Wenn selbst hartgesottene Musicalfans verdutzt auf den Spielplan schauen, dann kann man zweifelsfrei von einer kreativen Auswahl sprechen: Das Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen wagt gern den Blick über den Tellerrand und sorgt regelmäßig für Überraschungen. Doch 2025/26 ist man dermaßen unkonventionell, dass man mit Das Licht auf der Piazza ein Musical auswählt, das nicht mal einen eigenen deutschsprachigen Wikipedia-Eintrag hat – und das will wirklich etwas heißen. Unbekannt heißt aber keinesfalls schlecht! Am Ende verlässt man nämlich den Saal ganz eindeutig in anderer Stimmung, als man ihn betreten hat.
Kurz ein wenig Kontext: Das Licht auf der Piazza beruht auf der gleichnamigen Novelle von Elizabeth Spencer sowie auf dem gleichnamigen Film von Guy Green aus den frühen 60s, die beide ganz eindeutig in Vergessenheit geraten sind. Umso verblüffender, dass es überhaupt zu einer Musicaladaption kam. 2003 testet man das Stück mit der Musik von Adam Guettel und dem Buch von Craig Lucas in Seattle, zwei Jahre später wagt man den Schritt an den Broadway – und siegt. Mit seiner enormen Eigenwilligkeit überzeugt das Musical Kritik und Publikum und gewinnt gleich sechs Tony Awards. In den USA ist es ein Fanfavorit, hier läuft es jedoch eindeutig unter dem Siegel „Insider-Tipp“. Die deutschsprachige Erstaufführung fand in Radebeul in Sachsen statt – nicht sonderlich als Musicalmetropole bekannt, oder? Der deutsche Geschmack ist eben dem amerikanischen nicht immer ganz so ähnlich. Außerdem sind zu mutige, unbekannte Werke vielen Häusern doch zu heikel. Somit gebührt dem MiR wirklich alle Ehre. In Kooperation mit der Oper Wuppertal legt man äußerst viel Herzblut und Mühe in eine Produktion, die sicherlich nicht jede*n begeistern wird, aber über die trotzdem viele sprechen werden – einfach, weil es so außergewöhnlich ist.
Das Licht auf der Piazza spielt in Florenz. Hier befindet sich Margaret Johnson mit ihrer Tochter Clara auf einer Reise. Margaret möchte klassischen Kultururlaub machen, Clara scheint sich aber doch etwas schneller zu langweilen. Schon nach wenigen Stunden Aufenthalt trifft Clara auf den Italiener Fabrizio. Beide spüren sofort, dass diese Begegnung etwas ganz besonderes ist und verlieben sich mit Haut und Haar. Sowohl Margaret als auch Fabriozios Familie hadern noch ein wenig mit dem Glück der Beiden. Und irgendwie scheinen hier unter der vermeintlich schicken Oberfläche einige Geheimnisse versteckt zu sein…
Gleich vorweg: Das Licht auf der Piazza funktioniert dann am besten, wenn man vor dem Theaterbesuch gar nicht so viel weiß. Das gilt sowohl für das interessante Libretto, das gleich mehrfach Haken schlägt und zeigt, dass man sich vom Glanz nie blenden lassen darf. Ebenso gilt es aber auch für die Musik und die Inszenierung, die im Zusammenspiel richtig gut funktionieren. Zwar werden besonders mainstreamige Musical-Addicts, die leicht konsumierbare Pop-Melodien mit viel Tusch gewohnt sind, ziemlich vor den Kopf gestoßen – dafür werden aber die, die vor erfrischend anderen Musiken nicht sofort zurückschrecken, definitiv belohnt.
Schon zur Uraufführung am Broadway wird stets die Musik gelobt. Absolut zurecht. Schon die ersten, wahnsinnig feinfühligen Takte der Streicher zaubern eine wohltuende Gänsehaut. Die Neue Philharmonie Westfalen darf in dem 125 Minuten langen Musical mit einem 70-minütigen ersten und 55-minütigen zweiten Akt durchgängig begeistern. Durchgehend fühlt man sich wie in einem berauschenden Sinfoniekonzert und viel weniger wie in einem Broadway-Hit. Das wird nochmal um einiges durch den klassischen Gesang verstärkt, der dem Stück eher opernartige Züge verpasst. Noch viel aufregender sind aber die nicht immer gefallen wollenden Kompositionen, in denen man mit vielen untypischen Harmonien und Auflösungen überrascht wird und sogar einige atonale Parts annehmen und im Kopf verarbeiten muss.
