Classic Goes 90s, Tonhalle Düsseldorf, 02.10.2022

Ende der 00er Jahre fanden in den kleinen Indie-Clubs die ersten 90er-Partys statt. Damals noch oft mit dem Zusatztitel „Trashparty“ hatte das Jahrzehnt ein Image zwischen Scham und Niveaulosigkeit. Einige Zeit später genießt es denselben Respekt wie die 80er – und 2022 feiert die Dekade in den renommiertesten Konzertsälen eine Renaissance. Räume, in denen regulär Klassik gespielt wird. Classic Goes 90s macht aus zwei Komponenten eine Show.

Ganz revolutionär ist der Gedanke nicht: Alex Christensen setzt auf dieses Konzept bereits seit fünf Jahren, und das ziemlich erfolgreich. Seine „Classical 90s Dance“-Compilations waren unzählige Wochen in den Charts. Bereits drei der Alben sind veröffentlicht worden, im letzten Jahr folgte eine „Classical 80s Dance“-Ausgabe. Tourneen mit DJ-Pult und Orchester gab’s ebenfalls. Aber: Besser gut kopiert als schlecht selbstgemacht, nicht wahr?

Und eine wirkliche Kopie ist Classic Goes 90s dann ja auch nicht, nur eben auf einer ähnlichen Idee aufbauend. Entscheidender Unterschied ist, dass bei der neuen Konzertreihe kein Ton aus dem Computer kommt. Aber auch die anderen einzelnen Zutaten, die zu so einem Gig dazugehören, klingen ziemlich schmackhaft: Arrangeur Jan Kohl verbindet mit der Musik tolle Kindheitserinnerungen. Seine Arbeiten sind sowohl im Film-, Theater-, aber auch im Gamebereich gefragt. Er hat rund ein Jahr daran gearbeitet, die Hits so umzuschreiben, dass sie von einem Orchester gespielt werden können. Und das ist nicht irgendeine Laiengruppe, sondern das Czech National Symphony Orchestra unter der Leitung von Jan Chalupecky, die bereits seit Anfang der 2000er gemeinsame Sache machen. Erst in dieser Saison gewann das Prager Orchester einen Grammy-Award, also mal eben den wichtigsten Musikpreis der Welt. Gönnung.

Das steht also auf der klassischen, renommierten, anspruchsvollen Seite. Auf der 90er-Seite hingegen hat man sich aus einem riesigen Repertoire 40 Tracks herausgesucht, die auf die Bühne gebracht werden sollen. Um dem Ganzen noch ein prominentes und vor allen Dingen glaubwürdiges Gesicht zu verleihen, hat man keine geringere als Jasmin Wagner, besser bekannt als Blümchen, engagiert, die durch den Abend moderiert und bei zwei Titeln auch zum Mikro greift.

Ja, bei Classic Goes 90s hat man seine Hausaufgaben gemacht. Zumindest auf den ersten Blick. Auch bei der Wahl der Konzertsäle wurden wirklich weder Kosten noch Mühe gescheut – sechs an der Zahl, die von Anfang September bis Anfang Oktober bereist werden sollten. Leider machen die Spätfolgen der Pandemie und die akute Inflation jedoch auch hier dem Ticketverkauf einen Strich durch die Rechnung: Aus sechs Terminen werden vorerst zwei, die restlichen vier werden ins kommende Frühjahr verschoben. Die Premiere im Leipziger Gewandhaus wurde aber umgesetzt und nun die ursprüngliche Dernière in der Düsseldorfer Tonhalle als zweites. Quasi zwei Previews für die nächste Runde in rund einem halben Jahr.

Ein langer Disclaimer, um überhaupt zu wissen, worum’s hier geht. Am Sonntag, dem 2.10., steht also die schönste Location NRWs ganz im Zeichen des schrillen Jahrzehnts, das schon wieder über zwei Jahrzehnte zurückliegt. Trotz Rabattaktionen sieht es in dem wundervollen Saal ganz schön leer aus. Geschätzt sind wahrscheinlich nur ein Drittel der Plätze besetzt, was für alle Beteiligten eine sehr bittere Pille darstellt. Aber die Komplikationen der Veranstaltungsbranche sind nochmal ein Thema für sich, worüber man wohl unzählige Seiten schreiben könnte und nur sagen kann: Daumendrücken, dass der anstehende Winter überlebt wird. Diejenigen, die aber Classic Goes 90s besuchen, sind der Location entsprechend schick gekleidet und haben Buffalo-Schuhe und grelle Shirts im Schrank gelassen.

