Kaum ein Album wurde dieses Jahr so sehr erwartet, wie der Zweitling von Billie Eilish. Grund genug dem Ganzen aus zwei Perspektiven zu begegnen. Christopher und Jonas sind sich tatsächlich in einigen Punkten uneinig:
Christopher sagt:
Billie Eilish ist glücklicher als je zuvor! Zumindest behauptet sie das in ihrem Titel zu ihrem zweiten Album Happier Than Ever. Auf dem Foto hingegen laufen ihr dicke Tränen übers Gesicht, ihr Blick ist gen nirgendwo gerichtet und trägt unglaublich viel Enttäuschung inne. Ein Spiel mit Widersprüchen, innerer Zerrissenheit, Desillusion. Mit 19 wohlbemerkt. Musikalisch bewegt sich die neue Platte auf ähnlich schwermütigem Terrain ohne sicheren Boden.
Immer wieder wird deutlich, dass das Leben eines Megastars – und wir reden hier wirklich von Mega-Megastar – alles andere als rosarot und supi-geil ist. Gegenwärtige Aufruhen rund um Britney Spears führen jede*r den Spiegel vors Gesicht und erdrücken. Billie Eilish ist davon gar nicht so weit entfernt, geht jedoch mit den Kehrseiten des Ruhms offensichtlicher um. Ihr Aufstieg, der gefühlt nicht von 0 auf 100 sondern eher von 0 auf 10.000 passierte, bringt neben einem dicken Kontostand und einer Überflut an Auszeichnungen auch viel Neid, Hassbotschaften und Einsamkeit mit sich.
Ihre schon grundlegend leicht melancholisch-depressive Attitüde erlangte durch die EP “dont smile at me” erste Aufmerksamkeit und Anerkennung, durch den musikalisch progressiven Sound auf dem Debütalbum “When We All Fall Asleep, Where Do We Go” Hochachtung. Das traf den Nerv der Zeit und fühlte sich 2019 fast schon wie eine Vorsehung zum Jahr 2020 an. Die Welt ist am Arsch, Billie vertont es – und ironischerweise gehen alle drauf ab.
Doch wie zur Hölle setzt man ein dermaßen erfolgreiches Werk fort? Ok, zugegeben: Die Platte war wirklich gut und ein gutes Einfangen von anherrschenden Trends, aber ein wenig Luft nach oben gab es durchaus noch. Man hätte noch substanzieller werden können, um aus einem echt guten Album einen perfekten Nachfolger zu bilden, der auch in zehn Jahren noch die Welt zum Beben bringt. Hätte hätte.
Stattdessen scheint in Billie Eilish aber der große Drang zu stecken, Emotionen ungefiltert auf den Tisch zu kotzen. Mag man ihr nicht verübeln, immerhin braucht es gleich drei Bärenfelle, um nicht an dem Dauerschwall von Negativität von außen zu ersticken. Doch Happier Than Ever zeigt, dass Emotionen zwar durchaus ihre Daseinsberechtigung haben, aber man sie manchmal ein Stück weit mit sich alleine oder mit den Engsten ausmachen muss und nicht mit einem Millionenpublikum. Denn 56 Minuten Herzensschwere sind vor allen Dingen eins: Wenig unterhaltend.
Und hier liegt der rote Faden, der gleichzeitig das Grundproblem der zweiten Billie Eilish-LP darstellt. Billie Eilish ist nämlich jetzt nicht mehr freaky, nicht mehr bebend und erzitternd, nicht mehr druckvoll und energetisch – sondern schlichtweg unglaublich nachdenklich, bettflüsternd, rezitativ und auch ein wenig altklug. Mit Sicherheit mögen viele das als mutig, weiterentwickelnd, ehrlich, aufarbeitend, selfcaring und 2021 finden – wäre Happier Than Ever aber von einem anderen Artist, wäre es eine fast einstündige nette Hintergrundbeschallung, die in höchstens 20% der Länge doch flussabwärts strömt, statt nur aus dem Wasserhahn nachzutropfen.
Zweifelsohne: Billie Eilish kann. Auch ganz leise. Es muss nicht immer der Bass wummern und der Drumcomputer alles abfeuern. Die wunderschöne Kollaboration “lovely” mit Khalid hat es schon vorzüglich gezeigt, das sensationelle “everything i wanted” hat es gar auf die Spitze getrieben. Das ist berauschend und rührend und so gut. Leider fehlt es fast jedem ruhigen Vertreter auf Happier Than Ever an Substanz, an Atmosphäre und ganz besonders an Melodie.
