Immer wieder neue Herausforderungen: Bei The Kelly Family ist selten auf längere Sicht alles gleich. Wie auch, wenn bereits 14 Mitglieder aus zwei Generationen Teil der Band waren, davon neun wohl für die meisten Fans aber die Stammgruppe ausmachen. Seit dem großen Comeback vor fünf Jahren haben sieben Geschwister wieder gemeinsam aktiv musiziert, allerdings hat sich 2021 der nächste im Bund vorläufig verabschiedet: Angelo ist raus und konzentriert sich auf seine eigene Familie, mit der er seit 2015 auftritt – aber auch in der Formation macht man nun eine Pause. Zusätzlich mussten alle den Verlust von Schwester Barby verarbeiten, die im April 2021 unerwartet verstarb.
Fluktuation und stetige Veränderung. Das kann sich eine etablierte Band eben nur erlauben, wenn sie einerseits dermaßen viele Mitglieder bieten kann, andererseits aber auch eine unglaublich riesige und äußerst solidarische Fangemeinde besitzt. Und daran besteht wohl wirklich kein Zweifel mehr. Mitte der 90er war es vielleicht noch ein Hype, Ende der 90er schon eher Special Interest, zum Comeback ein Event – doch nach erneuten fünf Jahren Musik gibt es keinen anderen Grund, die Kelly Family sehen zu wollen, als zur echten Anhänger*innenschaft zu gehören.
Natürlich ist Nostalgie stets ein wichtiger Bestandteil. Mit Sicherheit hätte die sehr diverse Gruppe nicht diesen Umfang an Fans, wenn sie erst vor Kurzem mit dem Musizieren begonnen hätte. Diese Quantität hat man sich über Jahrzehnte hart erkämpft und in den letzten paar Runden durch viel Nähe, besondere Aktionen und den Austausch mit den CD- und Ticketkäufer*innen gestärkt. Außerdem schwappt auf beiden Seiten die Leidenschaft auf die Nachkömmlinge über: Auf den Konzerten sieht man verstärkt Eltern mit ihren Kids, teilweise auch mit den Großeltern – und auf der Bühne oder in den Songwriting-Credits tauchen gern die Kinder oder Eheleute der Mitglieder auf.
Doch Nostalgie benötigt eben eine gewisse Präsenz. Wie langweilig wäre es doch, wenn man jedes Jahr oder auch nur jedes zweite mit der immer gleichen Show durchs Land zieht, ohne ein wenig neuen Input zu bieten? Und tatsächlich bietet die vierte Tour in fünfeinhalb Jahren andere Zutaten, sodass auch diejenigen, die die Kellys seit 2017 gesehen haben, 2022 erneut überrascht werden: Mit der Mega Christmas Show zelebriert man die besinnlichste Zeit des Jahres, die für die Kellys eh schon immer viel Bedeutung innehatte. Zusätzlich probiert man es erstmalig ohne Angelo, der die ausschlaggebende Kraft für die Reunion war. Doch offensichtlich ist man sich sicher genug, dass auch das keine große Schwierigkeit darstellen wird: 27 Shows. Alle großen Hallen des Landes in sechs Wochen. Ab dafür.
Schon allein der Name The Kelly Family ist eine Institution. Das Publikum, das in den 90ern den Hype auslöste, ist heute überwiegend zwischen 40 und 50 Jahre jung und zögert keine Sekunde. Ob da der eine oder andere Kelly mehr dabei ist? Zweitrangig. In der Dortmunder Westfalenhalle – dem selbsternannten Wohnzimmer der Band, spielte man hier nämlich 1994 das erste große ausverkaufte Hallenkonzert – tummeln sich wieder gespannte Gäst*innen, wovon die jüngsten noch in die Grundschule gehen und die ältesten bereits am Rollator. Nirgendwo sonst ist die Spannbreite dermaßen riesig. Zwar ist der Innenraum am 27.12., einem Dienstag, bestuhlt, sodass es wesentlich gesitteter zugehen darf als bei dem letzten Gig 2019 an gleicher Stelle, die Besucher*innenzahl schrumpft somit auch ein wenig, im Oberrang sind sogar einige Plätze frei, geschätzt sind aber auch dieses Mal wieder 8000 Leute dabei. War ja auch knapp drei Jahre Zwangspause, woll?
Eine Mega Christmas Show benötigt selbstredend Christmas-Tunes. Die wurden bereits Anfang November serviert, nämlich mit dem neuen Studioalbum “Christmas Party” , das bis auf wenige Ausnahmen nur neue weihnachtliche Kompositionen bereithielt. Das gefiel uns größtenteils zwar nicht so, aber Kathy, Patricia, John, Joey, Jimmy und Paul haben auf dem Schirm, was die Menschen, die vor ihnen sitzen – obwohl: überwiegend stehen – hören wollen. Und das sind eben keine neuen Weihnachtssongs, die nur die Hardcore-Fans kennen, sondern die großen Hits von Damals, gepaart mit Titeln, die jede*r mitsingen kann.
Das Konzept geht in der mit 135 Minuten ordentlich vollgepackten Show auf. Ein wenig überzuckerter Kitsch, ganz viele Lichteffekte, Konfettiregen und künstlicher Schnee, gute Musikalität, viele Gesangsmomente und on top ein “Wir”-Gefühl. Wie eh und je zeigt sich das Sextett dankbar und hält es für keineswegs selbstverständlich, dass immer noch so viele Menschen in Deutschland sie sehen möchten. Wenn der komplette Saal singt, schunkelt, winkt oder mit Handylichtern leuchtet, ist das immer ein bisschen magisch. Dem kann man sich nur schwer entziehen.
