Was machst du als Band, wenn pünktlich zu der Veröffentlichung deiner neuen Platte eine Pandemie ausbricht? Wenn Promo-Reisen, Konzerte, schon der einfache Besuch eines Plattenladens – all das essentielle Teil-Elemente einer jeden klassischen Release-Kampagne – zumindest vorläufig Geschichte sind. Die amerikanische Hardcore-Band Code Orange sah sich exakt dem ausgesetzt, als Mitte März – genau in der Hochphase der Corona-Unsicherheit – das ambitionierte „Underneath“ erschien. Sowas reißt selbst die routinierteste Band aus der Fassung. Die Phase der Entrüstung war für die fünf Amerikaner*innen lediglich von kurzer Dauer: Schon einen Tag nach Albumrelease funktionierten Band und Mittstreiter das Pittsburgher Roxian Theatre, das eigentlich als Location für ein fulminantes Release-Konzert geplant war, in ein Streaming-Studio um, aus dem die Band statt vor hunderten schwitzenden Menschen vor einer riesigen Internetgemeinschaft spielte. Die Aufzeichnung dieses Spektakels schauten mittlerweile knapp eine Viertelmillion Menschen. Alleine auf Youtube.
Ähnlich agil gingen Code Orange auch mit den weiteren Entwicklungen um: Der Stream – betitelt wurde er nach dem Stück „Last Ones Left“ – wurde samt Merch-Paketen und DVD-Release als Ausgleich der weggefallenen Tourneen maximal vermarktet. Das Spektakel legte zudem einen wichtigen Grundstein. Es folgten weitere Streaming-Events: Zunächst unter dem Banner „You And You Alone“ als mal improvisierte Remix-Performances, mal verschachtelte Play-Through-Streams. Und zuletzt unter „Under The Skin“, als eng geschnürtes Live-Set neu arrangierter Songs, das nun überraschend als Album bereitgestellt wird. Einigen Wochen später folgt dann die Veröffentlichung als auf 200 Stück limitierte DVD.
Under The Skin
Wo andere Künstler*innen sich hinter den Kulissen dem Schreibprozess neuer Musik widmeten, bestimmte im letzten halben Jahr regelmäßiges Streamen die Lebensrealität der fünf Musiker*innen. Auf „Under The Skin“, dem Produkt eines dieser Events, macht sich das nur für eine knappe Minute merkbar. Nahezu in der Mitte der zehn Songs und vier Interludes umfassenden Performance unterbricht die Ansage „(q u a r a n t i n e)“ nur kurz die dichte Splatter-Atmosphäre der eng durchtakteten Show. Die dreiviertelstündige Aufnahme nimmt man ihres Album-Charakters wegen als Zuhörer*in ansonsten kaum als „live“ wahr.
Dass „Under The Skin“ sprichwörtlich unter die Haut geht, hat neben den Glitch-Effekten, die bereits „Underneath“ durchzogen, sowie den vielen bedrückenden Spracheinspielern auch mit den Neuarrangements der jeweiligen Stücke zu tun. Die verpackt das Quintett in oft ruhige, dafür nicht weniger intensive Ummantelungen. „u g l y“ beispielsweise entpuppt sich hier als kraftvolle Power-Ballade, „w h o i a m“ stapelt Schicht für Schicht über elektronischem Düster-Beat und „a u t u m n + c a r b i n e“ groovt auch trotz seiner vielen Akustik-Gitarren ungemein. Jami Morgan, neuerdings in der Rolle des Frontsängers, verleiht diesen mit neuem Leben versehenen Versionen mit gelegentlichen Rap-Overdubbs zusätzlich einen leichten Nu-Metal-Einschlag.
Die zweite Hälfte der Performance bietet neben einem Cover des Alice In Chains-Hits „Down In A Hole“, das sich zwischen die vielen Songs der zwei aktuellen Code Orange-Alben schleicht, mehr Ekstase. „d r e a m s 1 + 2“, das die Stücke „Dreams in Inertia“ und „dream2“ zusammenführt, hat da gar Platz für einen intensiven Beatdown-Moment, zu dem sich im Verlauf breite Synthie-Streicher gesellen. Intensiv ist auch der Ausbruch von „u n d e r t h e s k i n“. „h u r t 3“ lässt anschließend neben den hymnischen Clean-Gesängen auch Shades verzweifeltes Gebrüll zu. Währenddessen verliert das Schlagzeug sich zunehmend in vertrackten Grooves.
„When plans go wrong, you do what you gotta do.“
„Under The Skin“ ist in seiner einnehmenden Gänze das beste Beispiel dafür, dass besondere Umstände besondere Kunst hervorbringen können – selbst, wenn der Druck unter diesen groß sein sollte. Dass die zehn Stücke alle auch in ruhigeren Umgebungen bestehen, ist ein erfolgreicher Härtetest für das Songwriting, das Code Orange in den letzten Jahren auffahren. Neben den dichten Soundcollagen und der eng mit diesen verwobenen, durchgängig okkultigen Atmosphäre zeichnet gerade das „Under The Skin“ aus. Und manifestiert mal wieder, dass Code Orange so viel mehr sind als „nur eine von vielen“ Hardcore-Bands.
Unsere Review zu “Underneath” gibt es hier.
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Die Rechte für das Albumcover liegen bei Roadrunner Records.
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