Mit einer kleinen Verspätung von sieben Minuten betritt das über 50-köpfige Orchester um kurz nach 8 die Bühne. Das erste Set wird 65, das zweite nach 25 Minuten Pause gar 70 Minuten dauern, sodass in der Quantität gar nichts beanstandet werden kann. 40 Songs brauchen natürlich ihre Weile und erinnern in ihrer Anzahl an die guten alten Bravo Hits-Sampler – wohl kein Zufall, oder? Jedoch sind solche Veranstaltungen, wie bereits eingangs erwähnt, keine absolute Neuheit – und leider schafft es Classic Goes 90s final auch nicht über ein typisches Bravo Hits-Fazit hinaus: Manches findet man super, manches ok, manches möchte man skippen.

Das Czech National Symphony Orchestra spielt durchweg fantastisch. Sowohl Jan Chalupecky als auch seine Instrumentalist*innen haben immer wieder richtig spaßige Momente, in denen sie sich von dem Drive der Kultsounds mitreißen lassen. Wenn eine ganze Wand von über 30 Streichern in einem so schönen Haus spielen, sind wohlige Schauer vorprogrammiert. Die werden allerdings durch ein Instrument zerstört, das es regulär bei Orchestern nicht gibt. Zu den Grammy-Winnern gesellen sich nämlich noch eine E-Gitarre und ein Drumset. Gerade das Schlagzeug wird fast das gesamte Konzert über so unangenehm abgenommen, dass es selten harmoniert und gut klingt, dem Ganzen stattdessen an Qualität sogar nimmt. Da wünscht man sich schon fast, dass ein paar Teile vom Band kommen und nur das Orchester live dazu spielt. So richtig on point ist der Herr hinter der Drums nämlich auch nicht immer und spielt auch mal einen halben Taktschlag daneben.

Wie funktionieren generell Hits, die häufig durch ihren Beat oder ihren Gesang leben, mit – bis auf zwei Ausnahmen, doch dazu später mehr – instrumentalen Klassikarrangements? Teils so, teils so. Es wird probiert, bei vielen Titeln möglichst nah ans Original zu kommen oder zumindest alle markanten Teile nachzuahmen. Schöne Idee: Man gibt nicht immer derselben Instrumentengruppe die Gesangslinie, sondern lässt mal die Flöten, mal die Hörner, mal die Streicher die Hooks spielen. Problematisch wird es nur dann, wenn das Orchester im Tutti spielt und die Instrumentengruppe mit den Gesangsparts übertüncht wird. Da kommen als 90er-Fan kurzzeitig Irritationen auf, weil man nicht immer richtig weiß, ob das Orchester noch beim Refrain oder wieder in den Strophen ist. Besonders kurios wird es, wenn – und das ist eben das Jahrzehnt – in vielen Strophen Rapparts vorkommen und die beispielsweise durch Trommeln oder eine Tuba nachgeahmt werden. Das ist manchmal witzig-unterhaltsam, manchmal eher merkwürdig. Es fällt eben auf, dass ohne Gesang ein ganz essenzieller Teil fehlt, der das Hitgefühl ausmacht.

Wirklich gute Arbeit macht das Lichtteam. Bei fast jedem Song werden andere Lichtinstallationen ersichtlich, die die Tonhalle in sehr schöne Farben hüllen. Hier wurde ordentlich aufgefahren und dennoch nie übertrieben. Ein ganz toller Einfall: Zum Ende des zweiten Blocks wird eine Projektion auf der Orgel enthüllt, die einen Equalizer darstellen soll. Es ist also auch optisch zu beobachten, wann das Orchester hier wie auffährt. Coole Idee, die ein paar Tracks über bleibt und anschließend wieder verschwindet.

Bei der generellen Songauswahl für den Abend sind viele sehr gute und einige ziemlich merkwürdige Wahlen getroffen worden. Wie seitens der Show angekündigt, werden die größten Dance Hits der 90er präsentiert – Dance scheint aber ein sehr weit gefächerter Begriff zu sein. Natürlich gibt es die typischen Verdächtigen wie „Rhythm Is A Dancer“ (Snap), „What Is Love“ (Haddaway), „Mr. Vain“ (Culture Beat), „Be My Lover“ (La Bouche) oder „It’s My Life“ (Dr. Alban), die man auch einfach immer wieder hören kann und bei so einer Veranstaltung exakt so erwartet. Auf der anderen Seite gibt es mit „Another Way“ (Gigi D’Agostino), „Flying High“ (Captain Hollywood Project), „Friends“ (Scooter) oder „Get Ready For This“ (2 Unlimited) Songs, die wohl nur Hardcore-90s-Fans kennen, wobei bei allen Künstler*innen problemlos genug Hits zur Verfügung gestanden hätten, mit denen jede*r was anfangen kann. Außerdem kann man wohl darüber streiten, ob „Baby One More Time“ (Britney Spears), „I Want It That Way“ (Backstreet Boys) und „It’s Alright“ (East 17) typische Dance-Songs sind oder eben halt einfach nur Klassiker der 90er. Drei Künstler*innen wurden des Weiteren in der Show doppelt bedacht (Backstreet Boys, Dr. Alban, Prince Ital Joe & Marky Mark), da hätte man stattdessen andere mit ins Programm nehmen können, die unbeachtet blieben. Beispiele: Whigfield, Vengaboys, Spice Girls oder Rednex.

