Placebo, Kunst!Rasen Bonn, 10.08.2023

placebo beim konzert auf dem kunstrasen in bonn

Bis die Crowd richtig überzeugt ist und bei den ersten Takten schon jubelt, dauert es 15 Songs. Allerdings ebbt die Stimmung danach bei Placebo in Bonn direkt wieder an. Viele unerfüllte Erwartungen.

Open-Air-Gelände hatten diese Saison bisher größtenteils extrem Pech. Aufgrund der schwierigen Wetterlage mussten mehrere Shows wegen nicht hinreichender Sicherheitsvorkehrungen abgesagt werden. Die Gigs, die stattfinden konnten, waren oft eine Schlammschlacht und ungemütlich. Als es im Juni so richtig heiß war, stand vieles noch nicht an. Hoffentlich können nun aber der August und vielleicht noch einige Tage im September etwas retten. Seit Kurzem sind die Temperaturen wieder dort, wo sie sein sollten und machen damit auch ein Erlebnis auf dem Kunst!Rasen im Bonner Park Rheinaue wertvoll. Seit über zehn Jahren lockt das bunte Programm Gäste von nah und fern in die ehemalige Hauptstadt und hat dabei stets namhafte Persönlichkeiten eingeladen. 2023 gibt es hier sogar das vorerst letzte Konzert von Placebo auf deutschsprachigem Boden.

Eine Live-Pause sei Brian Molko und Stefan Olsdal auch gegönnt. Seit Mai ’22 spielen sie sich einmal durch das gesamte Europa und teilweise auch durch Übersee. Über 100 Shows sind Vergangenheit, zwei stehen noch aus. Das Finale ist in zwei Wochen auf einem Festival in Frankreich. Mit „Ich hatte keine Chance, die Zwei zu erwischen“ braucht hier also niemand zu kommen, gab es allein 16 Konzertmöglichkeiten in Deutschland. Rund 10.000 hätten nun Bonn nutzen können. Ausverkauft ist die Show am 10.8., einem Donnerstag, zwar nicht, gut voll ist der etwas zu längliche Rasenplatz zwischen Linden und Kastanien mit 8000 Besucher*innen aber dennoch.

Sie haben ihren sehr persönlichen Stil. Und das sogar in gleich zwei Details. Placebo erkennt man oft schon an den markanten, elektronischen Beats mit düsterer Färbung, noch mehr aber natürlich anhand des unverwechselbaren Gesangs von Brian Molko. Der zählte on top sogar zu den absoluten Stilikonen rund ums Millennium. Ob straight, homo, bi, ob männlich, weiblich, non-binär – irgendwie flogen wir doch alle auf ihn. Ein Stück von diesem lasziven Feeling schwebt auch über den Köpfen des Publikums, die darauf warten, etwas Jugend und auflodernde Hitze zu spüren. Dafür muss man sich allerdings erst fast 40 Minuten den etwas penetranten und nicht richtig gut abgemischten Sound der irischen Band The Murder Capital anhören. Die sind in ihrer Heimat bereits äußerst erfolgreich, in Bonn wird es aber wohl bei einem „Ja, die hab ich schon mal gesehen“ bleiben. Sehr laute Drums, sehr lauter Bass, zu leiser Gesang, zu viel lärmiges Aus-dem-Boxen-Genudel.

Das erste Mal hört man den Frontmann des Hauptacts aus der Konserve. Um Punkt 20 Uhr erwähnt Brian Molko, dass er und sein Bandkollege Stefan sich möglichst wenig Handys über den Köpfen wünschen. Dass man es in der Tasche behält, nicht ständig filmt oder fotografiert. Die Ansage wird daraufhin von einem der Veranstalter*innen noch auf Deutsch übermittelt. Am Ende stellt sich heraus, dass es eher einem Befehl als einem Wunsch gleicht, so werden mehrfach filmende Personen von der Security ermahnt. Placebo sind nicht die Ersten, die sich dahingehend äußern. Immer häufiger hört man ähnliche Ansagen. Einerseits schön, dass man eben nicht ständig das Handy statt der Bühne im Blickfeld hat, andererseits ist aber das Bedürfnis, aufregende Momente festhalten und teilen zu wollen, fester Bestandteil der Gesellschaft. Am Ende macht es wohl wie immer das Maß.

Um 20:11 Uhr gibt es dann für insgesamt 95 Minuten das Londoner – mittlerweile nur noch – Duo. Nächstes Jahr existiert die Formation bereits drei Dekaden, 2026 wird das Debütalbum 30. Viele im Publikum sind schon seit den Anfängen dabei. Das Durchschnittsalter liegt wohl um die 40. Im März ’22 erschien die neunte Studio-LP „Never Let Me Go“ , die heute im Fokus stehen soll. Neun Longplayer und noch einige weitere EPs sind eine ordentliche Diskographie. Längst kann man nicht mehr alle Singles oder gar Lieblingsfanalbumtracks liefern. Allerdings geht man mit der Setlist doch zu große Wagnisse ein.

Zwei Elemente sind an jenem Abend besonders schön. Das Bühnenlicht sowie die auf mehreren Bildschirmen gezeigten Videos und Effekte sind an das Album-Artwork angelehnt. Viele Verzerrungen, digitale Welten, lila Farbtöne. Chic. Genauso gut ist die längst eingespielte Band. Neben Brian und Stefan sind vier Instrumentalist*innen dabei. Zu sechst gibt es ohne Makel anderthalb Stunden klassischen Alternative-Rock. Allerdings sind Placebo selbst mit den Vorgaben vor Ort unzufrieden, sodass es mehrere Aushänge im Eingangsbereich gibt. Es wird darauf hingewiesen, dass nur mit gedämpfter Lautstärke gespielt werden darf. Weiter hinten ist der Sound aufgrund mehrerer Boxenreihen gar nicht so leise, je näher und mittiger man allerdings der Stage kommt, desto leiser muss man sich unterhalten, da ansonsten Gespräche klarer für die Menschen um einen herum zu verstehen sind als die aus den Boxen wummernde Musik.

