Triumph am Siedepunkt: Von der kleinen Band, die sich in der Live-Szene von Melbourne getroffen hat, sind Amyl and the Sniffers 2024 einige Lichtjahre entfernt. Und gleichzeitig nur wenige Zentimeter. Auf ihrem dritten Album “Cartoon Darkness” zelebrieren die Australier*innen den Widerspruch, den Zwiespalt, die Uneindeutigkeit. Und erschaffen dabei ganz nebenbei das Meisterwerk ihrer Diskographie – und das beste Punk-Album des Jahres.
Amy ist wütend
Wie es sich für eine Punk-Band gehört, sind Amyl and the Sniffers meist ziemlich angepisst. Auf andere Leute und das System sowieso. Beim Debüt “Amyl and the Sniffers” und erst recht beim Nachfolger “Comfort To Me” war all die Wut aber noch ziemlich smooth hinter dem hedonistischen Spaß-Punk versteckt. Das war schon immer auf die Fresse – vor allem live – aber eben im Fokus weniger ausformuliert. “Cartoon Darkness” geht das Thema jetzt anders an, kotzt einmal übers gesamte Weltgeschehen und gießt aus diesem Zorn heraus 70er-Punk-Hymnen ohne Achillesferse.
Sängerin Amy Taylor fasst zusammen, dass “Cartoon Darkness” von Klimakrise über KI bis zum Datenklau im Internet so ziemlich alle düsteren Themen der Gegenwart behandelt. Lyrisch wird das expliziter behandelt als zuvor, die zugehörigen Songs pendeln zwischen Fäuste-Recken-auf-Speed (“Doing In Me Head”), stilvollem Glam (“Bailing On Me”) und Akustik-Hymne (“Big Dreams”). Auch wenn die Platte in knapp 33 Minuten am Herzen vorbeirauscht: So wie hier war das Songwriting der Band noch nie on point. Jeder Refrain sitzt, jedes Wort knallt, jedes Riff ist schnodderig eingesetzt. Und vor allem: Alles macht richtig viel Spaß.
Amy ist glücklich
Denn die schicke Dichotomie des Albumtitels ist natürlich auch inhaltlich nicht fern. Klar ist gerade alles scheiße, feiern wollen wir trotzdem. Amy und ihre Sniffers dito – und so malt “Chewing Gum” die Welt zwar in düstersten Farben an die Wand, dann mit den Zeilen “I’m stuck on you just like a Chewing Gum” auch ein fettes, nicht formschönes Herz drüber. Woanders gibt es Empowerment für die eigenen Träume (im wirklich schönen “Big Dreams”) oder eine Abfuhr an Motz-Kommentare (“I was in London being the Queen and you were in my head saying ‘You should not be doing that'” in “U should not be doing that”). Überhaupt ist Amy Taylor selbst mehr im Fokus der Platte als zuvor: Mit “Tiny Bikini” gibt es sarkastisch-bissige Kommentare über Reaktionen auf Amys Kleidungsstil, “Me and the Girls” feiert weiblichen Zusammenhalt mit so großartigen Zeilen wie “Me and the Girls want free abortion, you and the boys can’t even get waxed”.
Im Kern ist es also das: Endlich nehmen Amyl and the Sniffers als die Kraft, die hinter diesem immer noch herrlich rohen Punk pulsiert – und klatschen mit dieser die Missstände dieser Welt an die Wand. Dass das ganz ohne stumpfe Parolen klappt, dass hier am Abgrund noch gefeiert wird, dass Lyrics und Sounds clever, aber nie neunmalklug sind, und dass diese Platte so viel zu sagen und zu fühlen hat, macht diese Platte so gigantisch. Und nebenbei ist dieses Album damit der beste Beweis, dass der Sprung von den 2.000er Kapazitäten in die 10.000er-Größe absolut verdient ist.
Und so hört sich das an:
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Amyl and the Sniffers live 2024
- 19.11. Carlswerk Victoria Köln (ausvkeruaft)
- 22.11. Grosse Freiheit Hamburg (ausverkauft)
- 23.11. Columbiahalle Berlin (ausverkauft)
- 25.11. TonHalle München (ausverkauft)
Rechte am Albumcover liegen bei Rough Trade.
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