Richtig, richtig gut wird es an dem Abend immer dann, wenn die Arrangements viel mehr auf Orchestermusik zugeschnitten sind, man sich weiter von den Originalversionen entfernt oder das Original schon prägnante Orchestereinsätze beinhaltet. Das absolute Highlight ist die extrem coole und wunderbar nach vornegehende Swing-Version von Mousse T.s „Horny“, das völlig epische „Das Boot“ von U96, das tropisch-groovige „Coco Jamboo“ von Mr. President oder das sehr spannend aufgebaute „Blue (Da Ba Dee)“ von Eiffel 65. Außerdem super auflockernd: Zu „Barbie Girl“ (Aqua) gibt es bei Classic Goes 90s eine große Publikumsinteraktion. Die Männer im Publikum singen „Come on, Barbie, let’s go party“ – und was die Frauen darauf antworten, wisst ihr eh. Da wird direkt mit großem Beifall reagiert.

Größter und fast schon grenzwertiger Kritikpunkt: Jasmin Wagner. Und ja, das tut im Herzen weh. Kaum eine Ikone aus unserem Land ist wohl so Kult wie sie und immer noch einfach der Innbegriff von deutschsprachigem 90s-Rave. Sie hat fast die gesamte Ära mitgemacht und kennt unzählige der Acts, die vom Orchester gespielt werden, persönlich. Immerhin hat sie sich mit ihnen die Charts und zig Events geteilt. Warum bekommt es die erfahrene Persönlichkeit aber dann nicht hin, vernünftig zu moderieren? Bis auf die Anmoderation ist nahezu alles aus einem Buch abgelesen. Dennoch verhaspelt sie sich mehrfach, legt falsche Gedankenpausen ein oder kann den witzigen Charme des vorgeschriebenen Textes nicht herüberbringen. Einfach nur schade und der guten Arbeit des Orchesters gegenüber unwürdig. Unzeitgemäß: Die Moderatorin begrüßt das Publikum mit „Sehr verehrte Damen und Herren“ und fordert Männer dazu auf, ihre schmachtenden Frauen bei „I Want It That Way“ von den Backstreet Boys in den Arm zu nehmen. Und Männer, die Männer in den Arm nehmen oder Männer, die zu den Backstreet Boys dahinschmelzen? Was ist mit denen? 2022. Nur nochmal zur Erinnerung.

Noch unangenehmer: Zum großen Finale darf Jasmin Wagner als ihr Alter-Ego Blümchen „Herz an Herz“ und „Boomerang“ singen, währenddessen das Orchester spielt. Der einzige Teil der Show mit Gesang und somit ein hervorstechendes Merkmal. Beim Timing ist die Sängerin hier und da überfordert und muss schon sehr genau hingucken, um den richtigen Einsatz zu bekommen, vor allen Dingen ist sie aber tonal einfach unsauber. Ja, hochschwanger zu singen, ist eine absolute Herausforderung und wirklich schwierig. Aber auch das ist wieder im Vergleich zum Orchester eine maximal mittelprächtige Performance, die dem Ganzen einen leichten Trash-Stempel aufdrückt – und „war gut gemeint“ ist wohl nicht das, was als Eindruck erzeugt werden soll.

Gemischte Gefühle. Classic Goes 90s hat prinzipiell ein schönes Konzept, gute Voraussetzungen und auch den Willen, richtig was zu reißen. Leider hapert es an ein paar Dingen, die unnötig wären. Vielleicht sollten bis zum Frühjahr die Details, die wirklich top sind – freiere Arrangements, die mehr dem Sound des Orchesters entsprechen; mehr Interaktion mit dem Publikum; mehr Spielereien für das Publikum wie die Equalizer-Projektion – noch weiter ausgebaut werden, damit die Show insgesamt mehr mitreißt. Außerdem muss die Moderatorin doch ein bis zwei Stunden mehr Zeit in die Vorbereitung investieren. Crossover, der in kreativen Projekten ausgelebt wird, kann funktionieren. Man muss dann eben nur sowohl die anspruchsvollen Klassikzuhörer*innen als auch die 90s-Fans, die zu den Songs unzählige Male abgefeiert haben, gleichermaßen abholen. Aber bis zu den Gigs in Stuttgart, Hamburg, Berlin und München ist’s ja noch ein Weilchen hin.

Und so hört sich das an:

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Bild von Christopher.

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