25 Songs, darunter vier Medleys, sodass man insgesamt von 31 Liedern sprechen kann, ist auf jeden Fall überdurchschnittlich. Man reist durch mehrere Dekaden und Schaffensperioden. Aus der jüngsten Vergangenheit schafft es nur Johns “El Camino” (“25 Years Later“, 2019) auf die Setlist. Patricias energiegeladenes Solo “Fire” ist seit mehreren Konzerten wegen einer Bronchitis von der Setlist gestrichen. Von dem gegenwärtigen “Christmas Party” sind mit acht Songs nur die Hälfte mitgenommen worden, darunter auch der als Opener perfekt funktionierende Classic “One More Happy Christmas”, welcher in seiner rockigen neuen Version absolut punktet.
Davon ab gibt es dann doch das “Weißt du noch?”-Package voller guter Erinnerungen, ohne das man ein Kelly–Family-Konzert auch bitter enttäuscht verlassen würde. Kein “First Time”? Kein “An Angel”? Kein “Nanana”? Kein “Fell In Love With An Alien”? Kein “Why Why Why”? Kein “The Wolf”? Kein “Take My Hand”? Undenkbar. Eben die Augenblicke, in denen die Halle am lautesten wird, die Handys nach oben gehen, um ein Video zu drehen. Einfach Songs, die man immer noch spürt, wenn man sie damals bereits miterlebt hat. Besonders emotional wird es, wenn Jimmy Gitarre und Mundharmonika spielt und für seine verstorbene Schwester Barby seinen selbstgeschriebenen Titel “Hold My Hand” singt.
Trotzdem gibt es im Vergleich zu den wirklich fulminanten ersten Comeback-Gigs ordentlich Abzug. Zwar probiert man hier und dort einige Änderungen aus – zum Beispiel in dem folkigen All-Time-Favorite “Good Neighbor”, welches Paul erstmalig allein singt, was er auch fantastisch umsetzt, oder in dem rockig arrangierten und schon 2019 getesteten “Break Free” mit Kathy, das ganz andere Seiten der 61-jährigen zeigt – aber ganz besonders der Verlust von Angelo fällt äußerst stark ins Gewicht. Musste man bei der Reunion schon damit vorliebnehmen, auf Paddy, Maite und Barby zu verzichten, ist nun der nächste große Liebling von der Bildscheibe verschwunden. Damit einher sagen auch der einzige Nummer-1-Hit “I Can’t Help Myself” und das immer spektakuläre Drum-Solo adé. Angelo ist ein Publikumsmagnet und ein Entertainer, und das fehlt einfach merklich.
Musikalisch gibt es ebenfalls eine Neuerung. Die vierköpfige Band bestehend aus Drums, Keys, Gitarre und Bass, macht einen tollen Job, genauso die Soundtechnik. Hin und wieder spielen auch die Kellys Instrumente, was jedoch nochmal weniger wurde. Erstmalig zu sehen: Zwei Backgroundsänger*innen. Klar, Chormusik benötigt einen Chor. Weniger Stimmen klingt weniger voll, somit wird aufgestockt. Nicht schlimm, aber auffällig. Liebhaber*innen von Effekten müssen sich des Weiteren mit einer kleineren Bühne zufrieden geben, die zwar immer noch bei Joeys Soli Feuer wirft und auf Leinwand stets hübsche Sequenzen zeigt, aber besonders an Druck, Energie und Tempo drosselt.
Insgesamt erwartet das gut gelaunte Publikum nichtsdestotrotz eine große Ladung Musik, die sich zwischen Folk, Pop und Rock nicht entscheiden braucht, gepaart mit über ein Dutzend Weihnachtssongs. Neben denen, die auf “Christmas Party” gehört werden können, warten auch Coverversionen von “Do They Know It’s Christmas” (Band Aid), “Last Christmas” (Wham!), “Happy X-Mas (War Is Over)” (John Lennon & Yoko Ono), “White Christmas” (Bing Crosby) plus deutsches Liedergut wie “Leise rieselt der Schnee”, “Alle Jahre wieder” und zur Zugabe ein in drei Sprachen gesungenes, sehr berührendes “Stille Nacht” auf die Westfalenhalle. Man hält sich also ans Motto und streut Festtagsfeeling, auch wenn Weihnachten schon vorbei ist. Und zum Thema “Die Neue 3. Generation”: Für einen Song besucht Lilly Kelly, die Tochter von Joey, die Show und singt den Song “Ich bin da” von ihrer Tante Maite. Man ist eben eine große Familie.
The Kelly Family sind eigentlich nicht dazu fähig, schlechte Konzerte zu spielen. Auch dieses ist wieder weit davon entfernt. Ganz besonders die Ambition, immer ein wenig Abwechslung zu bieten und mit Komplikationen wie Krankheitsfällen oder dem Verlassen von Bandmitgliedern souverän und professionell umzugehen, ist löblich. Trotzdem ist ein gewisser Qualitätsverlust nicht zu übersehen. Gut ist die Tour trotzdem noch, auch wenn sie in den kommenden Stunden ihr Ende findet.
Und so hört sich das an:
Website / Facebook / Instagram
Bild von Christopher.
* Affiliate-Link: Du unterstützt minutenmusik über deinen Einkauf. Der Artikel wird für dich dadurch nicht teurer.