Doch bevor man hier rekapituliert und angsterfüllt sein Ticket auf Kleinanzeigen verscherbelt: Einfach ausprobieren! Das Licht auf der Piazza ist immer noch so angenehm gestaltet, dass nicht nur Wagner– oder Free-Jazz-Liehaber*innen damit coppen können, sondern die wirklich wahnsinnig gute Cast einem den Weg sicher asphaltiert. Anke Sieloff war zuletzt die Hauptrolle in „Hello, Dolly!“ am Haus und bringt mit ihrer langjährigen Bühnenerfahrung äußerst viel Grazie und Stil mit. Mehrfach bricht sie mit der vierten Wand und spricht direkt ins Publikum, zieht aber vor allen Dingen in ihrem fragilen Solo „Wann war die Liebe tot?“ die gesamte Aufmerksamkeit des Saals. Das erinnert fast schon ein wenig an Mrs. Danvers in „Rebecca“.
Katherine Allen hat es als Clara Johnson alles andere als leicht. Sie spielt eine… nein, das verraten wir an der Stelle jetzt nicht, gehört es eben zu den besonderen Clous des Stückes. Jedoch muss sie schauspielerisch wie gesanglich sehr viel geben. Ihr Koloratur-Gesang ist technisch einwandfrei, sodass sie sich neben Anke Sieloff zu keiner Sekunde verstecken braucht. Ergänzt wird das hervorragende Trio durch Luc Steegers als Fabrizio, der uns schon in „Tick, Tick… Boom!“ komplett in seinen Bann zog. Der Niederländer muss nicht nur einen italienischen Akzent im Deutschen spielen, sondern zusätzlich auch auf Deutsch wie Italienisch dramatisches Südländer-Flair versprühen, und er macht es vor allen in „Il Mondo Era Vuoto“ fantastisch.
Ein kleiner Irritationsmoment geschieht im Übrigen schon vor dem Aufzug des Vorhangs: Das Publikum wird im MiR auf Italienisch begrüßt. Ja, kein Witz. Geht schnell ein Raunen durch die Reihen, weil man doch hoffentlich nicht überlesen hat, dass das Stück auf Italienisch ist, kommt kurz darauf Entwarnung. Nein, ist es nicht. Aber teilweise. Sämtliche Lieder, egal auf welcher Sprache, werden übertitelt. Die Dialoge jedoch nicht, auch nicht, wenn Fabrizio mit seiner Familie auf seiner Muttersprache Italienisch spricht. Das jedoch ist ein gar nicht so dummer Einfall. Viele Szenen werden durch Gestik und Emotion auch so verständnisvoll vermittelt – und gleichzeitig befindet man sich in der Rolle von Margaret und Clara, die auch beide mit der Sprache hadern.
Neben einer brillanten Cast, einem viel verzwickteren Plot, als man zunächst annimmt und der auch schwierige Familienthemen anpackt, plus aufregenden Kompositionen im Klassik-Gewand überzeugt die Gelsenkirchener Aufführung on top mit ihrem aufwändigen und schicken Bühnenbild. Mehrere übergroße Gemälde mit goldenen Rahmen werden auf die Bühne gefahren und zaubern romantische Museums-Atmo. Sowieso fühlt man durch das tolle Licht die Wärme der toskanischen Metropole. Das Licht auf der Piazza ist dramatisch, trotzdem unaufgeregt. Vieles passiert subtil, die Katharsis erreicht mehr unterschwellig ihren Höhepunkt, ohne mit der Breitseite kommen zu müssen. Etwas schade ist, dass ein Großteil der Qualität im ersten Akt steckt. Der zweite ist ein wenig überraschungsarm und kann nicht ganz dem Aufbau vor der Pause standhalten.
Starke Auswahl im Ruhrgebiet. Mit Das Licht auf der Piazza durfte man wahrhaftig nicht rechnen. Ein Musical, das eindeutig eher Hochkultur ist als kleiner luftiger Entertainment-Snack. Doch genau das macht es aus. Dank einer erstklassigen Besetzung und traumschönen Bildern überzeugt das Musiktheater im Revier und kann mit Sicherheit mit vielen Ticketverkäufen rechnen, sobald die ersten „Was ist das denn? Kenn ich nicht!“-Skeptiker*innen viele positive Worte lesen dürfen.
Weitere Termine:
07.11. 19:30 Uhr
15.11. 19:00 Uhr
16.11. 16:00 Uhr
23.11. 18:00 Uhr
07.12. 18:00 Uhr
19.12. 19:30 Uhr
27.12. 19:00 Uhr
04.01. 18:00 Uhr
17.01. 19:00 Uhr
12.02. 19:30 Uhr
14.02. 19:00 Uhr
15.02. 16:00 Uhr
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Foto von Christopher Filipecki
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