All zu viel lässt sich die Gruppe davon aber nicht nehmen, so gibt es von beiden gleich mehrmals einige deutsche Ansprachen, in denen sie zwar für leise Lacher sorgen, weil sie das Publikum siezen, dafür ist aber die Wortwahl gar nicht so schlecht und viele Sätze grammatikalisch auch völlig ok. Macht heutzutage kaum noch ein Act. Charismatisch. Man hat also zunächst definitiv den Eindruck, man möchte auf Fans eingehen und beidseitige Wertschätzung einfahren.

Doch leider geht man gegen 21:45 Uhr mit einem unbefriedigten Gefühl aus dem Park. Das liegt eben zum kleineren Teil an dem nicht so gelungenen Klang, zum viel größeren Teil aber an der doch wirklich misslungenen Songauswahl. 19 Lieder, das ist gut eine Hand voll weniger als vor einigen Jahren. Macht damit schon locker eine halbe Stunde Stagetime aus. Doch unter den 19 befinden sich gleich neun vom aktuellen Album, davon sieben in der ersten Hälfte. Natürlich möchte man als Band auch neues Material präsentieren, absolut legitim. Ganz besonders, wenn es sich um die erste Studio-LP nach acht Jahren Pause handelt. Gleichzeitig sind das jedoch keine Titel, mit denen man eben jene Geschichten und Momente verbindet. Keine, zu denen man womöglich schon früher auf Konzerten getanzt und mitgesungen hat. Da Placebo mittlerweile auch eher nur noch in ihrer Fanbase statt in der breiten Masse funktionieren – keine Single ist in den relevanten Ländern gechartet – werden also die Songs von „Never Let Me Go“ auch wohl nicht mehr zu Hits und sind damit bei der nächsten Tour schon wieder passé.

Kann man natürlich somit als Pro-Argument betrachten und sagen: „Umso wichtiger, dass genau diese Songs alle jetzt gespielt werden“. Ok. Fair enough. Und sowohl „Beautiful James“ als auch „Try Better Next Time“ sind ja auch gute Kompositionen. Generell ist das Album gelungen. Allerdings sollte man zumindest bei den restlichen zehn Plätzen auf der übrigens seit Mai ’22 fast identischen Setlist wirklich Fanmaterial abliefern, wenn man zuvor eher für sich selbst musiziert. Und auch da sieht es eher mau aus. Mit „Bionic“ und „Scene of a Crime“ verirren sich zwei in die Show, die wohl nur die Hardcore-Fans kennen. „Shout“ als Cover von Tears for Fears mag zwar jedem ein Begriff sein, ist aber die nächste vergeudete Chance, auch den 90s/00s-Anhänger*innen gerecht zu werden und stattdessen irgendein Cover, das fast einer Kopie vom Original gleicht. Der Höhepunkt ist zweifelsfrei bei „The Bitter End“ erreicht, wohl einem der drei oder vier bekanntesten Placebo-Songs überhaupt. Es wird laut geklatscht, mitgesungen und sich bewegt. Das passiert allerdings eben nur bei diesen wenigen Minuten. Ein klein bisschen auch bei den ruhigeren „Too Many Friends“ und „Song to Say Goodbye“ und selbstverständlich bei der finalen Zugabe „Running Up That Hill“, das letztes Jahr durch die Netflix-Serie „Stranger Things“ erneut breite Beliebtheit erfahren durfte. Direkt davor gibt es aber, nachdem man zumindest ein bisschen mit dem Puls hochfuhr, mit „Fix Yourself“ den größten Dämpfer von der aktuellen Platte. Extrem deplatziert.

Die restliche Zeit ist viel stehen und lauschen. Intime Atmosphäre entsteht durch die Größe der Location und Masse der Menschen gar nicht, wirkliche Nostalgie durch die Songauswahl nicht. Musikalisch bieten Placebo in Bonn gewohnt guten Alternative mit hohem Wiedererkennungswert. Aber wenn man schon auf so eine treue Fangemeinde bauen kann, weiterhin so viele Tickets verkauft und so ein riesiges Repertoire mit Hits in der Hinterhand hat, ist es absolut nicht zu viel verlangt, davon dann auch eine anständige Portion zu servieren. Immerhin machen das andere Acts, die noch viel länger im Business sind, genauso. Ist es in Wirklichkeit ein kleiner Protest, der mit dem Handy-Wunsch in Verbindung steht? Ein wenig nach dem Motto: „Wir liefern erst gar keinen Anlass, filmen zu wollen“? Womöglich wartet aber zum 30-jährigen eine neue Best-of-Tour auf uns, bei der dann auch „Every You, Every Me“, „Special K“, „Special Needs, „Pure Morning“, „Nancy Boy“, „Taste In Men“, „Twenty Years“, „Without You I’m Nothing“, „English Summer Rain“, „Protect Me From What I Want“ oder „Meds“ dabei ist. Und nein, davon gab es wirklich keinen einzigen. Kann man alles genau so machen, ist dann eben halt nur nicht geil, sondern arg underwhelming. Ein Konzert, das Hunger macht, aber nach der Vorspeise nicht mehr weiter auftischt.

Und so hört sich das an:

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Bild von Christopher

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