Provokante Formulierung, aber wenn Billie unbedingt ihre ganzen Gedanken rauslassen und diese auf Platte pressen muss, warum macht sie kein Hörbuch? Oder einen Gedichtband? Die Liste an Titeln, die klingen, als ob das Girl aus Los Angeles einfach nur arg mitteilungsbedürftig ist, ist auf dem zweiten Album elendig lang. Im Zentrum steht der Monolog “Not My Responsibility”, der einen längeren Einblick in die Gefühlswelt der Protagonistin zulässt. Darum gebaut sind Songs, die von Beziehungen mit anziehendem bzw. ausziehendem Charakter handeln (“Oxytocin”, “OverHeated”), die sich mit dem Älterwerden befassen (“Getting Older”) oder gleich davon sprechen, dass alles irgendwann einmal vorbei ist, was Billie sowohl glücklich als auch traurig stimmt (“Everything Dies”). Das ist ohne Diskussion spannender als das ewige “Ich liebe dich so, ich kann nicht ohne dich”-Gedudel im Mainstream-Pop, aber bekanntlich ist Musik nicht nur Lyrics, sondern eben auch Gesang, Beats, Atmosphäre.
Und nimmt man mal die ehrlichen und auch weitaus reiferen Texte heraus, die man bei einer nicht mal wirklich Volljährigen erwartet, ist der Rest erschreckend öde. Billie erzählt auf einem Tonumfang, den man an einer Hand abzählen kann, und der selten Strophe von Refrain unterscheiden lässt. Es braucht wirklich unzählige Anläufe, bis Parts hängen bleiben. Der Gesang ist auf Power einer Maus heruntergeschraubt, sodass man den Eindruck hat, Billie läge mit ihrem Mund ganz nah am Ohr der Zuhörer*innen. Quasi neben eine*r in der Kiste. Klingt nach Intimität und Innovation, funktioniert jedoch nur kurzzeitig. Spätestens nach der Hälfte entsteht der Drang, sich zu strecken, aufzustehen und die Sonne reinzulassen.
Was ein Glück! Es ist keine 24-stündige Dunkelheit in dem “Glücklicher als je zuvor”-Land. Ausreißer fallen dermaßen dominant auf, dass sie erlösen und gleich zünden. Da ist das groovend-coole “NDA” mit seinen schweren Stampfern und Soundwaben, die klingen, als hätte man aus der Übernummer “bad guy” etwas den Drive genommen, aber immer noch genug Trip-Hop-Elemente in petto gehabt. “Oxytocin” ist elektronisch, ein Hauch Ambient und hypnotisch. Hätte auch auf dem Vorgänger hervorragend gefruchtet. “I Didn’t Change My Number” ist für die Black-Music-Fans ein Schmankerl. Dass die ganz ruhigen Nummern ebenso funktionieren können, beweist “Halley’s Comet”, bei dem Text und Melodie wohlig ineinander gehen. Doch die absolute Überraschung folgt bei dem Titeltrack “Happier Than Ever”, der in seiner knapp fünfminütigen Länge erst wieder Lullaby-like mit Ukulele dösig macht, um dann auf der Hälfte zum Rock (!) zu wechseln und im 80s-Hymnen-Style losscheppert. Wow. Das kam überraschend. Aber gut.
Und dann ist nach 16 Tracks der Augenblick, neue Musik von Billie Eilish zu entdecken wieder vorbei. Der Augenblick, auf den man lange gewartet hat und der einen doch sehr schläfrig und unbefriedigt zurücklässt. Was ist nach den ersten Durchgängen hängengeblieben? So.
Ja, Musik muss nicht immer nur knallen, aber zumindest im Großen und Ganzen unterhalten, fesseln, herausfordern, Gefühle verstärken. Doch irgendwie scheint Billie sich nur mit sich selbst zu beschäftigen. Geht das nicht auch in der Psychotherapie statt auf Albumlänge? Die Songs klingen zwar gar nicht so homogen, wie man vielleicht nun vermutet, aber dennoch einfach so extrem schleppend. Liebhaber*innen von “bad guy”, “you should see me in a crown”, “bury a friend” und Weiterem schauen dumm aus der Wäsche, die Lean-Back-Crowd könnte sich einen Joint anzünden und übers Leben philosophieren. Weltverändernd wird das Gespräch aber nicht.
