Wir brauchen Rolemodels! Dringend. Immer. Nicht nur im privaten Umfeld, sondern auch im Job, im TV, in der Modebranche und Musik. Wir müssen Menschen sehen, die nicht dem vermeintlichen Schönheitsideal – wie auch immer das genau definiert sein mag – entsprechen, die Grenzen austesten, sich abseits von gesellschaftlichen Normen bewegen und dennoch Erfolg haben. Deren Talent im Vordergrund steht, die sich nicht immer zweimal mehr anstrengen müssen, um gesehen zu werden. Gossip waren da im vorletzten Jahrzehnt zweifellos eines der ganz markanten Beispiele und haben von ihrem Standing gar nicht so viel verloren.
Beth Ditto und ihre zwei Bandkolleg*innen gründen Gossip 1999 in Arkansas im Süden der USA. Da ist die Frontfrau 18 Jahre jung. Bis Mitte der 2000er wird man für unterschiedliche Supportshows gebucht und macht sich schnell als talentierte Punkband einen Namen. Das dritte Album, “Standing in the Way of Control”, schafft 2006 erstmalig den Sprung in die Charts, nämlich in UK. Der gleichnamige Titeltrack geht bis in die Top 10. Doch bis zu dem richtig großen internationalen Knall dauert es noch einmal drei Jahre. Auch wenn bis heute das Trio in seiner Heimat wenige Leute interessiert, macht das Album “Music for Men” in Europa seine Runden und verkauft sich eine Million Mal. Am beliebtesten ist es in Deutschland, wo es Doppelplatin kassiert. An der Single “Heavy Cross” führt wirklich gar kein Weg vorbei. Stattdessen kursiert der Ultra-Hit 97 Wochen in den deutschen Singlecharts, davon 82 am Stück – Rekord bis dato.
Doch der Hype ist eher kurz. Dem Album fehlt es an weiteren, ähnlichen Hits, die Radios, Clubs und Privatpartys gleichermaßen dominieren. “Love Long Distance” ist solide erfolgreich. Drei Jahre gehen ins Land, bis mit “A Joyful Noise” der langerwartete Nachfolger erscheint. Zwischenzeitlich wagt Ditto einen zwar ziemlich coolen, aber wenig relevanten Soloausritt in Vocal-House-Gefilde mit Voguing-Effekt. Das vorerst letzte Album mit der Band besitzt sowohl mit “Perfect World” als auch “Move In The Right Direction” zwei kleinere Hits, die jedoch trotzdem hinter den Erwartungen zurückbleiben.
Es scheint eindeutig so, als wäre “Heavy Cross” einfach ein Glückstreffer. Ein Zufallserfolg. Ein Song, der eben irgendwie zur richtigen Zeit am richtigen Ort war, einen Trend auslöste, ganz viel Aufmerksamkeit auf die optisch und gesanglich sehr auffällige Künstlerin warf, aber gar nicht so stark darauf konzipiert war, ein Megaseller zu werden. Und das ist schlussendlich doch auch ok. Jede*r kennt nun mindestens diesen einen Track der Band, alles weitere ist viel weniger massenkompatibel als Plattenfirma oder auch Mainstreampublikum möchte, aber damit müssen wir alle klarkommen.
Seit einem Wechsel am Schlagzeug 2003 ist die Bandbesetzung konstant. 2016 entscheidet man sich dennoch, vorerst getrennte Wege zu gehen. Als Ditto an ihrem zweiten Soloalbum werkelt und der 15. Geburtstag von “Music for Men” ansteht, kündigt man plötzlich ein Comeback an. Wahrscheinlich ist etwas sehr viel Zeit seitdem vergangen und die Fangemeinde doch wieder ein wenig dorthin zurück, bevor man “Heavy Cross” rund 100 Mal unfreiwillig zu oft gehört hat, denn das Medienecho zur ersten Gossip-LP seit zwölf Jahren ist etwas verhalten. Beide Vorabtracks charten nicht, die Streamingzahlen sind enttäuschend. Aber Real Power ist nun da und pfeift ein wenig auf Druck von außen.
