit der anstehenden Albumpromo ins Land ziehen lässt, war die Pause nun so schon wirklich lang genug. Sechs Jahre zog die fast 27-jährige nicht mehr durch Staaten des europäischen Kontinents, nur vereinzelt gab es Gigs. Lang genug gewartet, lieber machen wir dann im Herbst oder kommenden Jahr einfach erneut eine Runde. Birdy holt sämtliche Termine ihrer für 2022 angekündigten Tour nach, darunter auch das spontan wegen Krankheit nochmal zwei Wochen nach hinten verlegte Konzert im Kölner Carlswerk Victoria.
Das meldet bereits einige Zeit im Voraus ausverkauft, was somit 2000 Ticketverkäufe bedeutet. Wie gesagt, schreibe nie zu schnell Acts ab, die mehr können, als es ihr erster Hype vermuten lässt! Wenig überraschend ist das Publikum zu locker 90 Prozent weiblich gelesen – aber dann doch überraschend jung. Viele sind nämlich wahrscheinlich genauso alt wie die Sängerin selbst oder gar zwei, drei Jahre jünger. Haben die alle wirklich schon mit 13 oder 14 diesen traurigen Klängen gelauscht?
Ein großes Problem, wenn man Singer/Songwriter-Musik mag: Zwischen “Sehr schön” und “sehr langweilig” liegen oft nur winzige Noten, Instrumentierungen, Emotionen. Wie es leider nicht geht, beweist der österreichische Voract Oskar Haag, der um Punkt 20 Uhr für eine halbe Stunde supporten darf. Der tritt in Hipster-Montur ohne Schuhe und mit Gitarre in der Hand auf, setzt sich auf einen Barhocker und spielt eine halbe Stunde lang wirklich sehr eintönigen Akustik-Pop, dem es an Wiedererkennungswert und noch mehr an großer Melodie fehlt. Man muss ja nicht unbedingt einen 17-jährigen bashen, aber wirklich gebraucht hat man das nicht. Immerhin die Gitarren- und Gesangsskills sind ok.
Mit lediglich zwei Minuten Verspätung tritt Birdy um 21:02 Uhr auf und spielt genau anderthalb Stunden lang. Funktioniert das von 2011 auch noch über eine Dekade später? Sind die Skills noch dieselben oder hat sich die Sängerin in ihrer Jugend doch auf vielleicht aufregende, aber auch nicht so gesunde Pfade begeben?
Die Frage lässt sich zwar nicht hinreichend beantworten, aber zumindest an musikalischer Qualität wurde indiskutabel kein winziger Hauch eingebüßt. Stattdessen können diejenigen, die Jasmine van den Bogaerde, so Birdys bürgerlicher Name, schon mal zu früheren Zeiten live erlebten, eine eindeutige Steigerung wahrnehmen. War das damals pubertierende Mädchen auf der Bühne nicht immer ganz selbstsicher und versteckte ihr Gesicht oft hinter ihrem Talent, findet man 2023 das “Viel besser geht’s eigentlich nicht”-Package vor. Wer hätte das gedacht, aber Birdy ist tatsächlich eine der musikalischsten Acts, die man in diesem Jahr wohl sehen wird.
Im Kern ist alles so wie immer. Ein Großteil der Songs trifft mit einem gespitzten Pfeil in das Organ, das für den Blutkreislauf zuständig ist. Aber Birdy zeigt auf ihrer aktuellen Tour, dass mehr geht als nur die safe Nummer. Schon im Opening “Raincatchers” wird es ungewohnt laut und Indie-Poppig. Untermalt wird dieses wie sehr viele andere Stücke von wunderbar stimmigen Lichtspielen. Birdy möchte mehr sein, als diejenige, die ein paar gut geschriebene Liedchen mit Pianountermalung covern kann. Und das gelingt ihr unglaublich gut.
