Juli, Volksbank-Arena im Gartenschaupark Rietberg, 17.08.2023

juli rietberg 2023

Tatsächlich kann 2023 Deutsch-Pop oldschoolig klingen. War er ewig ein Tabu, dann plötzlich mit der Neuen Neue-Deutsche-Welle-Ära der Shit und seitdem ein permanenter Begleiter, so hat ein ganz bestimmter Sound, der in ihm wohnt, bereits Retrocharme. Juli sind wieder da und nicht mehr die Jüngsten. Sind wir aber alle nicht. Stattdessen stellen sie in Rietberg ihre Marmeladenglasmomente auf den Tisch. Geöffnet.

Rietberg besitzt mit rund 29.000 Einwohner*innen weniger als ein Drittel so viele wie Gießen. Und schon dort gab es wenig Alltagerlebnisse. Eva Briegel und ihre vier Jungs machen seit 2000 gemeinsam Musik, da waren sie Anfang 20. Zu der Zeit fuhren sie öfter mit Evas Auto an ruhige Fleckchen, um dort auf der Motorhaube zu liegen und zu philosophieren. Einige von ihnen sind bereits seit der Pubertät gemeinsam an den Instrumenten. Juli sind fünf Freund*innen. Menschen, die sich untereinander bei womöglich jedem Treffen mindestens eine „Als du damals…“-Geschichte erzählen. Genau diese Melancholie nehmen sie mit auf Tour zu ihrem Album „Der Sommer ist vorbei“ , dem ersten seit fast neun Jahren Pause. Das kam im April raus und belegte Platz 9 der Albumcharts. Die Band ist noch und wieder da, die Fans auch.

Im Gartenschaupark ist alles herrlich entspannt. An den Toilettenhäuschen ist es leer, an den Gastroständen wartet man maximal zwei Minuten. Vor der Bühne ist es während des Einlasses ebenso äußerst überschaubar. Die erste Reihe ist zwar blockiert, alle anderen Gäst*innen sitzen aber gemütlich auf der Tribüne, die sich keine 20 Meter von der Stage entfernt befindet, und trinken ein Bier. Der Großteil ist Ende 30, Mitte 40, manche aber auch schon Ü60. Unter 25 sind wohl nur die, die andere zum Konzert begleiten. Bei ausverkauftem Haus hätten hier 2200 Menschen Platz, heute sind es wohl eher nur die Hälfte, aber das wertet das Erlebnis eigentlich nur auf. Genügend Raum zum Tanzen. Das hat man doch in den 2000ern mal gemacht, haben wir gehört.

Um 20 Uhr spielt nach einer kurzen Anmoderation des Veranstalters das Würzburger Duo The Late Summers. Die zwei könnten womöglich sogar erst nach dem Jahrtausendwechsel geboren sein. Aber Hannah und Falco machen einen richtig guten Job und spielen melancholischen, zweistimmigen Singer/Songwriter-Pop, der mit Angus & Julia Stone oder Jim & Sam liebäugelt. Das ist herrlich süß und einschmeichelnd. Auch wenn sie im Vergleich zum Hauptact auf Englisch singen, wird ein treffender Bogen gespannt. Sympathisch, seicht, aber dennoch nachdenklich. Sollte man weiterverfolgen.

Um 21 Uhr geht Mitte August gerade die Sonne unter. Das Konzert gehört also zu den wenigen Open-Air-Shows, die man fast ausschließlich im Dunkeln sieht. Und irgendwie scheint gerade atmosphärisch heute sehr viel zu stimmen. Juli werden 105 Minuten lang in Farbtöne gehüllt, sodass man oft die Gesichter nicht erkennt. Eva am Mikro hat mehrfach die Augen zu. Man verschwindet schnell mit den Gedanken und ist an jenen Orten, an denen man 2004 oder 05 war. Einmal fordert sie auf, dass nur diejenigen laut mitsingen, die noch nicht die 30 geknackt haben. Das sind verdammt wenige, die sind aber dafür textsicher und auf Party gepolt. Die Restlichen über 95 Prozent genießen das Konzert eher wippend statt hüpfend. Aber sie fühlen’s wahrscheinlich noch viel mehr.