Nein, es gibt kein neues “Heavy Cross”. Eigentlich gibt es generell keinen Song mit Singlepotenzial. Wer also genau danach sucht, kann sich die 41 Minuten Spielzeit und das Anhören der elf Titel komplett sparen. Real Power ist stattdessen mehr ein Statement. Nämlich dahingehend, dass eine queere Band mit Edge zwar nicht mehr solche Begeisterungsstürme auslöst wie damals, aber weiterhin doch nischig und die Ausnahme im Business bleibt. Das sehr gelungene Artwork präsentiert die Message schon ganz ordentlich.
Die LP ist ein schönes, ganz gutes Album für diejenigen, die das Gossip-Feeling auf Albumlänge sehr mögen und sich damit zufrieden geben, wenn eben genau diese Atmo wieder da ist. Das ist sehr funkig, ein wenig Glam-Rock, auch mal poppig, aber selten eingängig. Wer somit prägnante Stücke sucht, um sie in die Playlist zu packen, die dann im gerade gestarteten Frühling upliften soll, steht eher wie nicht abgeholt in der Gegend herum. Beth Ditto, Brace Paine und Hannah Blilie machen zum wiederholten Male mit Mastermind Rick Rubin, der auch damals für “Music for Men” zuständig war, gemeinsame Sache und stehen mehr für Haltung und zwischenmenschliche Interaktion als für Catchyness.
Vereinzelt hat Real Power auf jeden Fall das, was im Namen steht: Etwas empowerndes. Besonders im Titeltrack mit der Hook “Give me real power, give me something real”, in dem Ditto wieder im unverkennbaren kehligen, gefühlvollen Rockbelt die Kehle zum Glühen bringt, macht das gerade mit dem treibenden 80s-Beat Spaß. Die nachdenkliche Americana-Halbballade “Tough” mit Westerngitarre ist minimalistisch und dadurch besonders lautstark. Das sind Momente, in denen alles passt und es sich äußerst gut anfühlt, dass Gossip wieder am Start sind. Wer “Love Long Distance” liebte, hat mit “Give It Up For Love” gute Karten. In der Produktion macht “Don’t Be Afraid” eine hervorragende Figur, sind die einzelnen Schichten der Synthesizer einfach so toll gemischt, dass alle paar Sekunden das Ohr, das gerade am meisten stimuliert wird, wechselt.
Im Kontrast dazu steht dann aber doch die fehlende Abwechslung. Selbst wenn die einzelnen Songs nicht wie Schablonen exakt übereinander passen, ist doch der Anteil der hervorstechenden Parts ein wenig zu überschaubar. “Edge of the Sun” mag bis nach dem ersten Refrain schöne Summer Vibes versprühen und ist dann zum Ende wie eine geleakte Version, wie man sie von damaligen illegalen Download-Programmen kannte, in denen sich gern mal drei Minuten lang dieselbe Stelle wiederholte. Auch bei dem plätschernden “Light It Up” wartet man darauf, dass jemand die Zündung mit einem Feuerzeug aktiviert. Aufbau, Aufbau, Spannung, Spannung – Ende. Die 90er-Boyband ähnliche Ballade “Peace and Quiet” hätte großes Kino werden können, aber auch ihr fehlt der Höhepunkt, die starke Melodielinie. Da machen Produktion und Instrumentals eben nicht genug aus.
Real Power ist ein angenehmer Teaser für die im Sommer stattfindenden Konzerte des coolen, eigenwilligen Trios Gossip. Einfach eine Band, die man mag, weil sie hervorstechen. Wären jetzt noch drei, vier richtige Banger dabei, wär das eine sehr runde Sache. So ist es zwar weit weg von Ausfall, aber richtig nachhaltig ist’s zumindest beim reinen Hörerlebnis leider auch nicht.
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