Die Discokugel wird zwar nicht heruntergefahren, aber es gibt locker vier, fünf Momente, in denen der Bass mal richtig scheppert, leicht mit den Füßen hin- und hergetippelt werden kann und die Sängerin ohne Instrument vorn am Mikro steht und eher mit Gestik und Mimik transportiert. Natürlich sind es immer noch die Chartstürmer vom ersten Album oder das abschließende “Wings”, das von den meisten Handys gefilmt wird – aber andere Facetten sind genauso empfehlenswert wahrgenommen zu werden.
Gesanglich singt Birdy bei 20 Songs auf der Setlist wenn überhaupt vielleicht fünf Töne, die nicht ganz 100% mittig gesungen sind. Das ist sehr, sehr wenig. Alles andere klingt genauso auf den Punkt wie in den Studioversionen. Die Vocals sind wirklich atemberaubend gut und werden so fantastisch schön abgenommen. Sowieso klingt das gesamte Konzert bis auf einige wenige Minuten, in denen mal der Bass etwas übersteuert wird, richtig gut. Ein wichtiger Fakt, um die Atmosphäre im Raum zu intensivieren.
Und die ist einfach von oben bis unten spürbar. Um eine*n herum ist es meist leise, alle schauen gebannt nach vorn. Man fühlt sich wie in Watte gepackt, herrlich leicht, wahnsinnig traurig-betrübt, gleichzeitig glückselig-gerührt. Von allen vier Alben gibt es Highlights, vom aktuellen “Young Heart” gerade drei Stücke, vom im Juli erscheinenden “Portraits” hingegen fünf, dazu zwei Songs, die sie für Filme schrieb und ein Cover des 80s-Classics “Running Up That Hill”. Es ist schwer sich zu entscheiden, welcher Moment am einprägsamsten in Erinnerung bleiben wird. Aber zusätzlich zum Erfolgshit “People Help The People”, ihrem Durchbruch “Skinny Love”, den sie präsentiert, als ob sie ihn das erste Mal singt, dem eigentlich im Duett aufgenommenen “Let It All Go” und dem uplifting “Keeping Your Head Up” treffen ganz besonders “Deep End”, “Not About Angels” und das bald erscheinende “Your Arms” so tief, dass es die Augen schnell mit viel Flüssigkeit befeuchtet.
Neben der so guten Gesangsleistung von Birdy sind aber auch ihre Musiker*innen, die mit ihr auf der Bühne stehen, noch zu erwähnen. Die zwei männlich gelesenen bewegen sich dezent im Background, gleichzeitig stehen zwei weibliche mit ihr vorne, spielen neben ihr an weiteren Keyboards und Gitarren und sorgen für mehrstimmige Harmonien, die auch voll fruchten. Kompositionen, Sound, Licht, Können – hier kommt einfach alles zusammen, was zusammen gehört.
Kleidungstechnisch ist aus dem schüchternen Mädchen eine geschminkte Lolita in leicht aufreizenden, aber dennoch äußerst stilvollen Outfits geworden. Birdy hat zusätzlich ihrem Oeuvre an manchen Stellen ein paar Beats hinzugesteuert. Ansonsten ist aber alles so, wie man es erwartet, nur eben nochmal um einige Ebenen besser. Es braucht nicht all zu viele Ansprachen, lieber ein paar wenige, die wirken. Es braucht keine Aufforderung zum Mitsingen, auch keine Aufforderung, das Handylicht als Sternenhimmel umzufunktionieren. Es braucht Talent, gute Leute an der Seite, gute Leute in der Technik und die passenden Songs. Ist alles dabei. Birdy lässt mit ihren 26 Jahren, von denen bereits rund zwölf mit Bühnenerfahrung geprägt sind, viele ihrer Konkurrent*innen enorm alt aussehen und mausert sich vom “Everybody’s Piano-Darling” zum Indie-Act mit Langzeitgarantie. Dem Applaus nach zu urteilen, werden nämlich sehr viele beim nächsten Konzert zurückkommen. Mehr als berechtigt.
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Foto von Christopher
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