Jonas sagt:
Der Vorhang fällt. Und unverhüllt steht das Innenleben der Billie Eilish da. Natürlich baute schon das Debütalbum „When We All Fall Asleep, Where Do We Go?“ auf persönliche Anekdoten, Happier Than Ever nun jedoch ist vielerorts noch einige Ebenen näher an der 19-Jährigen Ausnahmemusikerin.
Gleich 16 Songs haben Billie Eilish und ihr Bruder Finneas diesmal aus dem Homestudio in LA in die kunterbunte Digitalwelt entlassen. Nicht nur zwischen den Zeilen, sondern vielmals auch direkt in diesen, liegen ebenjene Songs nah am Privatleben der Kalifornierin. Der großartige Titeltrack – Eilish scheint im letzten Jahr viel Phoebe Bridgers gehört zu haben – sowie der zumindest im Ansatz optimistischere Closer „Male Fantasy“ etwa schließen mit der durchwachsenen Beziehung zu ihrem Ex-Partner ab, die nach Veröffentlichung der „The World’s A Little Blurry“-Dokumentation im Februar bereits mediales Interesse erregt hatte.
Viel Raum gibt Eilish auch den sonderbaren Lebensrealitäten als erfolgreichste Musikerin ihrer Generation. Nimmt „Billie Bossa Nova“ das noch mit Humor und bespricht das mit viel Geheimnistuerei verbundene Führen von Liebeleien als Weltstar, so lässt das einführende „Getting Older“ die vergangenen Jahre Revue passieren und behandelt währenddessen über reduzierten Instrumental-Skelett den Umgang mit zurückliegenden Traumata. Nackigmachen über nacktem Grundgerüst sozusagen. Ähnlich ernst geht es auch in der Albummitte zu: „OverHeated“ und das Spoken-Word-Statement „Not My Responsibility“ – aufmerksame Fans kennen das knackige Stück bereits von vergangenen Tourneen und als kurzen Clip auf Youtube – halten der sexuellen Objektifizierung und Dauer-Bewertung unserer Gesellschaft ungeschönt den Spiegel vor. Es sind gerade solche Thematiken, die Eilish zu einer essentiellen Schlüsselfigur innerhalb der Gen-Z emporheben: Als Teil einer politisierten, für mehr (Gender-)Gerechtigkeit und Mental Awareness ankämpfenden Bewegung, die mit bestehenden Weltbildern bricht. Das Electronica-lastige „Oxytocin“ treibt diese Ablehnung konservativer Ideen noch einen Schritt weiter und beschreibt ein verruchtes Verführspiel, das „Gott nicht bewilligen würde“ und charakterisiert diesen Gott darüber hinaus noch als eine Sie, die sich dem schlüpfrigen Schauspiel selbst nicht enziehen kann – nimm das bärtiger, alter weißer Mann!
Rein musikalisch fällt Happier Than Ever ungeahnt besinnlich aus und stellt dem eleganten Cover entsprechend mit Klasse arrangierte R‘n‘B- und Soul-Versatzstücke in sein Zentrum („I Didn‘t Change My Number“, „Lost Cause“, „My Future“). Die antreibenderen Momente hingegen streuen sich spärlicher zwischen die ruhigeren und reißen weniger extreme Krater auf als das Debüt. Das bereits erwähnte „Oxytocin“ etwa setzt auf knallige Drum-Computer-Loops, „NDA“ beschreitet wuchtige Synthesizer-Landschaften und geleitet clever in „Therefore I Am“, den eindeutigsten Hit des Albums.
Und doch: In seiner 56-minütigen Gänze ermüdet Happier Than Ever. Schuldig sprechen muss man dafür einige allzu in Linie gruppierte Songs in der Albummitte, die dem eh unkonventionell ruhigen Album an Tempo und Druck nehmen. Ein, zwei, drei Stücke weniger hätten dem Gesamtwerk daher durchaus gut getan – und das Spotlight mehr auf die wenigen Energie-Treiber gelegt. Trotz alldem ist der zweite Langspieler der 19-Jährigen ein inhaltlich offener und musikalisch mutiger Nachfolger des erfolgreichen Über-Debüts. Billie Eilish bleibt auch damit ein nicht wegzudenkender Bestandteil von Pop-Kultur Anno 2021.
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