Dass das Quintett so ewig lang zusammen zockt, merkt man. Man hat einfach nur Lust zu spielen, von Anspannung gar keine Spur. Das Geheimnis dahinter ist wahrscheinlich, dass Juli immer noch ihr Schulband-Charisma innehaben. Beim Zuschauen denkt man „Ach, das könnte ich doch bestimmt auch“ und fühlt sich abgeholt. Die Songs sind in ihren Strukturen oft auch gar nicht kompliziert, aber dafür ist jeder der fünf Musiker*innen von vorne bis hinten absolut on time. Genau das macht es dann auch aus – es gibt nicht vor, irgendwas zu sein, sondern ist einfach das, was es ist, aber das aus vollster Überzeugung.

18 Songs. Davon acht vom aktuellen Longplayer, zehn aus den vier Alben davor, die man wirklich alle kennen sollte, wenn man in den 2000ern auch nur hin und wieder Radio gehört oder MTViva geschaut hat. Lediglich „Warum“ fehlt. Natürlich sind einige Hits ein wenig in die Jahre gekommen. Den Großteil spielen Juli in den Originalversionen, an manchen Stellen gibt’s dann aber unerwartete Spielereien, verlängerte Bridges oder Outros. So verändert sich „Zerrissen“ gen Ende in ein Lounge-Gewand, was verdammt gut kommt. Mit „November“ hört man den laut Band ersten deutschen Song, den sie geschrieben haben. Bei den Songs von „Der Sommer ist vorbei“ – Funfact: Er ist nach wochenlangem Regen endlich genau seit knapp einer Woche wieder da – hört man zu und entdeckt, dass Juli selbst immer wieder zurück auf vorige Kapitel schauen. „In unseren Händen“ ist eine Pianoballade, bei der Eva singt und Simon spielt, bei „Wolke“ steht Eva plötzlich selbst an den Keyboards und gemeinsam wird es krachend-laut und sphärisch.

Der Sound ist wirklich knallig, hier wird aufgedreht. Manchmal ist das Mikro der Frontfrau nicht so im Einklang zum Rest, sodass einige Zeilen verschluckt werden. Ansonsten ist aber alles fein. Ganz besonders eben die Spielfreude, so steht Eva bei rockigen oder elektronischen Momenten nie still, sondern fegt permanent powervoll über die Bühne. Marcel zeigt einige Male richtig gute Breaks an den Drums. Zu jedem Song gibt es eine Geschichte oder Aufforderungen ans Publikum. Einmal sogar falschplatziert. „Dann wisst ihr das wenigstens jetzt schon mal für später“, lacht sie, als die Jungs um sie herum, sie darauf hinweisen, dass das von ihr anmoderierte Stück erst später im Set kommt.

Ein Konzert wie damals. Gefühle von damals, Hits von damals, Gesänge wie damals. Nur Licht und Musik, keine Leinwand, keine Effekte, kein Schnickschnack. Nostalgie und Melancholie. Zum Megahit „Perfekte Welle“ bittet die Band darum, das Handy in der Tasche zu lassen, weil es sich um ein Lied handelt, bei dem es um wellenartige, gemeinsame Energien geht, die im Hier und Jetzt geschehen. Erst halten sich einige nicht dran, aber als nach dem ersten Refrain kurz mit den Worten „So, jetzt habt ihr ja ein wenig gefilmt, wir starten nochmal von neu“ unterbrochen wird, folgt man dem Wunsch. Man fährt nicht nach Hause und denkt, dass man die beste Show des Jahres gesehen hat. Aber man fährt mit einem ganz bestimmten Gefühl heim, spürt, dass man für mehrere Minuten 20 Jahre jünger war, lacht bei „Regen und Meer“ als Zugabe auf dem einen Auge und drückt die Träne im anderen weg, träumt sich davon und erzählt sich „Als du damals…“-Geschichten im Auto. Das tut gut.

Und so hört sich das an:

Website / Facebook / Instagram

Foto von Christopher

* Affiliate-Link: Du unterstützt minutenmusik über deinen Einkauf. Der Artikel wird für dich dadurch nicht teurer.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert